Hannelore Kleinschmid

Lieber Mord als Scheiddung


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daran zweifelt, ob der Schüler die gelernte Lektion auch unter Stress noch werde herbeten können. Der Einfachheit halber und um der dramatischen Steigerung willen - immerhin hatte ich ein paar Semester Theaterwissenschaften studiert - schenkte ich zunächst der jüngsten Burger-Tochter meine Aufmerksamkeit.

      Das Nesthäkchen Anna-Luise zählte - wie ich wusste – 15 Lenze. Es fühlte sich augenscheinlich im Abendkleid unwohl und zeigte kindlich gerötete Pausbacken. Wie recht hatte Elke daran getan, mit den Kindern zu Hause zu bleiben. Anna-Luise stand in ihrem Pubertätsspeck vor mir und hätte jede Geschichte über schlecht funktionierende Drüsen durch den Kuchenteller Lügen gestraft, den sie in ihrer Hand hielt. Sie hatte zugegriffen, wie es sich die hemmungslose Jugend gelegentlich erlaubt, wenn kein neidvoller Erwachsener Zeit zu Zurechtweisungen hat. Ich sagte geistreich: "Na, schmeckt‘s?" Sie nickte mit vollem Mund und sah sehr gestört aus.

      Ich fuhr fort: "Ich heiße Anders, aber nicht, dass Sie denken, ich hieße nicht so, sondern anders, ich heiße nämlich wirklich nicht anders als Anders." Ich lachte – zugegebenermaßen unecht – über meinen Uraltwitz und sah dem erschreckten Ausdruck ihres Gesichts an, wie oft sie vor Leuten wie mir gewarnt worden war. Gnadenlos fuhr ich fort: "Ich bin der Bruder von Christoph. Wir haben uns gestern kurz in Eurem Eispalast gesehen." Sie sah mich fragend an, aber ich klärte sie nicht darüber auf, dass ich damit die Stimmung nach der standesamtlichen Trauung meinte, sondern fragte locker plaudernd, meines Bruders Wunsch eingedenk: "Was macht die Schule?“ Dabei kam ich mir vor wie ein Schauspieler, der genau weiß, dass er gerade bei der Premiere durchfällt.

      In diesem Augenblick stieß Mutter Burger, mit Vornamen Dorothea geheißen, zu uns. Das nun folgende Gespräch begann mit meiner zehnstündigen Autofahrt, von der jede einzelne Stunde mindestens eines Satzes würdig war. Dann erfolgte gemäß der von mir geschilderten zweiten Gesprächsart die Suche nach der Gemeinsamkeit, die in der Entdeckung bestand, dass die Burger Familie väterlicherseits eine Tante besaß, die zwar leider nicht zur Hochzeit anreisen konnte, dafür aber in derselben Stadt wohnte, in der auch ich lebte. Die Bemerkung, dass außer mir dort noch gut zwei Millionen Menschen zugange seien, unterdrückte ich. Ob sich dadurch der Kloß in meinem Hals bildete oder ob er entstand, weil nun auch noch der Chef der Burger-Werke nähertrat, weiß ich nicht mehr.

      Ich fand keine Zeit, Ursachenforschung zu betreiben, denn der Gesprächsgegenstand Tante wuchs sich aus, wuchs über Familienumkreis und Heirat, selbstverständlich gutsituiert, bis zur Geburt eines wohlgeratenen Sohnes, wuchs, bis sich diese mir unbekannte Tante vor meinem inneren Auge ins Unermessliche entwickelte, genauso weißlich, dicklich, blässlich wie ihr Bruder. Ich atmete tief durch und empfand sekundenlang, wie diese Frau den Himmel über meiner Geburtsstadt verdunkelte.

      "So was Blödes!“ murmelte ich gegen diese Empfindung an und verspürte plötzlich zum zweiten Male an diesem Tag den Ellenbogen der Hilde Huberti in meiner Seite. Sie hatte dicht neben mir Aufstellung genommen und wurde auf diese Weise auch vom Ehre und Anerkennung spendenden Schatten des Herrn der Burger-Werke, Spinnmaschinen in alle Welt, getroffen.

      Noch nie hatte ich Meierbeer so gemocht wie in dem Augenblick, als er zu uns trat. Wieder glaubte ich das Gezischel vom Loch im Strumpf zu hören. Aber das musste Einbildung sein, denn Meierbeer dröhnte sofort los, wie gelungen er die Feier finde.

      Da gab ich meiner Sehnsucht nach einem gewissen Örtchen nach, um wenigstens die Blase zu entleeren, wenn ich schon meine Gedanken bei mir behalten musste.

      Am Orte meines Strebens stand ein jugendlicher Mensch neben mir. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, bemerkte ich ungehemmt, wie erstaunt ich über die Anwesenheit eines Bürgers unter Dreißig in dieser Gesellschaft sei.

      "Ein paar richtige Freunde hat Ihr Bruder eben doch!“ behauptete er und stellte sich als Klaus Jüngling vor.

