Katie Volckx

Durchgeknallte Weihnachten


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      »Sehr wahrscheinlich steht er unter Schock«, prognostizierte Emmy. »Die Natur hat es so arrangiert, dass Schmerz für den Körper Gefahr bedeutet. Um sich in Sicherheit bringen zu können, schaltet der Körper den Schmerz zunächst aus.«

      Verblüfft glotzten Hannes und ich zuerst einander, dann Emmy an. Nicht, dass wir heute zum ersten Mal von diesem Phänomen gehört hätten, es lag nur an ihrer trockenen, leicht doktorenartigen Sprechweise, bei der wir uns fragten, woher diese so plötzlich kam. Außerdem schien es sie völlig kalt zu lassen, dass es sich um ihren Ehemann handelte, dessen Hand immer mehr nach irgendeinem undefinierbaren Kadaver aus der wilden Natur aussah.

      »Auch beim Sex schüttet der Körper schmerzstillende Opiate aus. In Extremsituationen ist der Körper also quasi sein eigener Arzt und schützt sich ein Stück weit selbst«, war Emmy noch nicht fertig mit ihrem Vortrag.

      Es wunderte mich nicht nur, wie sie in einer solchen Situation in der Lage war, an Sex zu denken, auch, dass Sex eine Extremsituation für Emmy darstellte. Oder interpretierte ich das gerade nur falsch?

      Unauffällig inspizierte ich Hannes' Profil.

      Auf jeden Fall war er ein Sympathieträger, um den es mir ein wenig leidtat. Andererseits betrachtete ich ihn aus der unbeteiligten, eher freundschaftlichen Perspektive. Wie fühlte es sich wohl an, seine Ehefrau zu sein? Andersrum gesehen hatte Emmy nicht ihn, sondern das viel zu routinierte Leben bemängelt. Möglicherweise zuckte doch noch ein kleines, leises Flämmchen Liebe in irgendeiner Ecke ihres Herzens und möglicherweise galt es, dieses wieder vollständig emporschlagen zu lassen.

      Ich schien zwar nicht sehr viel von der Liebe zu verstehen, nachdem gerade erst meine eigene Beziehung mit Matz gescheitert war, trotzdem wollte ich nicht zulassen, dass Hannes und Emmy ihre Ehe an den Nagel hängten, ohne alles dafür getan zu haben, sie zu retten.

      »Der Schock, ja«, murmelte Hannes.

      Nachdem Hannes klar und beherrscht genug war, um sich ins Auto zu setzen, und Emmy sich bei mir mit den Worten: »Lass uns morgen Abend ausgehen« verabschiedet hatte, hatte ich mich daran gemacht, sorgfältig nachzusehen, was von meinem Eigentum Matz sich unter den Nagel gerissen hatte. Es stand außer Zweifel, falls etwas von meinen Sachen fehlte, dann nicht, weil Santa Claus (ich weigerte mich, ihn weiterhin Einbrecher oder derartiges zu nennen) es mitgenommen hatte, denn als er mich umgerannt hatte, sah er kein bisschen verbeult aus. Und seine Hände waren ebenso frei gewesen.

      Ich stimmte Emmy zu: es war kaum vorstellbar, dass Matz sich so ohne Weiteres in die Wüste hatte schicken lassen. Doch allen Anschein nach hatten wir uns mächtig geirrt.

      Erst am Ende meines Kontrollgangs hatte ich den handgeschriebenen DIN A4-Zettel auf einem Stapel Modezeitschriften auf dem Esstisch im Wohnzimmer entdeckt. Wer hätte gedacht, dass Matz sich dazu bereitfand, mir einen Abschiedsbrief zu schreiben? Im ersten Moment war ich bestürzt über dessen Inhalt, doch im nächsten wurde mir klar, dass sich nur bewahrheitete, was schon lange im Raum gestanden hatte.

       Geliebte Leonie, erst wollte ich Front machen gegen deine Entscheidung, ab sofort getrennte Wege zu gehen, doch je mehr Zeit ich zum Nachdenken hatte, desto mehr wurde mir bewusst, dass die Trennung mehr als gerechtfertigt ist, nachdem mein Verhalten dir gegenüber so schäbig war. Ja, ich habe schon lange kapiert, dass unser Zusammenleben von Tag zu Tag lausiger wurde, was, zugegeben, hauptsächlich an mir lag. Ich brauche nun einmal meine Freiheit! Das ist aber nicht der Grund, aus dem ich vor drei Monaten Sex mit einer anderen Frau hatte. Ich weiß, dass du es schon lange geahnt hast. Aus irgendeinem Grund hast du mich mit deinem Verdacht nie konfrontiert. Und ich habe mich gefragt, warum wohl? Für mich gibt es nur eine einzige Erklärung dafür: auch du hast mich schon lange nicht mehr aufrichtig geliebt.

       Viel Glück, Matz.

