unverzichtbar sind, ohne sie zugleich vollständig erklären zu können. Es gibt beispielsweise eine sensomotorische Hirnrinde, in der verschiedene Aspekte der von uns ertasteten Welt parallel verarbeitet werden. So kann in eng benachbarten Arealen dieser sensorischen Hirnrinde z. B. die Kälte, aber auch die Härte, die Vibrationseigenschaften o. a. taktile Qualitäten eines von uns getasteten Metallstuhls analysiert und zu einem ganzheitlichen sensorischen Erleben integriert werden. Vor der sensorischen Hirnrinde findet sich das primäre motorische Hirnrindenareal, in dem die Willkürmotorik generiert wird. Wie in Kap. 6 noch zu zeigen ist, findet die Planung einer motorischen Aktion bereits in der präfrontalen Kortexregion statt: Sie wird aktiviert, wenn ich den Plan fasse, eine Banane zu schälen. Die motorische Hirnrinde hingegen tritt in Aktion, wenn der konkrete Plan ausgeführt wird, die Finger also in entsprechender Weise stimuliert werden.
Weder in der motorischen Hirnrinde noch in der sensorischen Hirnrinde geht es gerecht zu: Bestimmte Regionen unseres Körpers, insbesondere die Hände, aber auch die Mundregion sind deutlich überrepräsentiert. Evolutionsbiologisch ist es von außerordentlich großer Bedeutung, dass baumhangelnde Primaten ein gutes Gespür in ihren Händen haben: Ein Affe, der den Ast verfehlt, nachdem er springt, gehört nicht zu unseren Vorfahren. Dies gilt in gleicher Weise für motorische wie sensorische Repräsentation der Handregion in unserer Großhirnrinde. Es ermöglichte letztendlich die Evolution zum Homo faber, dem werkzeuggebrauchenden und manipulierenden Menschen. Auch die relative Überrepräsentation der Mundsensorik und -motorik deutet auf besondere Überlebensvorteile hin: Ein Säugling muss bereits bei der Geburt saugen können, und die Mundregion ist zunächst das führende Organ bei der Erkundung der (taktilen) Welt. Noch ein sechs Monate alter Säugling steckt das, was er „begreifen will“, in den Mund. Aber auch für die Artikulation und damit für das Sprechen sind Mundsensorik und insbesondere Mundmotorik von ausschlaggebender Bedeutung.
Sehrinde
Im hinteren Teil des Okzipitallappens finden wir die primäre Sehrinde, in der Sehinformationen primär verarbeitet werden. Über unterschiedliche Kanäle wird gemeldet, dass sich Formen, Bewegung oder Licht bestimmter Frequenzen gezeigt haben. Diese Informationen werden parallel verarbeitet und an eine Reihe nachgeschalteter visueller Hirnrindenareale weitergeleitet. So gibt es komplexe Zellen, die Kanten zu erkennen in der Lage sind, sowie hyperkomplexe Zellen, die auf bewegte Kanten reagieren. Noch weitere Spezialisierungen können auf Gesichter, Hände o. a. spezifische Objekte reagieren. Wie in Kap. 5 noch detailliert beschrieben wird, setzt sich der Wahrnehmungsprozess aus einer komplexen Verschaltung unzähliger Module zusammen, an der letztendlich bis zu einem Drittel der gesamten Großhirnrinde beteiligt sein kann. Auch auf Ausfälle in diesem Bereich, die als „Agnosien“ bezeichnet werden, wird in diesem Kapitel eingegangen.
Großhirnareale
Es gibt zahlreiche Befunde von Schlaganfallspatienten, bei denen bestimmte und spezifische Hirnareale zugrunde gegangen sind. Dadurch weiß man heute, dass hochspezifische Zentren existieren, die bei speziellen kognitiven u. a. Großhirnleistungen involviert sind:
■So gibt es beispielsweise das Wernicke-Zentrum zum Erkennen und Kodieren von Substantiven sowie das Broca-Sprachzentrum, das vor allem für das Nutzen von Verben und grammatikalische Aspekte der Sprache von Wichtigkeit zu sein scheint (s. hierzu Kap. 7).
■Andere Hirnrindenareale wie z. B. der Gyrus angularis scheinen bei der räumlichen Vorstellung und der Symbol- wie Zahlenzuordnung von besonderer Bedeutung zu sein.
■Wieder andere Hirnareale befassen sich mit taktilen, auditiven oder visuellen Prozessen des Erkennens.
■Auch die Hörrinden (rechts und links) an den Schläfenlappen haben sich spezialisiert – nämlich auf die Verarbeitung auditiver Information, die hier erkannt und teilweise ins Gedächtnis weitergeleitet wird.
