Hannelore Kleinschmid

Lieber Mord als Scheiddung


Скачать книгу

Priesterhand hilfreich vorgehaltenen Blatte ablesen durfte, entbanden mich zunehmend von dem Schamgefühl über mein unangemessenes Verhalten und von der Unsicherheit, die mir Kirchenpracht noch immer einflößt.

      Ich erwies mich bei Christophs kirchlicher Trauung als vollkommen unfähig, in mir ein feierliches Gefühl zu erzeugen. Zu sehr störten mich die technischen Pannen, zu unangebracht fand ich die Worte, die gesprochen wurden.

      Ich konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass ich mich während der bevorstehenden Festivität damit beschäftigen müsste, die harte Schale von Evelines Schwester Rotraut zu durchbrechen, höhere Angestellte im väterlichen Betrieb, unverheiratet mit 32 Jahren und von der Stadt zur alten Jungfer gestempelt.

      Vor der Kirche überschlugen sich dann Ausbrüche hochgradiger Bewunderung. Der kleine unbeholfene Priester wurde wortreich gelobt und die Schönheit sowohl des kirchlichen Aktes als auch des Paares laut gepriesen. Alles lächelte, denn man wurde fotografiert. Von nicht wenigen wurde es als spezielles Verdienst der Braut oder ihres Vaters angesehen, dass just in diesem Augenblick die Sonne durch die Wolken brach und der Szenerie den Anschein strahlender Harmonie gab.

      "Ein herrliches Bild“ jubelten Kirchgänger und Schaulustige. "Ein glückliches Paar" sagten viele, die es besser wussten.

      Hoch und heilig bei meiner Ehre und allen guten Geistern hatte ich mir geschworen, die Rolle eines unbeteiligten Beobachters beizubehalten. Dass mir das nicht geglückt war, begriff ich, als ich in den frühen Morgenstunden des Sonntags eine Viertelstunde lang unter der Dusche stand und heißes Wasser auf meine Haut prickeln ließ in dem dringenden Bedürfnis, mich von dem verlogenen Schleim zu reinigen, der sich meinem Gefühl nach stundenlang über mich ergossen hatte.

      Obwohl es drei Uhr nachts war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die sauber- und daheimgebliebene Elke ans Telefon zu holen. Ich ließ den Apparat dreizehnmal klingeln und wollte schon wütend werden, als sich endlich die vertraute, wenn auch vor Gähnen und Müdigkeit heiser klingende Stimme meldete.

      "Es war schrecklich." stöhnte ich. "Schlimmer als in deinen schlimmsten Träumen."

      "Was weißt du denn von meinen Träumen?" entgegnete meine Frau. "Sag mir etwas Liebes!“ flehte ich.

      "Ich bin viel zu müde." sagte sie. "Ich habe zu lange in die Röhre gestiert, um meine Sehnsucht nach dir zu betäuben."

      Gerade wollte ich mich über diese Liebe begeistern, als sie fortfuhr: "Wie du weißt, sind die Kinder an einem verregneten Wochenende wie diesem unerträglich. Da sehnt sich der Mensch einfach nach einer Wachablösung. Dabei fällt mir ein," gähnte sie, "dass ich den Sonntag im Regen noch vor mir habe und nicht den ganzen Vormittag schlafen kann wie du.“

      Ich fühlte mich zutiefst missverstanden, überwand mich aber zu einer Verabschiedung per Kuss durch das neutrale Telefon. Dann ging ich seufzend zu Bett. Die sanften Schaukelbewegungen, die ich verspürte, rührten sicherlich nicht von der Matratze, sondern von meinem Zustand her. In einem Anfall von Ehrlichkeit machte ich mir klar, dass ich Elke aus purem Egoismus geweckt hatte. Ich wollte sehen, ob wenigstens in meinem Heim die Welt noch in Ordnung war. Ich selbst hatte guten Grund zu einem schlechten Gewissen, waren doch die im Verlaufe des Abends und der Nacht von mir gestarteten Annäherungsversuche nicht meinetwegen unschuldig ausgegangen.

      Die Burger-Familie hatte sich die Ehre gegeben, etwa hundert Bürger der Stadt und ihrer Umgebung zu einem Empfang zu bitten. "U.A.w.g." stand unter der Einladung.

      Immerhin erkannte ich auf Anhieb, was sich hinter den Buchstabencode verbarg, und kam der Bitte um Antwort nicht nach. Das Stadtereignis fand in dem Ableger einer internationalen Hotelkette statt, der erst unlängst seine Pforten geöffnet hatte und an dessen Errichtung der Chef der Burger-Werke nicht unbeteiligt war, wie man mir im Folgenden so oft vertraulich mitteilte, dass ich es glauben musste.

      Die Familie, reduziert um eine ihrer Töchter, nach der sich die Gäste den Empfang lang untereinander, aber nie bei den Gastgebern selbst erkundigten, und mein Bruder hatten sich am Eingang des Saales aufgebaut. Übrigens scheint es das einzige Mal gewesen zu sein, dass Christoph sich sozusagen im Familienkreis aufhalten durfte.

