Lothar Beutin

Rizin


Скачать книгу

Nägeln.

      „Was gibt es sonst noch?“, kam von Hellman, der das Gespräch beenden wollte.

      Bea holte tief Luft: „Sie hatten mir doch gesagt, dass Sie sich für die Festanstellung meines Mannes einsetzen wollten.“

      „Ja, und?“, erwiderte er.

      „Ja!“, betonte Bea. „Sein Vertrag läuft in wenigen Wochen aus.“

      „Im Moment ist keine freie Stelle verfügbar, da kann auch ich nichts machen, Frau Nagel“, erwiderte Hellman. Bea riss die Augen auf, und bevor sie antworten konnte, sagte Hellman: „Aber ich habe veranlasst, dass sein Vertrag bis Ende Mai verlängert wird. Mehr kann ich im Moment wirklich nicht tun, Frau Nagel, aber es wird sich bis dahin sicherlich eine Lösung finden.“

      Bea war erleichtert und etwas von der Spannung fiel von ihr ab. Hellman beobachtete die Veränderung in ihren Gesichtszügen und war zufrieden. Er hatte nicht vor, Ronald Nagel einen unbefristeten Vertrag zu geben. Ronald Nagel war ein guter Virologe, auf den man nicht unbedingt verzichten wollte, aber in dieser Hängepartie war er ihm doch viel nützlicher. Weil Ronalds Arbeitsvertrag immer wieder verlängert werden musste, hatte Hellman ein zuverlässiges Druckmittel, um Beatrix bei der Stange zu halten. Griebsch konnte dagegen gar nichts machen, trotz seiner neuen OECD Aktivitäten. Es hing vor allem von Hellman ab, wie es mit der AG-Toxine weiterging.

      Bea verlies Hellmans Büro mit einem Gefühl der Erleichterung. Sie war froh über den Zeitaufschub. Eigentlich hatte sie sich mehr erhofft, aber um zu liefern, was Hellman wollte, stürzte sie sich mit Feuereifer in die Arbeit. Antiseren ließen sich mit inaktivierten BoNT leicht herstellen, dazu brauchte sie keine Hilfe. Sie begann, monoklonale Antikörper herzustellen, die sehr spezifisch gegen die verschiedenen Varianten der Botulinum Toxine reagierten. Etwas mehr als drei Monate blieben ihr, um Hellman dazu zu bringen, sein Versprechen zu halten: eine feste Stelle für Ronny.

      Schneider hatte einen wirklichen Durchbruch bei der Herstellung des Rizinantiserums erzielt. Er hatte eine Methode entwickelt, Rizin an Latexkügelchen zu koppeln, sodass es in Mäusen nicht mehr toxisch wirkte. Mit dem gekoppelten Rizin konnte er neutralisierende Antiseren herstellen, der erste Schritt zu einem richtigen Impfstoff. Wem würde so ein Impfstoff eigentlich nützen? Man konnte doch nicht alle Menschen gegen Rizin immunisieren, nur weil man annahm, dass Terroristen es irgendwann einsetzen könnten? Viele waren schon nicht bereit, sich freiwillig gegen Grippe impfen zu lassen und hier ging es um eine potenzielle Biowaffe. Wie sollte man den Menschen das erklären, ohne Panik hervorzurufen? Bis zur Entwicklung eines geprüften und zugelassenen Impfstoffes dauerte es außerdem Jahre. Wenn wirklich ein Anschlag mit Rizin erfolgte, käme eine Impfung ohnedies zu spät.

      Er beschloss, das genaue Verfahren zur Herstellung des Impfstoffes für sich zu behalten. Bea brauchte für ihre Tests nur das Serum, aber nicht die Methode zu seiner Herstellung. Wissenschaftlich gesehen war diese Sache reizvoll. In ein paar Wochen würde er wissen, ob die Tiere tatsächlich immun gegen Rizin geworden waren. Ob das Serum der Tiere die giftige Wirkung von Rizin neutralisieren würde? Der endgültige Test bestand darin, ein gegen Rizin immunisiertes Tier mit einer normalerweise tödlichen Menge Rizin zu behandeln. Wenn es überlebte, dann war es gegen das Gift immunisiert und er, Leo Schneider, hätte einen wirklichen Impfstoff gegen Rizin entwickelt.

      Schneider wartete mit Spannung auf neue Ergebnisse in den nächsten Wochen. In der Zwischenzeit untersuchte er immer wieder Rizinproben, die er durch chemische Behandlung inaktivieren wollte. Mittlerweile hatte er bereits sechsundsiebzig verschiedene Ansätze auf seinem Laborregal stehen. Bisher konnte er aber bei keinem Ansatz eine spezifische Inaktivierung feststellen.

