Thomas Hülshoff

Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik


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der Hirnrinde rekonstruiert, mit im Gedächtnis gespeicherten Mustern verglichen, von den Assoziationsbezirken weiterverarbeitet, moduliert und den jeweiligen Bedürfnissen angepasst. Sie wird z. T. bewusst erlebt, emotional gefärbt und in der Regel durch gezielte und bewusste, mitunter auch unbewusste Reaktionen (Mimik, Gestik, Haltung) beantwortet. Mit Einschränkung wissen wir heute schon sehr viel darüber, welche Läsionen oder biochemische Dysfunktionen zu Ausfällen bestimmter Teilaspekte dieses Geschehens führen. Ein großes Rätsel allerdings ist immer noch, wie diese z. T. schon durch bildgebende Verfahren nachweisbaren Funktionsabläufe in ein inneres Erleben unserer Psyche umschlagen.

       Entwicklung

      Schließlich ist anzumerken, dass sich die grundlegenden neuronalen Netzwerke nach einem genetisch vorgegebenen Programm entwickeln. Dies geschieht teils schon vor der Geburt, zu einem großen Teil (jedenfalls beim Menschen) nach der Geburt und in der Interaktion mit sensorischen Reizen, die verarbeitet werden müssen. Vor allem durch die Schaffung unzähliger Synapsen, der so genannten Synaptogenese, in den ersten, prägenden Entwicklungslagen eines Kindes reift jedes Gehirn zu einem individuellen, hochkomplexen und einzigartigen Organ, das das Substrat des persönlichen Erlebens ist. Mit diesen Entwicklungsvorgängen befasst sich das folgende Kapitel.

      Wie wir gesehen haben, beruhen die Leistungen unseres Großhirns, von der willkürlichen Steuerung unserer Grob- und Feinmotorik über die Verarbeitung unterschiedlicher Sinneseindrücke bis hin zu emotionalen und kognitiven Prozessen, auf einer sinnvollen, adäquaten und synchronisierten Zusammenarbeit sehr unterschiedlicher und hochdifferenzierter neuronaler Subsysteme. Wie entsteht aber diese Anbahnung adäquater Assoziationen?

      Nehmen wir an, wir betrachten eine Vase. Angeborene Strukturerwartungen reagieren dabei auf Dunkel-Helligkeits-Merkmale und die damit verbundenen Konturen. Dies führt zu bestimmten visuellen Strukturerwartungen, und unsere Erinnerung lässt darüber hinaus uns bekannte Objekte erkennen. Mit anderen Worten: Dass wir überhaupt etwas erkennen, verdanken wir angeborenen Strukturerwartungen. Um aber eine Vase zu erkennen, muss man bereits zuvor eine Vase gesehen haben.

       Nature vs. Nurture

      Damit befassen wir uns mit der grundlegenden Frage des „nature versus nurture“, also der Frage, was und wie viel unserer kognitiven Fähigkeiten angeboren ist und was als Prozess eines (möglicherweise lebenslangen) Lernens anzusehen ist. Mitunter wird diese Frage simplifizierend, ggf. sogar in Prozentzahlen beantwortet. So einfach liegen die Dinge in der Wirklichkeit nicht.

       Epigenetik

      Gene legen fest, was aus uns werden könnte, die Interaktion mit der Umwelt hingegen bestimmt, was aus uns wird. So könnte man holzschnittartig die alte Diskussion des „nurture versus nature“ (Umwelt/Nahrung versus Natur/Veranlagung) umreißen. Wobei wir unter einem Gen (grob vereinfacht) den Abschnitt der DNA verstehen, der für die Bildung jeweils eines spezifischen Eiweißes in der Zelle verantwortlich ist (sog. Ein-Gen-ein-Eiweiß-Hypothese). Doch neben den Genen spielen epigenetische Prozesse (epi: darüber) eine wichtige Rolle. Entscheidend ist nicht nur, welche Gene vorhanden sind und damit potenziell Eiweiße bilden können, mindestens ebenso entscheidend ist, ob sie es tatsächlich tun. Gene können blockiert, an- oder abgeschaltet werden. Dies geschieht maßgeblich über das Andocken von Methyl- oder Acetylgruppen (wobei die Methylgruppen vor allem einen hemmenden und blockierenden Effekt haben). Es sind nun Umweltfaktoren, insbesondere das biochemische Milieu, das bereits in der frühen Keimphase je nach Position der Zelle sehr unterschiedlich ist, die dafür sorgen, ob Gene aktiv oder blockiert werden. Und in dieser frühen Entwicklungsphase des Menschen führen Methylierungs- und Blockierungsprozesse dazu, dass Gene gänzlich abgeschaltet, andere in besonderer Weise zur Funktion angeregt werden – dass sich also mithin Zellen spezialisieren. Eine Nervenzelle kann – abgesehen von der Fähigkeit, sich zu teilen, sich mit Nährstoffen zu versorgen und zu überleben – im Wesentlichen elektrische Informationen weiterleiten. Eine Muskelzelle hingegen hat sich darauf spezialisiert, sich zu kontrahieren. Diese Zellen sind – anders als die erste befruchtete Eizelle und einige Stammzellen – nicht mehr omnipotent, sie haben sich spezialisiert.

