Stefanie Gislason

Der Ruf der wilden Insel


Скачать книгу

      Erneut sah er wieder aufs Meer hinaus.

      Sein Blick folgte den Wellen.

      Kristín hörte einfach nur zu.

      „Er wusste von ihrer Krankheit. Von Anfang an. Aber er hatte die stille Hoffnung, dass ein Kind sie aus dem Dunkeln holen könnte. Dass ich ihr Licht werden könnte.“

      Halli kickte einen Stein fort, als er sich langsam in Bewegung setzte und sie gemeinsam ein Stück den Strand entlang gingen.

      „Sie liess mich nie spüren, dass sie krank war. Und Pabbi sagte sie nie, wie schlecht es ihr wirklich ging. Wir lebten im Glauben und der Hoffnung, eine glückliche kleine Familie zu sein.“

      Seine Stirn legte sich zornig in Falten.

      „Und dann ging sie fort. Einfach so. Ohne Abschied. Und zurück blieben wir...“

      Er suchte nun Kristíns Blick.

      Enttäuschung und Schmerz spiegelte sich in seinen Augen.

      Sein Anblick berührte sie.

      War es nun Zeit für ihre Geschichte?

      Sie holte tief Luft.

      „Ich bin hier auf Island, weil…“

      Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen glitten über das Meer.

      „Mein Vater hatte ein Geheimnis...“

      Dieses Mal war es seine Hand, die sich wärmend auf ihren Arm legte.

       Und so erzählte sie ihre ganze Geschichte...

      Kapitel 14

      Die rundliche Krankenschwester hob den Kopf von ihren Unterlagen, als Kristín völlig aufgelöst aus dem Treppenhaus auf die Station trat.

      Es war mitten in der Nacht, die Abteilung wie ausgestorben.

      Ihre Blicke trafen sich.

      „Wie geht es meinem Vater?“, waren die ersten Worte, die Kristín unter grösster Anstrengung hervorbrachte, während sie die Schwester nicht aus den Augen liess, welche nun ruhigen Schrittes auf sie zukam.

      Schwerfällig lehnte sich die junge Frau an die Wand und versuchte, zu Atem zu kommen.

      Sie war beinahe den ganzen Weg hierher gerannt.

      Ihre Stimme zitterte, ihre Hand hielt noch immer das Mobiltelefon umklammert, auf dem vor nicht einmal 15 Minuten ein Anruf aus dem Krankenhaus einging mit der Nachricht, dass ihr Vater die Nacht wahrscheinlich nicht überstehen würde.

      Nur mühsam konnte Kristín die Tränen zurückhalten, als die ältere Frau sie sachte an die Hand nahm und wie ein kleines Kind durch den Gang zu einem Stuhl führte.

      Widerwillig liess sich die junge Frau darauf nieder und schaute panisch zu der Krankenschwester hoch.

      „Ist er…?“, fragte sie ängstlich, doch die Frau schüttelte leicht den Kopf und lächelte beruhigend.

      Erleichterung durchströmte Kristín und sie entspannte sich etwas.

      „Ich bin gleich wieder bei Ihnen, meine Liebe. Versuchen Sie etwas zu Atem zu kommen.“

      Mit diesen Worten verschwand die grauhaarige Frau im Stationszimmer.

      Kurze Zeit später kehrte sie mit einer dampfenden Tasse Tee zurück.

      „Hier, der wird Ihnen guttun.“

      Dankbar über diese schlichte Geste nahm sie das Getränk entgegen.

      Die Wärme des Tees tat seine Wirkung.

      Ihr Atem entspannte sich und das Pochen ihres Herzens wurde leiser.

      Sie holte einmal tief Luft, bevor sie sich wieder der älteren Krankenschwester zuwandte, welche sich auf dem Stuhl neben ihr niedergelassen hatte.

      Auch sie hielt eine Tasse Tee in den Händen, hatte ihre Hände wärmend darum gelegt.

      „Wie geht es meinem Vater?“, fragte Kristín erneut und die Angst schwang deutlich in ihrer Stimme mit.

      Eine bedrückende Stille folgte.

      Nur das Ticken der Uhr an der Wand war zu hören.

      Dann seufzte die Schwester lautlos und ihr Blick wurde traurig, als sie sich Kristín zuwandte.

      „Es tut mir so leid, Liebes.“

      Ihre warme Hand legte sich tröstend auf das Knie der Jüngeren.

      „Die Medikamente schlagen nicht mehr an. Ihr Vater hatte grosse Schmerzen. Deshalb sahen sich die Ärzte gezwungen, die Morphium-Dosis zu erhöhen. Seither ist er ruhiger. Aber seine Lungen beginnen nun, Wasser zu sammeln. Man hat versucht, dieses zu entfernen, doch der Erfolg ist nur von kurzer Dauer.“

      Die ältere Frau atmete hörbar aus und ihr Blick war voller Mitgefühl.

      „Es tut mir so leid. Ich hätte Ihnen diese Nachricht gerne erspart. Ihr Vater schien so gut auf die neue Therapie anzuschlagen…“

      Eine Zeit lang sprach keine von beiden ein Wort.

      „Warum er?“, flüsterte Kristín schliesslich leise, den Blick auf die Uhr an der Wand gerichtet, die unbarmherzig weiter tickte, Sekunde für Sekunde.

      „Das ist nicht fair.“

      Ihre Augen brannten, aber sie hatte nicht den Mut, die Tränen freizulassen.

      Sie musste stark sein.

      Ihr Vater war es ja auch.

      „Manche Dinge geschehen ohne unser Zutun, meine Liebe.“

      Der Blick der Krankenschwester wurde einen Moment weich, als sie Kristín betrachtete, doch sie fasste sich schnell wieder.

      „Gehen Sie zu ihm. Er hat heute bereits nach Ihnen gefragt.“

      Sie tätschelte der jungen Frau aufmunternd das Knie, ehe sie sich schwerfällig aus ihrer sitzenden Position erhob und sich mit der Hand abwesend über das Gesicht fuhr.

      Kristín bemerkte zum ersten Mal in ihrem Leben, dass es wohl Schicksale und Menschen gab, die auch an einer Krankenschwester nicht spurlos vorbei gingen.

      Ihr Vater war einer davon.

      Ihre Blicke trafen sich erneut.

      „Es gibt so vieles, was ihr Vater noch mit Ihnen besprechen möchte. So vieles, was er Ihnen noch sagen möchte.“

      Einen Moment wandte sie sich ab, schien sich zu sammeln, ehe sie Kristín wieder ansah.

      Ihre Augen glänzten, als sie die Hand der jungen Frau ergriff und kurz drückte.

      „Ich bin die ganze Nacht hier, wenn Sie mich brauchen, Liebes.“

      Ein letztes leichtes Lächeln, dann war sie im Stationszimmer verschwunden.

      Leise war zu hören, wie sich jemand die Nase putzte.

      Eine gefühlte Ewigkeit blieb die junge Frau noch verwirrt auf ihrem Stuhl sitzen und sammelte ihre noch verbliebenen Kräfte.

      Dann erhob sie sich langsam, stellte die leere Teetasse auf dem kleinen Regal vor dem Stationszimmer ab und machte sich schweren Schrittes auf den Weg zum Zimmer ihres Vaters.

      Vor der Tür atmete sie noch einmal tief durch.

      Sie musste stark sein!

      Kristín klopfte leicht an.

      Es blieb still.

      Keine Antwort.

      Ihr Blick glitt den Gang hinunter.

      Es war viel zu still hier!

      Sie klopfte erneut.

      Immer noch keine Antwort.

      Dann