      Eine Reihe von Proben, die er vor zwei Wochen chemisch behandelt hatte, testete er erneut. Alle, bis auf eine, zeigten die gleiche, stetige Abnahme der Toxizität, genauso wie unbehandeltes Rizin, wenn man es bei Zimmertemperatur länger aufbewahrte. Aber die Probe mit der Nummer 51 war eine Ausnahme, sie behielt ihre ursprüngliche Giftigkeit. Als Schneider sie wieder untersuchte, musste er sie sogar stärker verdünnen, als noch vor zwei Wochen, um den Punkt zu erreichen, an dem sie die Zellkulturen nicht mehr zerstörte. Probe 51 hatte er mit einer chemischen Substanz behandelt, die nach seinen Erwartungen das Rizin hätte inaktivieren müssen. Das Ergebnis kam unerwartet und Schneider glaubte an einen Fehler in seinem Versuchsansatz. Er legte neue Proben an, die er genauso wie die Probe 51 behandelte, und schrieb das Datum, an dem er sie hergestellt hatte, mit Filzstift auf die Glaskolben. Weitere Wochen vergingen, und als er diese Proben untersuchte, zeigte sich der gleiche Effekt wie bei der ersten Probe Rizin 51. Die toxische Wirkung auf die Zellkulturen wurde umso stärker, je länger Schneider das Rizin mit der Chemikalie zusammenließ.

      Wer Bunker baut, wirft Bomben. Es war der Titel eines Aufsatzes gewesen, der sich kritisch über militärische Defensivmaßnahmen auseinandersetzte. Wer sich mit Abwehrwaffen beschäftigte, arbeitete auch für den Angriff, ob er wollte oder nicht. Wer Abwehrmaßnahmen gegen Biowaffen entwickelte, musste sich zwangsläufig auch mit den Waffen selbst beschäftigen. Wie schnell es geschehen konnte, dass ein unerwarteter Effekt eine Biowaffe verbesserte, anstatt sie zu zerstören, hatte Leo Schneider mit seinem Rizin 51 herausgefunden.

      Schneider behielt seine Erkenntnisse über Rizin 51 eine Weile für sich. Erst, nachdem er sicher war, dass seine Ergebnisse auf keinem Trugschluss beruhten, sprach er mit Tanja darüber. Wie üblich blieb Tanja ziemlich cool und sagte nur: „Eine zweischneidige Klinge, pass auf, dass du dich nicht daran verletzt.“ Sie zeigte auf die kleine silberne Doppelaxt, die sie an einer Kette um den Hals trug.

      In den folgenden Wochen wurde es offenkundig, dass Schneider bei seinen Versuchen, das Rizin zu inaktivieren, etwas entdeckt hatte, was dessen Wirkung extrem verstärkte. Und nicht nur das, die Behandlung machte das Rizin außerdem widerstandsfähiger, es blieb auch bei Zimmertemperatur stabil und damit war es als Biowaffe noch viel geeigneter als das natürliche Rizin. Schneider hatte zu wenig chemische Kenntnisse, um prüfen zu können, was im Einzelnen mit dem Rizin 51 passiert war. Er konnte es aber auch keinem chemisch versierten Kollegen zur Untersuchung geben, ohne Gefahr zu laufen, dass diese Entdeckung publik wurde.

      Tanja blieb die Einzige, die außer ihm Bescheid wusste. Niemand sonst sollte davon erfahren. Leo Schneider war unschlüssig, was er mit seiner zufälligen Entdeckung anfangen sollte und ließ die durchnummerierten Flaschen mit den Rizinproben auf dem Laborregal stehen. Er dachte an das Interview von Griebsch und an die undichte Stelle im Labor. Er löschte alle Protokolle zur Herstellung der Probe 51 von seinem Arbeitsplatzcomputer. Die schriftlichen Aufzeichnungen nahm er zu sich nach Hause. Die Herstellung von Rizin 51 war nicht schwer, eigentlich hatte er alles im Kopf und brauchte keine Aufzeichnungen. Aber im Labor konnten sie jemandem in die Hände fallen, der damit Schaden anrichtete. Das durfte nicht passieren.

      Eigentlich hätte er alle Rizin 51 Proben sofort zerstören müssen. Aber seine Neugier und auch seine Eitelkeit waren stärker als die Vernunft. Er wollte jetzt wissen, ob die Präparate in ein paar Wochen noch giftiger sein würden. Vielleicht gingen sie ja auch kaputt? Leo Schneider war nicht sicher, was er sich mehr wünschte. Ihm schmeichelte die Vorstellung, eine wirklich gefährliche Entdeckung gemacht zu haben. Wie schnell die Selbstgefälligkeit in ihm geweckt werden konnte! War es nicht die Eitelkeit, die Griebsch, Krantz und Hellman so werden ließ, wie sie waren? Es war ein schmaler Grat, auf dem Schneider von nun an lief.

      9.

      Als die Maschine ausrollte, war es in Singapur früh am Morgen, aber immer noch stockdunkel. In den äquatornahen Zonen war es entweder Tag oder Nacht, so etwas wie Morgengrauen oder Abenddämmerung gab es kaum. Horst Griebsch hatte für heute noch viel vor. Zuerst wollte er sich in das Hotel Peacock bringen lassen, um später die teure Digitalkamera zu kaufen, die hier fast um die Hälfte billiger sein sollte, als in Deutschland. Nachdem er seinen Koffer vom Band genommen und die Einreisekontrolle passiert hatte, ging er zu den wartenden Taxis, eine Reihe blauer, kleiner Wagen. Er stieg in das erste Taxi der Reihe ein.

      „Good morning, Sir!“ Der Fahrer, ein Sikh mit einem blauen, kunstvoll gebundenen Turban und einem langen schwarzen Bart, startete den Motor und fuhr los.

      “Hotel