Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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den Lars liebevoll Signor Carbonara nannte. Ein sehr nachvollziehbarer Spitzname, da der Italiener gefühlte zweihundert Kilogramm wog und Pastagerichte sowie sahnige Saucen über alles liebte – dementsprechend mächtig war sein Bauchumfang.

      Obwohl den fülligen, liebenswerten Mittfünfziger beinahe nichts aus der Ruhe bringen konnte, hielt ihn Lars mit seinem fahrigen und flatterhaften Wesen ständig auf Trab und schaffte es immer wieder, dass dieser das Kreuz schlug und ein Stoßgebet gegen den Himmel sandte.

      »Oddio! Salva questa povera anima!«

      »Der da oben kann dir nicht helfen, Signor Carbonara«, wies ihn Lars in solchen Moment schalkhaft zurecht. »Du musst das Problem schon selber in die Hand nehmen.«

      »Welch frevelhafte Worte, mio figlio«, flüsterte Sergio darauf ehrfürchtig, zog den Kopf ein und schlug erneut das Kreuz. »Auf Gott können wir uns immer verlassen. Du solltest ihm etwas mehr Respekt entgegenbringen!«

      »Ach, Papa Carbonara, du weißt, ich hab’s nicht so mit der Religion. So häufig, wie du betest, das reicht locker für uns beide.«

      In der Tat schloss Sergio Carbotti Lars van Loon nicht nur in seine Gebete ein, manchmal, wenn sein Schützling einmal mehr kopflos durch die Welt irrte, hatte er auch das Gefühl, für beide denken zu müssen. Auf der anderen Seite hatte er aber absolut nichts dagegen, wenn er für beide essen durfte – was nicht selten vorkam, wenn bei Lars nämlich der Hunger plötzlich verflogen war und er von seinem Teller fast gar nichts anrührte.

      Sergio führte sorgfältig Lars’ Agenda, koordinierte Konzerte, Proben und Termin, arrangierte die Reisen und war ständig bemüht, über den aktuellen Aufenthaltsort des Musikers informiert zu sein, um ihn jeweils pünktlich an den richtigen Ort zu leiten. Eine Sisyphusarbeit, da dieser den Akku seines Handys ständig aufzuladen vergaß, wenn er in die Welt der Musik versank, und somit für seinen Manager nicht zu erreichen war.

      Manchmal wusste Lars van Loon in seinen geistigen Verwirrungen selber gar nicht genau, wo er sich eigentlich befand.

      So auch an diesem Morgen.

      Das Erste, was Lars beim Öffnen seiner Augen wahrnahm, hing an der weiß getünchten Wand gegenüber und war eine lineare Engelszeichnung von Paul Klee. Außerdem wurde er von den Sonnenstrahlen, die auf seinem Gesicht herumtänzelten, empfindlich geblendet, sodass er den Kopf ins Kissen zurücksinken ließ und mit stark zitternden Händen vor den Augen sämtliche optischen Sinneseindrücke wieder von seinem Bewusstsein aussperrte.

      Dann wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, wo er sich eigentlich befand, und gleichzeitig war er erstaunt über seine rasche Auffassungsgabe, mit der er das Bild, das nur aus wenigen Linien bestand und eigentlich den Charakter einer Skizze hatte, erkennen und dessen Urheber eindeutig zuordnen konnte.

      Er spreizte seine Finger ein wenig und blinzelte mit halb geschlossenen Lidern nervös durch die daraus entstandenen Zwischenräume. Da hing immer noch der Engel an der Wand, und Lars erinnerte sich, dass er Klees Bilderserie nie gemocht und sie als Kinderzeichnungen verschrien hatte. Außerdem hasste er Engel!

      Die Sonne schien immer noch unerbittlich in den Raum und hatte sich als Zielscheibe zweifelsohne sein Gesicht ausgesucht.

      Das musste geändert werden – Jalousie runter, Engel weg!

      Lars wollte sich aus dem Bett erheben, doch es gelang ihm nicht. Verwundert betrachtete er seine Bettdecke und stellte fest, dass sie mit der Matratze verbunden und dass darin, längs über seinen Körper, ein Reißverschluss angebracht war, sodass er am Aufstehen gehindert wurde. Durch zwei Öffnungen waren seine Arme nach draußen gelangt, doch dem Rest des Körpers blieb die Freiheit verwehrt. Die Einrichtung erinnerte ihn stark an eine Zwangsjacke, und er versuchte verzweifelt, den Reißverschluss nach unten zu ziehen. Ohne Erfolg. Es gelang ihm nicht, den kleinen Schlitten mit Daumen und Zeigfinger zu ergreifen; seine Hand zitterte zu stark.

