Hannelore Kleinschmid

Lieber Mord als Scheiddung


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studiert noch." wussten andere.

      "Sie soll schwanger sein."

      "Das werden wir ja sehen, ob sie heiraten müssen."

      "Vielleicht sieht man es noch nicht!"

      “Ich sehe so etwas!“ behauptete eine füllige Dame gegenüber einer ebenfalls fülligen Dame. Beide mit Hut über dem Kostüm, ein Unterarmtäschchen unter den Oberarm geklemmt, große Brillen mit modischen Gestellen auf der Nase, die die sich ausbreitende Faltenlandschaft großflächig verdeckten und nur die bewegte Mundpartie freiließen. Ich stand, mit mir selbst eine Gruppe bildend, neben den Damen.

      “Ich sehe es an der Nase“, betonte die Wortführerin, "ob eine schwanger ist. Die Nase wird dann nämlich spitz.“

      Gerade lobte ich im Stillen meine Einsamkeit, die mir Gelegenheit bot, schweigend zu beobachten, als die Welle der nichtssagenden Höflichkeiten auch mich erreichte. Vor dem Trauzeugen, einem guten Bekannten der zu früh verstorbenen Eltern, half es nichts, dass ich mich in den ungewohnten Nadelstreifen wie unter einer Tarnkappe fühlte. Meine allmählich gerundete Männlichkeit an der Schwelle der besten Jahre machte mich für viele zum Unbekannten, die nur den schmächtigen, verlegenen Jüngling aus der ersten Hälfte meines bisherigen Lebens kannten.

      Herr Doktor von Meierbeer stieß plötzlich zu mir vor und begrüßte mich stimmgewaltig. Blicke trafen mich. Überdeutlich erreichte mich das Gezischel der neben mir ausharrenden Beobachterinnen: "Sehen Sie nur, er hat ein Loch im Strumpf! Zur Hochzeit ein Loch im Strumpf!“

      "Dabei ist er der Trauzeuge." wusste die eine der vollschlanken Kaffeehaus-Freundinnen.

      "Naja, die Frau ist ihm davongelaufen." ergänzte die andere.

      "Und das schon vor Jahren." folgte sogleich gut informiert. "Komisch, dass er keine neue gefunden hat.“ wunderte sich die ansonsten Allwissende.

      "Psst!“ wurde sie statt einer Entgegnung gemahnt.

      "Dort kommt seine Mutter, die Rätin von Meierbeer".

      „Sie muss mindestens 80 Jahre alt sein, die Rätin von Meierbeer.“

      Genüsslich saugten sie Titel und Adelsprädikat in sich hinein und stießen sie wieder aus, obgleich - wie ich wusste - in diesem Land die Von- und Zu-Bezeichnungen per Gesetz abgeschafft worden waren. Vielleicht ließen sie sich gerade deswegen nicht ausmerzen.

      Der Doktor begrüßte mich überschwänglich. Er erkundigte sich in einem einzigen Atemzug nach der Frau, den Kindern, dem Beruf und meinen Überlegungen, die Zukunft betreffend. Während ich noch unentschieden war, ob er meine persönliche Zukunft oder die der Menschheit meinte, und zögerte, welche Frage ich zuerst beantworten sollte, ließ er seinen wissenden Blick in die Runde schweifen, winkte einigen Bekannten mit lässiger Geste, und ich begriff, dass er an einer Antwort gar nicht interessiert war und eine ernsthafte als lästig und störend empfunden hätte.

      Inzwischen traten die herbeigewinkten Personen zu uns und begannen mit dem Herrn Doktor ein Begrüßungszeremoniell, als sei man sich im vergangenen Jahrhundert das letzte Mal begegnet und nicht vorvorgestern auf der Geburtstagsfeier für die von allen hochverehrte Tante Grete - oder was auch immer der Anlass gewesen sein mochte, seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach- zukommen.

      In der richtigen Annahme, dass ich die Leute nicht einsortieren konnte, wurden sie mir vorgestellt. Wie galant hätte ich agieren können, hätte ich als Kind nicht der Erwachsenenmacht getrotzt und ihrem Versuch widerstanden, mich zum Handkuss zu dressieren.

      Nun stand ich stocksteif unter all den höflichen Menschen und murmelte als Antwort auf Namen und Titel nichts weiter als: "Anders".

      Mein Name veranlasste zum allgemeinen Ah-Sagen, dem die Erkenntnis folgte: "Sie sind der Bruder."

      Ich war der Bruder, und mein normales Jeans-Ich schwebte hämisch grinsend über mir und amüsierte sich auf meine Kosten. Die Umstehenden bemerkten nichts von diesem Zwiespalt, sondern lobten mit großem Ernst und Anstand mein bisheriges Wachstum und das damit verbundene Aussehen.

