liebevolle Zuwendung und Versorgung andererseits und ein langsames Hineinführen an unsere kindspezifischen Aufgaben nach Gesundung erfahren, prägt wesentlich, wie wir im Erwachsenenalter mit Krankheit (und auch sonstigen Krisen) umgehen. Die Erinnerungen an die Krankheiten unserer Kindheit sind dabei oft sehr detailliert und vor allem sehr emotionsbesetzt: Vermutlich werden Sie sich an die Krankheiten ihrer Kindheit, insbesondere an Krankenhausaufenthalte erinnern. Dagegen sind andere, durchaus auch bedeutende Ereignisse ihrer Kindheit demgegenüber eher verblasst.
Wie Kinder Krankheit erleben
Das kindliche Erleben von Krankheit ist ein anderes als das im Erwachsenenalter. Das hängt vor allem mit der allgemeinen kognitiven und emotionalen Entwicklung im Kindesalter zusammen.
kognitives Krank-heitsverständnis
Hinsichtlich der kognitiven Entwicklung kann man nach Piaget ein präoperationales Entwicklungsstadium von einem konkret operationalem sowie einem formal-operationalen Stadium unterscheiden:
■Im präoperationalen Stadium des Drei- bis Sechsjährigen konzentrieren sich Kinder auf das unmittelbar wahrnehm- und beobachtbare, hinsichtlich der Krankheit also auf sichtbare oder fühlbare Symptome. Kinder dieses Alters haben kaum Verständnis für Zusammenhänge zwischen Ereignissen, also ein funktionsfähiges Verständnis für Ursache und Wirkung. Dies führt zu einer wenig realistischen Vorstellung über Krankheitsursachen und Verläufe. So kann beispielsweise ein Diabetes mellitus „als Strafe für Naschen“ interpretiert werden, ein Bruch als Konsequenz eines „zappeligen Verhaltens“, auch wenn dies jeglicher Realität entbehrt.
Auch haben Kinder Schwierigkeiten, mehrere Zustände gleichzeitig zu betrachten, so dass sie wenig Verständnis für Prozesshaftigkeit von Erkrankungen aufbringen. Ihr Egozentrismus im Denken (ihr eigener Blickwinkel steht im Mittelpunkt und sie können sich schlecht in die Perspektive anderer hineindenken) macht es ihnen schwer, in der möglicherweise schmerzhaften Intervention eines Arztes (dem „Pieks“) die helfende Absicht zu sehen: Sie interpretieren das für sie schmerzhafte Erlebnis aus ihrem kindlichen Empfinden heraus.
■Im Alter von sieben bis elf Jahren, dem konkret operationalen Entwicklungsstadium, liegt demgegenüber ein vermehrtes Verständnis für einfache Zusammenhänge zwischen Sachverhalten vor, so dass hier Krankheitsursache und -wirkung auf einer sehr konkreten Ebene verstanden werden: So mag ein Neunjähriger verstanden haben, dass Bakterien mit Antibiotika bekämpft werden können – und solange dies sehr drastisch und plastisch geschieht, weiß er das auch einzuordnen.
Zunehmendes Verständnis für Prozesshaftigkeit von Erkrankungen lassen Kinder dieses Alters auch schon unangenehme therapeutische Verfahren in Kauf nehmen, um einen späteren Heilungserfolg zu erreichen. Allerdings müssen diese Maßnahmen noch konkret sichtbare Verbindungen miteinander aufweisen, sollen sie von Kindern verstanden und emotional akzeptiert werden. So verstehen sie insbesondere konkrete Sachverhalte, die ebenso konkret beschrieben werden, also konkrete Symptome, konkrete Therapien etc., während die Abstraktionsfähigkeit noch wenig ausgeprägt ist.
■Erst jenseits des zwölften Lebensjahres, im formal-operationalen Entwicklungsstadium des Jugendalters, haben sie Verständnis auch für komplexe Funktionszusammenhänge. Sie erlangen die Fähigkeit, abstrahierte Modelle (auch Krankheitsmodelle) zu verstehen und zu übertragen, sowie die Fähigkeit, Sachverhalte aus verschiedensten Perspektiven zu betrachten: So ist eine Jugendliche mit Anorexia nervosa möglicherweise in der Lage, ihre Krankheit nicht nur individualbezogen, sondern auch aus gesellschaftlicher oder feministischer Perspektive zu interpretieren.
Todesvorstellungen
Auch die Vorstellung von der Endlichkeit des eigenen Lebens unterliegt Entwicklungsschritten: Erst ab dem neunten Lebensjahr entwickeln Kinder eine ungefähre Vorstellung von der Endgültigkeit des Todes. Zuvor können sie bei Geburtstagen auf einen Angehörigen warten, auf dessen Beerdigung sie gewesen sind, oder sie verbinden mit dem Begriff des Todes eine Assoziation, die dem des Schlafs ähnlich ist. Aber erst jenseits des zwölften Lebensjahres begreifen Kinder, dass der biologische Tod etwas Unwiderrufliches, Unumkehrbares und Endgültiges ist und dass (glaubensabhängige) Jenseitsmodelle sich zwar mythologisch aus Erlebtem speisen, letztlich aber nicht vorstellbar sind.
