Uschi Ballboa

MidlifePunks


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sind auch für jeden überschaubar, daher wird das genauso eingetütet. Wie aufregend. Dann ist es soweit. Let the show begin.

      „So Mädels, dann wollen wir mal“, Rio schließt die Tür zum Unterrichtsraum auf. Wir waren viel zu früh da und standen eine gefühlte Ewigkeit vor Raum 13.

      Alle waren aufgeregt am Plappern bis ein kleines Mädchen mit ihrer Mama an uns vorbei die Treppe hochgehen wollte. „Guck mal Mama, die sind schon sooo alt und müssen noch in die Schule.“ Freches Ding, die Kleine. Find ich gut, so war ich auch. Aber tatsächlich fallen wir in der Musikschule auf, vor allem durch unsere Lautstärke und die gute Laune. Letzteres scheint hier unter argwöhnischer Beobachtung zu stehen, das merkt man direkt wenn man rein kommt. Hier ist die steife Klassik zuhause und alles andere höchstens mal zu Besuch. Komisch, dass die Rio noch nicht rausgeschmissen haben – der müsste mindestens doppelt so viel auffallen wie wir. „Habt ihr schon einen Namen?“, fragt Rio zu Beginn. Wir schütteln den Kopf. „PERSPEK-DIVEN“, gibt er ungefragt seine spontane Idee zum Besten. Ha! Jetzt wird er gleich sehen, wie es ist, gegen eine fünfköpfige Weiber-Wand zu laufen. Und dann kommt’s: Wir stimmen ab und außer mir ist niemand dagegen. Ich habe doch gewusst, dass das keine gute Idee ist, Rio in MEIN Hobby zu lassen. Band-Demokratie kann gehörig nach hinten losgehen. Ich streiche also auch Punkt 1 (Bandname?) von meiner Liste und los geht unsere erste Stunde. „Bis zum nächsten Mal überlegt ihr euch, was genau euer Ziel ist“, sagt der Rio-Lehrer am Ende der Stunde. „Oh toll, Hausaufgaben“, Gerda fühlt sich in junge Jahre zurückversetzt und hat offenbar vergessen, dass Streber früher auch schon was für weniger auf die Mütze gekriegt haben. „Nein“, erklärt der Rio-Lehrer, „eure Hausaufgabe ist natürlich, das zu üben, was ich heute gezeigt habe. Euer genaues Ziel will ich wissen, damit ich planen kann, bis wann ich euch wie fit kriegen muss.“ Ich habe gemerkt, dass ich einen Weg finden muss, meinen Freund Rio und den Lehrer Rio als zwei verschiedene Personen zu sehen. Sonst geht das hier nicht lange gut. Ich musste bereits heute mehrmals wirklich sehr schwer atmen, weil er mir auf den Zeiger ging. Das scheint aber nur meine persönliche Befindlichkeit zu sein, denn die anderen Mädels sind hellauf begeistert. Wir sind auf der Rückfahrt und haben im Auto heiße Diskussionen, wie unser Ziel aussehen soll. „Ich wäre gerne Vorband von Jan-Delay, wenn er im nächsten Jahr in die Stadthalle kommt“, sprudelt es aus der sonst eher stillen Gloria heraus. Huch! Das ist nicht nur ein sehr konkretes, sondern auch ein ziemlich hohes Ziel für den Anfang, wie ich finde. Mal gucken, was Rio dazu sagt, ich jedenfalls möchte ihm das nicht sagen.

      Schließlich versucht er bereits sein ganzes Leben lang auf so eine große Bühne zu kommen und er kann sogar im Gegensatz zu uns auch was. Auf seine Reaktion bin ich gespannt und schlage daher vor: „Dann sag‘ das Rio doch nächsten Montag genauso und wir anderen machen uns auch nochmal Gedanken.“ „Das ist doch schon ein ganz tolles Ziel“, schlägt sich Gabby auf Glorias Seite und das finden die anderen beiden auch. Ich fasse also für den Moment zusammen: Wir heißen „PERSPEK-DIVEN“ und wollen in einem Jahr als Vorband von Jan Delay auftreten.

      „Die beiden Lieder sind richtig gut. Meinst du wirklich, wir bekommen das auch so hin?“, überfallen Gerda wieder leichte Zweifel kurz, bevor sie aussteigen muss. „Auf jeden Fall! Wenn Rio das sagt, ist das auch so“, höre ich mich ohne zu zögern sagen und spüre eine tiefe Überzeugung. Mein Freund und Lehrer Rio macht das schon.