      Hinsichtlich der Entstehung von Behinderungen bzw. Entwicklungsstörungen ist festzuhalten, dass genetisch bedingte Veränderungen nur dann vorliegen, wenn die Erbinformation auf der DNA verändert ist, also bereits im Stadium der befruchteten Eizelle (beispielsweise als Folge von Genmutationen). In den überwiegenden Konstellationen hingegen handelt es sich um das Vorliegen einer Vulnerabilität (Anfälligkeit für bestimmte Erkrankungen) durch das Zusammenwirken sehr vieler verschiedener Gene. Diese genetischen Prädispositionen interagieren jedoch ihrerseits mit Faktoren, die auf den werdenden Menschen im Mutterleib einwirken. So können Teratogene (Gifte) zu Fehlfunktionen führen oder die Entwicklung behindern. Aber auch andere Einwirkungen können Einfluss auf die weitere Entwicklung bzw. Fehlentwicklung nehmen. Neben akuten und chronischen Erkrankungen der werdenden Mutter können auch schwere psychische wie physische Belastungen der Mutter negative Folgen für die kindliche Entwicklung haben (beispielsweise Hunger, Situationen von Krieg, Flucht und Vertreibung, Traumen und posttraumatische Belastungsstörungen, Gewalterfahrungen usw.).

      Genetische wie epigenetische Faktoren führen dazu, dass sich das menschliche Gehirn in der Embryonal- und Fetalphase in einer bestimmten Weise entwickelt, dass insbesondere überlebenswichtige Erkenntnis- und Reaktionsprogramme sowie die hierfür notwendigen Hirnareale ausgebildet werden und jedem Menschenkind bei der Geburt zur Verfügung stehen.

      Schauen wir uns die Entwicklung des menschlichen Gehirns etwas genauer an.

      Intrauterine Entwicklung

       Neurogenese

      Intrauterin beginnt sie mit dem Entstehen der so genannten Neuralplatte in der dritten Schwangerschaftswoche. Daran schließt sich die Neurogenese, die Entstehung der ersten Nervenzellen, an. In der Embryonalzeit (den ersten drei Schwangerschaftsmonaten) werden wesentliche Teile des Gehirns angelegt, wenngleich noch nicht voll entwickelt: das Stammhirn, diverse Zwischenhirnstrukturen sowie in Ansätzen die Großhirnrinde. In der sich daran anschließenden Fetalzeit werden diese Strukturen weiterentwickelt, vergrößert und differenziert. Während der Organanlage in der Embryonalzeit ist das kindliche Gehirn besonders empfindlich und muss insbesondere vor toxischen Schädigungen geschützt werden. Dies könnte möglicherweise eine starke Empfindlichkeit der Mutter vor potenziell verdorbenen Speisen sowie das häufig anzutreffende Schwangerschaftserbrechen erklären.

      Die Nervenzellen entwickeln sich in unterscheidbaren Entwicklungsschüben. Die Entstehung der Nervenzellen (Neurogenese) setzt in der dritten Schwangerschaftswoche ein, erreicht ihren Höhepunkt in der siebten Schwangerschaftswoche und ist nach 18 Wochen weitgehend abgeschlossen. Man mache sich klar: Da danach so gut wie keine Nervenzelle neu entsteht, besitzt der Embryo bereits alle Nervenzellen, die der 70-jährige Erwachsene später aufweist. Die Geschwindigkeit der Neurogenese ist atemberaubend. Im Durchschnitt werden in der Embryonalphase eine halbe Million Nervenzellen pro Minute gebildet.

       Migration

      Eine zweite Phase wird als „ Migration“ bezeichnet: Darunter verstehen wir den Prozess, in dem Nervenzellen an den Ort ihrer Bestimmung wandern und somit erste, basale Hirnstrukturen bilden. Dieser, ebenfalls pränatale Prozess ist weitgehend genetisch gesteuert und biochemisch getriggert. Nervenwachstumsfaktoren und Oberflächensubstanzen des Gewebes weisen den Nervenzellen den Weg. Folglich können nicht nur genetische Fehlinformationen (mitunter reicht die mangelhafte Synthese eines einzigen Proteins), sondern auch toxische Einflüsse während der Schwangerschaft diesen Prozess erschweren. Wenn man also angesichts unterschiedlicher Behinderungen und psychischer Erkrankungen von einer „Vulnerabilität“ spricht, meint man in vorgeburtlicher Hinsicht ein mögliches Zusammenwirken genetischer sowie intrauterin-milieubedingter Störungen.