      Also irrte ich nicht und er hatte mich wirklich betrogen!

      Ich rief mir die Punkte, die mich stets hatten zweifeln lassen, ins Gedächtnis zurück:

      1) Der nächtliche Anruf, in dem er mir mitgeteilt hatte, dass er die Nacht nicht nach Hause kommen und bei Etienne pennen würde, ich aber im Hintergrund klar und deutlich eine Frauenstimme hatte hören können, die Matz aufgefordert hatte, sich endlich dieses »kontrollsüchtige Muttchen« vom Halse zu schaffen.

      2) Der Duft eines unbekannten, femininen Parfums an seinem Hemd, der so penetrant war, dass ich ihn lange nicht mehr aus den Nasengängen bekommen hatte.

      3) Und diese spezielle Heiterkeit, die er jedes Mal nach dem Sex hatte, hatte er am nächsten Morgen mit nach Hause gebracht.

      Ich hatte für all das Erklärungen gesucht und sie im Prinzip auch gefunden:

      1) Die Schnepfe mochte vielleicht unverschämt gewesen sein, konnte aber genauso gut eine Liebelei von Etienne gewesen sein, die er in der Diskothek aufgegabelt hatte.

      2) In Diskotheken befanden sich wohl oder übel auch andere Frauen, und wenn er mit der ein oder anderen das Tanzbein geschwungen hatte, war das noch lange nicht moralisch verwerflich – allenfalls taktlos, aber bei weitem nicht als treubrüchig zu werten.

      3) Das Anzeichen war zwar sehr charakteristisch für ihn, aber eben auch nur, wenn es sich um unseren Beischlaf gehandelt hatte.

      Mir hatten also die eindeutigen Beweise gefehlt. Und solange ich diese nicht hatte, mochte ich Matz nicht darauf ansprechen. Ich war davon ausgegangen, dass er mir von sich aus niemals die Wahrheit erzählt hätte. Das, und kein anderer, war der Grund, aus dem ich ihn zu keiner Zeit meinem Zweifel gegenübergestellt hatte.

      Nun hatte jedoch all das an Relevanz verloren. Schließlich waren wir seit gestern Abend kein Paar mehr. Die Tatsache, dass unsere Beziehung auch ohne dieses Geständnis und aus ganz anderen Gründen in die Brüche gegangen war, stand für mich an oberster Stelle.

      Und doch verfolgte mich eine dringende Frage: Wer war dieses dreckige Flittchen?

      Eine halbe Stunde später hatte Emmy noch eine ganz andere Frage dazu: »Warum hat er das überhaupt erwähnt?« Dann hörte ich sie am anderen Ende der Leitung knuspern und schmatzen. »Ich meine, es wirkt auf mich gar provokant, weißt du? Er hätte es einfach dabei belassen können, stattdessen würgt er dir zum krönenden Abschluss lieber noch eins rein und lässt dich dazu mit der Frage zurück: Mit wem und warum?«

      »Ja, jetzt wo du das sagst.« Vielleicht wäre ich da später auch noch von selbst drauf gekommen ... Na ja, eher nicht.

      »Ich glaube sogar, das ist seine Rache an dir.«

      Ich hielt den Hörer ein Stück von meinem Ohr weg. »Was für eine alberne Rache.«

      »Er scheint dich gut genug zu kennen, um zu wissen, dass es in dir mehr auslöst als du jetzt zugeben willst.« Ununterbrochen war sie am Knuspern und Schmatzen.

      »Kommt mein Anruf irgendwie ungelegen?«, hielt ich es nicht mehr aus.

      Abrupt hielt sie mit allen Geräuschen, die sie machte, inne. »Nein, wieso?«

      »Bist du beim Mittagessen?«

      »Nein, am Knabbern. Stört dich das?« Daraufhin konnte ich ein Knistern vernehmen, das man verursachte, wenn man eine Tüte zum Schließen mit beiden Händen aufrollte.

      »Eigentlich nicht, wenn dein Mund nicht gewissermaßen direkt an meinem Ohr läge«, erklärte ich kichernd.

      »Es ist nur, ich habe einen Bärenhunger, habe aber lediglich diese Kartoffelchips in meiner Handtasche finden können.«

      Okay, jetzt war ich etwas verwirrt. Also, wenn man meine Handtasche durchstöberte, waren das einzig oral Konsumierbare, das man darin fand, Hustenbonbons, Kaugummis, Schmerzmittel, Kautabletten gegen Sodbrennen und im Bedarfsfall etwas Gesundes wie ein Apfel oder eine Banane – zur Weihnachtszeit auch gern eine Clementine. (Sollte ich den Lippenpflegestift mit Erdbeergeschmack erwähnen?) Allerdings suchte man in meiner Tasche vergebens nach Chips.

      »Ich verstehe«, gab ich vor, weil mir schwante, dass es kompliziert werden würde.