      „Alles klar, auf geht’s“, ist alles was der Lehrer Rio sagt, als Gloria ihm eine Woche später unser aller Ziel verkündet. Was? Das ist alles, was er dazu sagt? Nee, doch nicht. Ich dachte schon. Er hat nur kurz Luft geholt „Wie viel Zeit bekommt ihr denn? Wir müssen ja wissen, wie viele Lieder wir in einem Jahr schaffen müssen.“ Große Ratlosigkeit in der Runde. Verständlich, haben wir doch noch nichts Genaues mit Jan Delay abgemacht. „Was ist denn so normal?“, will Gabby wissen. „Normal ist 88“, kennt sich unser Lehrer aus und bestimmt „Wir nehmen uns mal vier auf die Liste. Das macht mit ein bisschen Sabbelei bei den Ansagen locker 20 Minuten. Da kann man schon mit ins Rennen gehen.“ Also alles gar kein Problem! Bis auf den Punkt vielleicht, dass wir ein Ziel ausgesucht haben mit welchem wir noch nicht einmal in Kontakt stehen. Das sieht Gerda ähnlich „Wie kommen wir denn an Jan Delay überhaupt ran? Der steht wohl kaum im Telefonbuch.“ „Wer ist denn hier die Chefin?“, fragt Rio. Da zeigen plötzlich alle Finger auf mich. „Ja dann macht die das natürlich“, kürzt Rio die Diskussion ab und wir fangen mit dem Unterricht an. In diesem Moment hasse ich ihn aus tiefstem Herzen. Das wird ein Nachspiel haben. „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“, frage ich sofort als ich nachhause komme. Rio liegt schon ganz gemütlich unter seiner Wolldecke auf dem Sofa und hat, so wie er mich anschaut, offenbar keine Ahnung woher der Wind jetzt plötzlich weht. „Wie soll ich denn einen Auftritt als Vorband bei Jan Delay bekommen?“, werde ich etwas genauer. „Das weiß ich doch nicht“, sagt er, „das ist schließlich euer Ziel, oder nicht?“ Sich so aus der Affäre ziehen zu wollen, kann ich nicht gelten lassen „Du bist aber doch unser Lehrer und von dem erwarte ich, dass wenn es möglicherweise Probleme mit einer gewünschten Zielvereinbarung gibt, du uns bremst damit wir uns über ein neues und erreichbares Gedanken machen können.“ Ich bin ehrlich schockiert, dass er uns so ins offene Messer laufen lassen will. Wahrscheinlich rutsche ich deswegen auch in den Büro-Jargon. „Aber ihr könnt doch eh nix und tut es trotzdem“, nimmt er jetzt Gertruds Band-Motto mit in die Diskussion, „Damit habt ihr euch doch alle Möglichkeiten der Welt geschaffen.“

      „Rio, jetzt mal unter uns: meinst du nicht, dass du es dir ein bisschen einfach machst? Willst du, dass wir frustriert das Handtuch schmeißen?“ Ich kann es immer noch nicht fassen. „Wieso einfach machen, ich helfe euch doch. Das wird richtig harte Arbeit, wenn ihr da überhaupt eine Chance haben wollt!“ Ja genau, das isses doch! Ich resigniere. Er versteht mich einfach nicht. Ich weiß nur nicht warum. Will er nicht oder kann er nicht? „Hier“, er reicht mir einen Zettel, „das ist unser Schlachtplan, damit ihr in einem Jahr Vorband bei Jan Delay machen könnt.“ Ich überfliege das Gekritzelte und was soll ich sagen? Bis auf den Punkt Uschi: Kontakt Jan Delay herstellen, erscheint mir das fast machbar zu sein. Halt, doch nicht, es gibt eine zweite Seite! Da steht noch Gabby: Schlagzeug besorgen. „Wieso das?“, frage ich und tippe auf den Punkt, „Wir haben doch eins in der Musikschule.“ „Das ist doch logisch“, meint er, „wie soll sie sonst zuhause üben?“ Oh, noch einer, der schwierig werden könnte Alle: Probegigs und zwar so viele wie möglich. Je genauer ich hinschaue, desto mehr habe ich das Gefühl, ich werde gerade zum Kapitän eines Himmelfahrtskommandos gemacht. „Wie soll ich den Mädels das alles beibringen?“, ich wedele mit der Liste. Das hatte ich mir wirklich anders vorgestellt. Und zwar schon im Ansatz. „Wieso? Können die denn nicht lesen?“, wie witzig er manchmal sein möchte, „und für Organisatorisches und Motivation ist nun mal die Band-Mutti zuständig.“ Da schwillt der Bandmutti jetzt glatt mal der Kamm: „Sag mal, wenn das alles so einfach ist, auf eine große Bühne zu kommen, wieso hast du dann selbst noch nie eine gesehen?“

      Jetzt wo es raus ist, tut es mir auch schon leid. Das ist eine seit Jahren offene Wunde, in die ich da gerade noch extra Salz streue. „War nicht so gemeint“, will ich den letzten Satz zurücknehmen. „Nein, nein, das ist doch eine berechtigte Frage“, er denkt nach. Ich setze mich erst mal. Im Fernsehen läuft nebenher ein Polit-Talk und die Beteiligten liefern sich hitzige Diskussionen. Rio denkt immer noch. Er macht den Ton aus und denkt weiter. Ich verfolge die tonlosen Bilder und wundere mich, warum manch hochdotierte Politiker niemanden haben, der ihnen mal erzählt, dass es auch vorteilhafte Kleidung für den jeweiligen Typ zu kaufen gibt. „Weil ich keinen finde, der mit mir zusammen spielen will“, antwortet er nach reiflicher Überlegung und sieht plötzlich ganz traurig aus.

      „Ach komm“, sage ich und nehme ihn in den Arm, „du hast bestimmt nur noch nicht in den richtigen Ecken gesucht.“ Am nächsten Morgen sieht die Welt nicht unbedingt besser aus. Ich frage mich die ganze Zeit, wie ich wohl an Jan Delay rankomme und ob ich mir den Satz von gestern Abend nicht doch irgendwie hätte verkneifen können. Rio läuft schon den ganzen Morgen mit hängenden Schultern und gesenktem Blick durch die Wohnung. So kenne ich ihn gar nicht. Es ist fast so als würde die Stimmung umgehend auf den Nullpunkt sinken sobald er mit seiner traurigen Aura einen Raum betritt. Ich hoffe bis zur nächsten Bandprobe am Montag ist der wieder auf Kurs.

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