      Aus Hilfslosigkeit reckte ich den Hals und spähte nach meinem Bruder. Der Bräutigam im Smoking mit einer weißen Nelke im Knopfloch, deren Stiel nach längerer Debatte brutal mit einer Sicherheitsnadel durchbohrt und befestigt worden war, hatte sich, als wir uns zu Fuß der Kirche näherten, die in der Fußgängerzone lag, sofort zu einer Kleinstdelegation von Kommilitonen begeben und harrte dort schutzsuchend aus. Meine Fürsorge lehnte er ab, da ich mich nicht in der Lage gezeigt hatte, seinen schnellen Sinneswandel hinsichtlich der Heirat nachzuvollziehen.

      Die befreundete Dame, die sich als Vertretungsmutter für uns zuständig fühlte, beendete gerade ihre Pirsch durch die Menge und gesellte sich zu mir, ihre Aufregung kaum verbergend. Sie drängte sogleich darauf, in die Kirche zu gehen. Übrigens müsse der Bräutigam selbstverständlich vor der Braut hineingehen, weil er sie ja erst sehen dürfe, wenn sie von ihrem Vater vor den Altar geleitet werde.

      Ruhig, aber wiederum viel zu laut widersprach Doktor von Meierbeer: "Wir stürmen nicht als erste in die Kirche, verehrteste Freundin. Immer gemach!“ Er war groß und gewichtig, und obgleich nur von der Statur her, gab er sich stets auch so.

      Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Die Braut war mit ihrer Familie eingetroffen. Alle sechs Burgers lächelten kopfnickend zur Masse hin. Ich weiß nicht, ob es mein Vorurteil war, oder ob ihnen ihr Geld beim Nicken tatsächlich etwas Huldvolles verlieh.

      Der Zug formierte sich für den Kirchgang.

      Ich bekam einen Stoß in die Rippen. Gleichzeitig stieß die Freundin Huberti die Worte aus: "Du musst gehen. Als Verwandter des Bräutigams gehörst du dazu. Geh nach vorn!“

      Ich revanchierte mich auf der Stelle, indem ich ihr den Arm bot und drohend flüsterte: "Nicht ohne dich!"

      Dann schritten wir in eine Situation, die mein unbeteiligtes Ich im Nachhinein zu mitleidsvoller Betrachtung von so viel Unwissenheit veranlasste. Der Zug bewegte sich auf den Altar zu. Auf zwei Stühlen, kurz vor der ersten Stufe, ließ sich das Brautpaar nieder. Zwei dahinter aufgestellte Stühle waren für die Trauzeugen bestimmt. Auf dem zur rechten nahm Diethart Meierbeer - so der Name verbürgerlicht – Platz, und wieder hörte ich es durch das feierliche Orgelspiel hindurch murmeln:

       "O Gott, er hat ein Loch im Strumpf!“

      Zu seiner Linken setzte sich, in schwarze Spitze gekleidet, die älteste der Burger-Töchter, Rotraut, die ich bis dahin erst einmal gesehen und die mich bis dato keines Blickes gewürdigt hatte.

      Die Brauteltern und ihr Anhang waren - von mir aus gesehen - auf die Kirchenbänke linkerhand zugesteuert. Als ich mich schnellentschlossen ins Kirchengestühl rechts wenden wollte, spielte meine Begleiterin nicht mit. Sie zog mich weiter nach vorn. Wir landeten schließlich mehr schlecht und noch weniger recht - ich erröte gegen meinen Willen bei der Erinnerung - vor allen anderen auf einer viel zu schmalen, Bank ohne Lehne. Voller Pein erinnerte ich mich an die Ankündigung meines Bruders, das Zeremoniell werde gut eine Stunde dauern. Ich sandte in den ersten Minuten schon Beileidsbekundungen an meinen verlängerten Rücken. Danach konnte ich noch immer nicht der Predigt folgen, weil in mir eine Ahnung aufstieg, dass wir auf einer Gebetsbank saßen, auf dem schmalen Gestühl also, auf das der Betende die Bibel, das Gesangbuch oder die Hände legt, wenn er kniet.

      Dieser Erkenntnisprozess wurde durch ein Röhren des Mikrophons unterbrochen, denn auch in dieses ehrwürdige Gotteshaus hatte die Technik mit all ihren Fehlerquellen Einzug gehalten, und der Priester las in rotbäckiger Ehrfurcht vor der hohen Familie und anderen Stadtgrößen seine Predigt mit Rückkopplung ins Mikrophon.

      Mein Hinterteil zwang mich zu einem Entschluss. Ich flüsterte Hilde Huberti zu, dass wir beim ersten Wechsel von Priesterworten zu Gesang den Rückzug in die zweite Reihe antreten sollten. Mir erschien es zwar einigermaßen unpassend, dennoch stieg ich der Einfachheit halber über das Bänklein nach hinten. Die Tatsache, dass der Priester den Segen für das Brautpaar aus einem Buche ablas, wobei er ihn sogar unterbrechen musste, um umzublättern,