primäre Krankheitsgewinn der Konfliktentlastung kann so groß sein, dass die Patienten aus gutem, nämlich subjektivem (und unbewusstem), Grund eine Konfliktanalyse abwehren. Darauf müssen anamnestisches Gespräch und Diagnostik Rücksicht nehmen.
Erfahrene psychosomatisch orientierte Ärzte werden also zunächst nach den Beschwerden und Gründen des Kommens fragen und der geschilderten Symptomatik breiten Raum lassen. Neben einer körperlichen Untersuchung, mit der der Patient mit seinen körperlichen Beschwerden ernst genommen wird, wird auch nach dem genauen Zeitpunkt des Beschwerdebeginns gefragt werden. Erst in einem dritten Schritt kann man sich die Lebenssituation bei Beschwerdebeginn vergegenwärtigen. Dabei können Veränderungen, Schicksalseinbrüche oder Situationen bei Krankheitsrückfällen zur Sprache kommen. Nun wird der Patient schrittweise in der Lage sein, auch lebensgeschichtliche Verbindungen zu knüpfen: Wann war ich in ähnlicher Weise krank, wie verlief die Gesundung und welche sozialen Faktoren waren daran beteiligt? Erst in einem weiteren Schritt schließlich kann sich der Patient darüber im Klaren werden, welche Rolle seine Krankheit, sein Krankheitserleben, Lebensereignisse und seine bisherige Biografie spielen, und diese Gesichtspunkte in das Bild seiner Persönlichkeit integrieren. Nun gewinnt die Frage nach dem „Grund der Krankheit“ eine neue Dimension.
Die engen Zusammenhänge zwischen Gesundheit, Krankheit und psychosozialer Belastung werden aber nicht nur, wie bisher gezeigt, auf psychologischer Ebene, sondern sozusagen ganz basal auf der körperlichen Ebene deutlich. Bereits in Kap. 2.1 wurde auf die engen Zusammenhänge zwischen Psyche, zentralem Nervensystem, Endokrinium und Immunsystem eingegangen. Diese Zusammenhänge sollen am Beispiel der Stressentstehung und -bewältigung noch etwas vertieft werden.
StressEustress
Physikalische, chemische, biologische oder psychosoziale Faktoren (Stressoren) können ein Individuum belasten und eine Stressreaktion auslösen. Der Stressor wird von unserem Sensorium o. a. Außenposten des Körpers (z. B. der Haut) aufgenommen und vom zentralen Nervensystem als Stressor erkannt. Dies führt zu einer Reaktion des Limbischen Systems, wodurch das Gefühl der Bedrohung, bei Hilflosigkeit das der Angst, bei möglichem Ausweg das der Energie, des Ärgers und der Wut entsteht. In einer „flight and fight reaction“ wird nun die Ausschüttung von Stresshormonen ausgelöst, zu denen vor allem die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin gehören. Sind dem Individuum Flucht oder Angriff möglich, führt die hormonbedingte Aktivität von Herz-Kreislauf-Funktionen, Lungenfunktion, motorischen Systemen etc. zu einer körperlichen Reaktion, die Energie verbraucht. In aussichtslosen Situationen hingegen kommt es zu einer lähmenden Erstarrung, die wir als panische Angst wahrnehmen und die nicht selten mit körperlichen und seelischen Erscheinungen der Depression einhergeht: Niedergeschlagenheit, Lustlosigkeit, Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Verzweiflung u. v. m. können Symptome sein, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann (s. Hülshoff 2012, 86ff). In jedem Fall aber führt diese Stressreaktion dazu, dass andere Körperfunktionen (Fortpflanzungsfunktion, Reparaturvorgänge, aber auch die Funktion unseres Immunsystems) zweitrangig und folglich gedrosselt werden.
Geht der Stress rasch vorüber oder kommt es zu häufigen Erholungspausen, so wechselt die sympathotone Erregung mit vagotonen Ruhephasen ab. Wir sprechen von Eustress, der dem Körper angemessen ist und gut verarbeitet werden kann.
Erschöpfungs-syndrom
Ein zu starker, pausenloser Stress, der nicht adäquat abgearbeitet werden kann, führt hingegen zu Erschöpfungssyndromen. Diese gehen psychisch oft mit dem Erleben einer Depression einher und können auf der körperlichen Ebene, vor allen Dingen durch eine vermehrte Cortisolausschüttung, zu einer schweren Schädigung des Immunsystems führen. Wir werden nun krankheitsanfälliger und sind unter Umständen ernsthaft gesundheitlich gefährdet.
Beim Stressgeschehen kommt es nicht nur zu einer physischen Belastung, sondern auch zu einer starken psychischen Anspannung. Erst diese emotionalen Erregungszustände – hervorgerufen durch unterschiedliche Auslöser – verursachen die relativ einheitlichen somatischen Stressreaktionen. Als stressassoziierte Emotionen werden oft Angst, Wut, Aggression sowie Trauer und Niedergeschlagenheit genannt.