      Jetzt erst sah er sich etwas genauer in dem Raum um, in dem er aufgewacht war und in dem er sich seines Wissens nach noch nie zuvor aufgehalten hatte. Er erinnerte ihn stark an ein Krankenzimmer, allerdings fehlten die dazu notwendigen Apparaturen. Aber zum Bettgestell, er drehte seinen Kopf verzweifelt nach links und rechts, gehörte ein zaunartiges Gebilde, über welches er klettern müsste, wenn er aus dem Bett steigen wollte.

      Er hob seinen Oberkörper, soweit es ging, und versuchte erneut mit verzweifelter Kraft, sich zu befreien. Seine Aufregung war zu groß, um sich des feinen Reißverschlusses wieder anzunehmen, und so krallte er seine Finger in die Decke hinein und versuchte mit aller Kraft, sie entzwei zu reißen.

      Auch dieser Versuch misslang.

      Er betrachtete das schlichte Nachttischchen aus weißem Holzfurnier, das von ihm aus gesehen rechts vom Bett stand. Doch außer einer Leselampe und einem Plastikbecher, der wahrscheinlich mit Wasser gefüllt war, befand sich nichts auf der matt schimmernden Tischfläche.

      Er ließ sich ins Bett zurücksinken und blickte zur Decke. Wo war er bloß? Und dann tauchte noch eine zweite Frage auf, über die er bisher völlig hinweggesehen hatte: Wie war er hierhergekommen? Er kramte in seinem Gedächtnis nach den letzten Erinnerungen. Da war eine Orchesterprobe gewesen. Ravel oder Debussy – etwas Impressionistisches auf jeden Fall. Und die Musiker waren zu wenig auf seine Ideen eingestiegen. Daran vermochte er sich zu erinnern, denn er war ziemlich aufgebracht gewesen und hatte ihnen mit klaren und deutlichen Worten zu verstehen gegeben, was er von ihrer Leistungsbereitschaft hielt.

      Aber war das wirklich erst gestern gewesen? Es kam ihm vor, als ob diese Probe viel länger her wäre. An etwas anderes vermochte er sich jedoch im Moment nicht zu erinnern.

      Erneut fiel sein Blick auf die gegenüberliegende Wand, und nun hatte er den Eindruck, dass der Engel ihn mit mitleidiger Miene auslachte. Die wenigen Linien waren in Bewegung geraten, sodass die Figur plötzlich animiert wirkte. So schlicht und einfach sie dargestellt war, plötzlich vermochte sie ganz einfache Gefühle auszudrücken. Lars kniff die Augen zusammen und versuchte, seinen Blick zu schärfen. Das bildete er sich doch bloß ein!

      Er fühlte, wie er von einer ohnmächtigen Wut übermannt wurde, die bei ihm ungeheure Kraftreserven mobilisierte. Laut schreiend zerrte er an der Bettdecke, wälzte seinen Körper zur Seite, zog die Beine an, so gut es ging, und versuchte, sich irgendwie aus seiner Gefangenschaft zu befreien.

      Keine Chance.

      So blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Hilferufe zu intensivieren und zu hoffen, dass sie irgendwo auf Gehör stoßen würden. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die Tür mit einer ruckartigen Bewegung aufgestoßen wurde und eine kleine, stark untersetzte und kräftig wirkende Frau in einer weißen Jacke eintrat und ihn mit stechendem Blicken musterte.

      Lars war von der Erscheinung so überrascht, dass er das Schreien komplett vergaß und sich wieder ins Kissen zurücksinken ließ. Die Frau näherte sich dem Bett mit energischen Schritten und blieb daneben stehen. Ohne ein Wort griff sie nach seinem Handgelenk und fühlte den Puls.

      »Herr van Loon, wie geht es Ihnen?«

      Er schaute in ein rundes, faltiges Gesicht und starrte wie hypnotisiert auf die gewaltige Warze, die sich auf der rechten Wange erhob und die der mächtigen und dicken Brille eine zusätzliche Stütze zu bieten schien. Die fleischigen Lippen, die knollige Nase und die dichten Augenbrauen ließen auf eine osmanische Abstammung schließen. Dann ging sein Blick nach unten, und er entdeckte auf Hüfthöhe einen Clip mit Schriftzug, doch die kleinen Buchstaben machten es ihm unmöglich, den Namen zu entziffern.

      Die Frau legte mit einer beinahe zärtlichen Geste, die er ihr überhaupt nicht zugetraut hatte, seinen Arm wieder auf die Bettdecke zurück und nickte zufrieden.

      »Es scheint Ihnen deutlich besser zu gehen als letzte Nacht, Herr van Loon. Ich bin Schwester Hanife.«

      Im Nu hatte sie den Reißverschluss nach unten gezogen, die beiden Seitengitter nach unten geklappt, und ehe Lars es sich versah, hatte sie ihn mit sicherem Griff aufgesetzt und auf die Bettkante gezogen, sodass seine Beine hinabbaumelten.

      Sie drückte