Objekt und Raum
Entwicklungsbedingt ist auch der Objektbegriff: Bis etwa zum Ende des zweiten Lebensjahres kann sich ein Kind nicht vorstellen, dass seine Eltern auch außerhalb seines Sehfeldes existieren. So ist beispielsweise für ein Kleinkind, dessen Eltern jenseits der Besuchszeit das Krankenhaus verlassen, nicht deutlich, dass die Eltern weiterhin existieren und verlässliche Bezugspersonen sind. Eng mit dem Objektbegriff ist auch das Raumdenken verbunden. Erst sehr langsam dehnt sich das Begreifen von Raum von dem unmittelbaren Nahbereich des Zimmers, der Wohnung auf das Zuhause und das nähere Umfeld aus: Je kleiner das Kind, desto schwerer die Gewöhnung an neue Räumlichkeiten, was insbesondere bei längeren Krankenhausaufenthalten zu beachten ist.
Kausalität und Zeit
Das kausale Denken entwickelt sich mit zweieinhalb bis drei Jahren. Jetzt fangen Kinder an, nach dem Warum zu fragen, und können in Ansätzen begreifen, dass z. B. Eltern nicht immer im Krankenhaus sein können. Deren Abwesenheit wird jetzt zunehmend nicht mehr als Bestrafung des Kindes, sondern als Sachzwang anderer Genese verstanden. Doch wird dieses noch keineswegs immer tragfähig akzeptiert.
Dasselbe gilt auch für den Zeitbegriff: Die menschliche Fähigkeit, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu leben, entwickelt sich relativ spät. Erst am Ende des dritten Lebensjahres taucht die Frage des „Wann“ auf. Das Zeitgefühl orientiert sich zunächst am Tagesrhythmus, größere Zeitabstände (z. B. das Wiedergesundwerden nach absehbarer Zeit) können frühestens ab dem vierten Lebensjahr ansatzweise begriffen werden. Regelmäßige Rhythmen und eine verlässliche Tagesstruktur sind also bei gesunden, erst recht bei kranken Kindern sehr wichtig. Größere Zeitabläufe wie Wochenperioden oder monatliche bzw. jahreszeitliche Rhythmen werden erst jenseits des vierten Lebensjahres als solche erkannt: Brauchtumsriten, Adventskalender etc. können hier wichtige Hilfen zur Etablierung des Zeitbegriffes darstellen.
Hinsichtlich des kranken Kindes im Krankenhaus heißt dies, dass Kinder schon bei geringfügigen Verspätungen oder Veränderungen des Tagesrhythmus panisch reagieren können: Hat sich ein Kind erst einmal daran gewöhnt, dass der Vater grundsätzlich um 15.00 Uhr – nämlich immer dann, wenn nachmittags der Kuchen verteilt wurde – zu Besuch kommt, kann es kaum verstehen, geschweige denn akzeptieren, dass der Vater sich wegen eines Verkehrsstaus um 20 Minuten verspätet.
emotionalesKrankheitserleben
Kinder können sich Krankheiten nicht logisch erklären. Daher neigen sie dazu, Krankheiten einer äußeren Urheberschaft zuzuschreiben. Sie empfinden sich bei Schmerzen schlecht behandelt, bedroht oder bestraft. Je nach der Vorstellung, mit der Schmerzen assoziiert wurden, kann das Kind auch mit Ärger, Wut, Unterwerfung und Schuldgefühlen reagieren. Manche Kinder kapseln sich ab und ziehen sich zurück, andere erwarten in besonderer Weise Aufmerksamkeit und Liebe von den Bezugspersonen. Schuldgefühle (objektiv völlig fehl am Platze, subjektiv jedoch sehr häufig) resultieren teilweise aus frühkindlichen Vorstellungen von „Bestrafung“ durch Krankheit – ein Phänomen, dass wir gelegentlich selbst bei Erwachsenen vorfinden, wenn sie in kindliche Krankheitsbewältigungsschemata regredieren. Elterliche unbedachte Äußerungen können ein ihres tun, solche Fehlentwicklungen zu fördern. Stattdessen ist es wichtig, in kindgemäßer Art und Weise andere Erklärungsmus-ter für die Krankheitsentstehung anzubieten.
Bewegungs-einschränkung
Letztlich bietet Krankheit eine Belastung durch die Einschränkung des natürlichen Bedürfnisses eines Kindes nach ständiger Bewegung. Folglich werden Kinder im Krankheitsfall oft ungeduldig, zappelig oder quengelig. Mitunter können sie auch aufgrund ihrer Bewegungsarmut aggressiv werden. Vor allem die Abhängigkeit von pflegenden Personen (auch den Eltern) kann von den Kindern als narzisstische Kränkung erlebt werden.
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