      Es ging zu wie auf einem Neujahrsempfang. Hätten die Gäste diese Einschätzung meinerseits geahnt, wären viele aus Unkenntnis stolz gewesen. Ich kann einen Neujahrsempfang beurteilen, denn ich habe einmal von berufswegen an einem solchen Zeremoniell auf Regierungsebene teilgenommen. Der zuständige Kollege wie auch sein Vertreter und dessen Vertreter samt dem Stellvertreter waren ausgefallen, so dass ich in meiner Funktion als Vertreter des Letzteren ausgesandt wurde. Man begeisterte sich, einander zu sehen, wünschte sich das Beste vom Besten in wohlgesetzten Worten und teilte einander mit, wie angenehm diese Begegnung sei.

      Ich staunte, dass die Wangen des jungen Paares noch keine konkaven Einbuchtungen aufwiesen, obwohl jeder seine Vertrautheit durch einen Wangenkuss demonstrierte. Man denke: Hundert Küsse und mehr!

      Dann stand oder wandelte man, hielt sich am Sektglas fest, heuchelte intensive Aufmerksamkeit für die anderen und drängte sich dennoch unaufhaltsam zu den Leckerbissen am Kalten Buffet vor, denn kaum einer hatte zu Mittag gegessen, da man nach der kirchlichen Trauung um zwei Uhr nachmittags auf angemessene Verpflegung zu hoffen wagte. Vergeblich mühten sich viele, mit dem Glas in der einen und dem Teller in der anderen Hand, in Ermangelung einer dritten eine der Gaumenfreuden zum Munde zu führen. Gegenseitig versicherte man sich, wie großartig alles angerichtet sei. Über Burgers ergoss sich Lob ohne Ende, als wüsste nicht jeder, dass die Hotelküche gearbeitet und der Chef der Burger-Werke nur in die pralle Börse gegriffen hatte.

      Es gab zwei Arten von Gesprächen. Dies wage ich zu behaupten, da mir die Freundlichkeit Hilde Hubertis Einblicke gewährte, an denen ich nie interessiert gewesen war. Die Unterhaltung derer, die sich stadtweit bei den standesgemäßen Festlichkeiten begegneten, beschränkte sich weitestgehend darauf, die jeweils nicht zur Gesprächsrunde gehörenden Personen - je nachdem wie intim man miteinander war - genau unter die Lupe zu nehmen.

      Die andere Gesprächsform erlebte ich an mir persönlich als Nicht-dazu-Gehörender. Dabei war die alles entscheidende Frage, ob sich gemeinsame Bekannte herausfiltern ließen. Von einer Dame, die der fülligen Kostümträgerin vor der Kirche zum Verwechseln ähnelte, erfuhr ich, dass sie gemeinsam mit der Cousine meiner Mutter – oder war es eine Großcousine? – den Schulweg und die Angst vor einem äußerst bösartigen Hund geteilt habe, dessen Hängeohren eine deutliche Sprache gegen seine angebliche Reinrassigkeit gesprochen hätten. Ein Bauchträger, der mir Gedanken über die Notwendigkeit einer Diät aufdrängte, wusste ausführlich darüber zu plaudern, dass die Schwester seiner Mutter bei der Schwester meiner Urgroßmutter, Flötenunterricht gehabt habe und bis heute von deren Talenten schwärme.

      Als ein kleiner Mann im Smoking in gekonnten Wortgebilden über die Stattlichkeit der Erscheinung meines Vaters zu schwelgen begann, obwohl ich doch bestens darüber Bescheid wusste, dass mein Vater keinen Zentimeter größer gewesen war als der kleine Herr und stets und ständig durch überlautes Sprechen auf sich aufmerksam machte, war ich in großer Versuchung, offen und ehrlich zu äußern, was ich gerade dachte. Doch ich besann mich, wenn auch nicht eines Besseren, so doch des Klügeren. Meine Frau Elke hatte mir vor der Abreise erklärt, ich dürfe die ohnehin schwache Position meines Bruders nicht durch ungebührliches Verhalten untergraben.

      Also wandte ich mich zum zweiten Male dem Buffet zu und füllte mir - wenigstens in dem Punkt meinen Gelüsten nachgebend - einen Teller ausschließlich mit Leckerbissen, die ich mir nicht oft leistete. Ich suchte mir ungeniert ein Eckchen bei einer, wenn auch schmalen Fensterbank, auf der ich das Glas abstellte, um möglichst ungestört zu essen.

      Christoph, der die ihm heute zugedachte Position verantwortungsbewusst, gewissenhaft, fleißig und für mich stark befremdlich ausfüllte, entdeckte mich beim vorletzten Bissen und sagte mir vorwurfsvoll, dass ich das nicht machen könne.

      Ich versuchte, nicht zu erfahren, was ich nicht machen könne, sondern kaute weiter. So erklärte er mir von sich aus, dass es an der Zeit sei, sich der Burger-Familie zu stellen. Er formulierte das irgendwie anders, und ich erklärte friedlich mit nunmehr leerem Mund, dass