Stresserleben
Ob eine Belastungssituation allerdings als Stress erlebt wird, hängt oft nicht allein von der Belastung selbst, sondern von weiteren Faktoren ab: So kann es zu Stress kommen, wenn die Erholungspausen zu kurz sind und nicht zur Regeneration ausreichen, wenn Bewältigungsversuche zur Lösung des Problems wiederholt scheitern, das Individuum keinen Ausweg mehr sieht oder wenn es zu einer zu dichten Folge stressender Ereignisse kommt.
Potenziell haben Menschen die Möglichkeit, mit eher aktiven oder mit eher passiven Stressreaktionen zu reagieren, wobei die individuellen Ausformungen naturgemäß beträchtlich variieren. Aktives Stressgeschehen besteht in Kampf, Konfrontation und aktiver Herangehensweise. Dagegen ist der passive Stress durch Rückzug, Passivität und Ausweichen von Auseinandersetzungen gekennzeichnet, was sich in den Gefühlen der Hilflosigkeit und Depression niederschlagen kann. Sofern es sich um Dauerstress handelt, kann ein solches passives Verhalten möglicherweise mit psychosomatischen Erkrankungen einhergehen. Ob es dazu kommt, hängt aber nicht nur von der objektiven Belastung, sondern auch von der Vorstellung des Menschen vom Ausmaß der Belastung und ihrer Bewältigungsmöglichkeiten ab.
So kann für den einen ein Umzug eine willkommene Abwechslung oder eine Verbesserung seiner Lebensverhältnisse sein, während der Zweite damit vor allem soziale Verluste assoziiert. Vor allem bisherige Lebenserfahrungen (Life-Events), ein objektiv vorhandenes soziales Netz bzw. dessen Fehlen sowie bisher erfolgreiche oder fehlgeschlagene Lösungsversuche (Coping-Verhalten) sind ausschlaggebende Faktoren dafür, wie Stress erzeugend ein Ereignis bewertet wird.
psychosozialer Stress
Stress, so wurde bereits angedeutet, entsteht nicht nur durch physikalische oder chemische Noxen, sondern auch und gerade im psychosozialen Kontext. Zunächst soll angemerkt werden, dass es exogene Stressfaktoren in einer hochindustrialisierten Gesellschaft gibt, denen ihre Mitglieder zu einem beträchtlichen Teil unterworfen sind, ohne dass sie sich so ohne weiteres davon frei machen könnten. Die zunehmende Anforderung an berufliche Flexibilität kann beispielsweise ein solches Stresspotenzial darstellen. Von Jugendlichen wird z. T. erwartet, dass sie möglicherweise mehrfach in ihrem späteren Leben den Beruf wechseln. Es wird von ihnen erwartet, dass sie sich an eine schnell ändernde Umwelt anzupassen verstehen und sich mit den sich immer schneller verändernden Bedingungen im Arbeitsbereich erfolgreich auseinander setzen. Dabei sei z. B. an die Entwicklung in der Informationstechnologie erinnert (der Frage, inwieweit das Arbeiten am Bildschirm oder mit hochtechnisierten Überwachungs- und Steuerungssystemen Stress hervorruft, kann hier nicht weiter nachgegangen werden).
Durch zunehmende gesellschaftliche Veränderungen kommt es häufig auch zu sozialen Rollenveränderungen und damit verbundenen Krisen. Die damit oft einhergehende Verunsicherung kann ebenfalls Stress auslösen oder verstärken. Schließlich gibt es zahlreiche physische Belastungen (Lärm, Allergene, verschiedene Umweltbelastungen etc.), die ihrerseits psychosozialen Stress verstärken können. Ein besonders wichtiger sozialer Aspekt ist die Arbeitslosigkeit. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass von Arbeitslosigkeit bedrohte oder betroffene Menschen oft in hohem Maße an Stress leiden. In verschiedenen Untersuchungen wurde aufgezeigt, dass bei einer Belegschaft insbesondere in der Phase zwischen Ankündigung und endgültiger Schließung eines Betriebes erhebliche Anzeichen für das Vorliegen von Stress auftraten – mit einer Reihe z. T. ernster körperlicher Auswirkungen. Die Tatsache, dass insbesondere Dauerarbeitslosigkeit ein sozialmedizinisch besonders relevantes Problem darstellt, kann hier nur am Rande erwähnt werden. So sollte man sich vor Augen halten, dass es bei aller Subjektivität von Stresserleben und den zweifellos individuell sehr unterschiedlichen Bewältigungsmöglichkeiten gesellschaftlich gehäuft auftretende belastende und Stress erzeugende Faktoren gibt, von denen hier nur einige genannt wurden.
Life-Events
Kurz