      "Konnten Sie ihn denn gar nicht ein bisschen beeinflussen?" fragte ich. “Oder findet die Angelegenheit Ihre Unterstützung?“

      Er verneinte, meinte aber, Christoph sei auf dem Ohr absolut taub gewesen. "Sicher ein verhältnisbedingter Hörsturz!" meinte er. Wieso, wisse er nicht, könne jedoch nicht an die große Liebe der beiden glauben. "Der erste Mensch, der ähnlich denkt!“ freute ich mich.

      "Ich muss mich um meine Freundin und die Freundin meiner Freundin kümmern. Kommen Sie doch mit!“ sagte Jüngling, und ich folge ihm hoffnungsvoll.

      Was ich erblickte, ließ mein Herz höherschlagen. Die beiden Mädchen waren mir auf Anhieb sympathisch, so dass ich mir sogleich ebenso jugendlich vorkam. Die Jüngling-Freundin hatte zweizentimeterlange blonde Streichholzhaare und trug ein freches rotes Kleid, bei dessen Anblick ich meiner Beobachtungsgabe misstraute, weil sie mir bisher noch nicht aufgefallen war.

      Die Freundin der Freundin hielt stolz künstlich produzierte Negerkrause in Rot über ihrem fein geschwungenen Hälschen und ließ ein olivgrünes Flattergewand bei jeder Bewegung wallen. Nach den letzten beiden Tagen hätte ich es nicht mehr für möglich gehalten, dass es hier so etwas gab.

      "Gottseidank!“ sagte ich zur Begrüßung und erklärte anschließend: "Ich bin der Bruder."

      Die Rothaarige sprudelte in dem Tempo los, wie es Locken und Stupsnase vermuten ließen: "Ich bin schwarz hier! Aber ich wollte so eine Superhochzeit unbedingt einmal aus nächster Nähe erleben." "Um davon für alle Zeit geheilt zu sein“ vermutete ich.

      "Klaus hat mich hineingeschmuggelt" fuhr sie fort. "Ich hatte nämlich keine Einladung, obwohl ich Christoph früher mal gut gekannt habe.“

      „Als Baby?" gab ich den Charmeur.

      "Nein, in den ersten beiden Semestern." antwortete sie.

      Ich vermeinte, eine leichte Bitterkeit in ihrer-Stimme festzustellen, als sie hinzufügte: "Aber dann hat er sich ja Besserem zugewandt."

      "So" sagte ich und registrierte zufrieden, dass uns Klaus Jüngling und Freundin verließen. Ich schaffte Sekt herbei und intensivierte meine Forschungen über die Rothaarige an sich und ihr gemeinsames Studium mit meinem Bruder. Dabei entdeckten wir so viele Gemeinsamkeiten, dass ich mich unbedingt mit ihr verabreden wollte. Schließlich braucht der Mensch verständnisvolle Freunde und besonders nach schweren Stunden einen Hauch von Harmonie.

      Als sich der Empfang auflöste und nur zurückbleiben durfte, wer für diesen Abend zum engsten Familienkreis gerechnet wurde, musste ich mich von meiner Entdeckung, Sissy gerufen, trennen. Ich bat sie inständig, in knapp drei Stunden irgendwo meiner zu harren.

      Klaus Jüngling und Freundin, die sich wieder zu uns gesellt hatten, nahmen Sissy die Antwort ab, indem sie mir den Namen von ihrer Stamm-Pizzeria, "La Stalla", nannten.

      Ich versprach, dass ich nach absolvierter Pflichtübung in diesen Stall eilen würde. Der Ellbogenstoß in meine Seite, der an diesem Tage anscheinend zur Gewohnheit wurde, kam diesmal von Bruder Christoph, der seinen Kommilitonen zunickte und mir zuflüsterte, wir hätten uns zu Tisch zu begeben.

      Was jetzt folgte, wäre wenigstens als Gaumenfreude in meine Erinnerung eingegangen, hätte ich nicht bereits zuvor dem Kalten Buffet reichlich zugesprochen auf der Suche nach sinnvoller Betätigung. Das dienstfertige Hotelpersonal hatte in einem mittleren Tagungsraum eine Tafel gerichtet, die uns in gebührender Entfernung voneinander Plätze an den Längsseiten zuwies. Bevor wir uns niederließen, wurde Frau Dorothea Burger intensiv gelobt, da sie die Tischkarten immerhin eigenhändig geschrieben hatte.

      Das Verhältnis der Geladenen stand acht zu vier für die Burgers. Außer Christoph waren von unserer Seite nur noch Hilde Huberti, Diethart Meierbeer und ich zugelassen. Mir fielen die Ehre und der Platz als Tischherr von Rotraut, der ältesten Schwester, zu.

      Es ist auffällig, dass in meinem bisherigen Bericht über den Hochzeitsempfang die Braut Eveline mit keinem Extra-Satz erwähnt wurde. Doch auch wenn ich gerechtigkeitshalber tief in meiner Erinnerung krame, fällt mir nichts Denkwürdiges ein. Eveline sah hübsch aus und verhielt sich demgemäß. Im weißen Festkleid wirkte sie trotz des vorhandenen Umstandes schlank und zart. Die geröteten Wangen harmonierten mit den braunen Locken. Der große volle Mund sah weich, sinnlich, aber überdimensioniert