■In der präfrontalen Kortexregion schließlich finden wir Aktivitäten bei Handlungsplanung, beim Verstehen komplexer und sozialer Situationen, bei der Verarbeitung emotionaler Erlebnisse (auch in Verbindung mit Gedächtnisinhalten) sowie dem Generieren einer ausgewogenen und adäquaten Reaktion auf das Wahrgenommene.
Der frontale Bereich des Großhirns ist also ganz wesentlich mit Vorgängen verbunden, die wir in gewisser Hinsicht unserer Persönlichkeit zuordnen.
Integration
Das bisher Gesagte könnte zu zwei Missverständnissen führen. Zum einen könnte man meinen, dass es einzelne, möglicherweise sehr viele voneinander unabhängige Zentren gibt, bei deren Ausfall man entweder gar nichts oder fast gar nichts mehr sieht, nicht mehr rechnen kann oder was dergleichen Funktionen mehr sind. Dem ist aber nicht so. Das Gehirn versucht stets, unter allen erdenklichen Umständen die jeweils verfügbaren Informationen zu einer Einheit zusammenzufassen und im Sinne eines ganzheitlich erfahrbaren Erlebnisses zu integrieren. Natürlich kann es beim Ausfall bestimmter Areale dazu kommen, dass bestimmte Details nicht verarbeitet werden können – z. B. können manche Menschen keine Farben wahrnehmen. Dennoch leben sie in einer in sich stimmigen und von ihnen als „echt“ erkannten visuellen Welt. Analoges gilt auch für andere, beispielsweise auditive, Wahrnehmungsstörungen.
Ich-Funktionen
Ein zweites mögliches Missverständnis besteht darin, letztlich eine übergeordnete Stelle in der Hirnrinde zu vermuten, die all die unterschiedlichen Informationen und Hirnaktivitäten zusammenfasst, bewertet oder steuert – sozusagen ein Homunkulus (Menschlein), das von uns dann als Ich erlebt wird, das alles sichtet und nun entscheidet, was zu tun ist. Einen solchen Homunkulus, eine solche übergeordnete Zentrale gibt es nachweislich nicht. Stattdessen entsteht das subjektive Empfinden unseres ichhaften Bewusstseins, wenn unzählige neuronale Zellverbände synchron zusammenarbeiten und miteinander in Verbindung treten. Dabei entscheidet unsere gezielte Aufmerksamkeit, was in der jeweiligen Situation bewusst wahrgenommen und was vernachlässigt wird. Außerdem kommt es bei dieser hochkomplexen integrativen Verschaltung in der Regel eindeutig zu der Fähigkeit, externe Reize und innere Befindlichkeiten zu unterscheiden (eine Fähigkeit, die bei schizophrenen Schüben zeitweilig verloren gehen kann). Der Zugriff zu Gedächtnisinhalten schließlich führt dazu, dass sich das Individuum auch lebensgeschichtlich als Ich definiert: „ich war, ich bin, ich werde sein“.
So kann man zusammenfassend sagen, dass das Gehirn, das komplexeste unserer Organe, aus sehr unterschiedlichen Hirnarealen, quasi Modulen, zusammengestellt ist. Sie sind netzartig miteinander verbunden, und ihre Wirkungen beeinflussen sich gegenseitig. Auf der Grundlage von bioelektrischer Aktivität und chemischer Signalübertragung an den Synapsen gelingt es dem Gehirn, zunächst sehr basal-archaisch, mitunter reflexartig auf äußere Gegebenheiten zu reagieren. Je weiter eine Spezies entwickelt ist und je differenzierter die den basalen Hirnregionen überlagerten Strukturen sind – in letzter Konsequenz das menschliche Großhirn –, desto genauer können Eindrücke der Außenwelt (Sinnesreize) dazu führen, dass eben jene Außenwelt im Gehirn rekonstruiert wird. Das Bild der Welt, das wir uns machen, entspricht zwar nicht der realen Wirklichkeit, ist ihr allerdings angemessen und erlaubt ein adäquates und zielgerichtetes Reagieren auf die Eindrücke von außen. Je differenzierter die Rekonstruktion und Repräsentation der Wirklichkeit im Gehirn, desto genauer und differenzierter ist auch eine motorische Antwort möglich.
Kognition
Letztendlich können menschliche Gehirne auch Probleme ohne Agieren lösen. Ein solches inneres Problemlösen, das, wie Konrad Lorenz formuliert, eine Hypothese sterben lassen kann, ohne dass das Individuum sterben muss, ist evolutionär von Vorteil und wird als „Denken“ oder Kognition bezeichnet. Ursprünglich also als Überlebensorgan gedacht, ermöglicht uns unser Gehirn in Ansätzen, uns selbst bewusst zu werden und die Welt auch in abstrakter Hinsicht zu begreifen.
Die sehr differenzierten und fein abgestimmten Verbindungen und Assoziationen ungezählter neuronaler Subsysteme ermöglichen ein individuelles, dem jeweiligen Zeitpunkt