Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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und Gregor vergötterten ihren Opa und verfolgten schon von klein auf die sorgfältige Pflege, welche dieser seinem Liebling zukommen ließ.

      »Er ist hochintelligent«, dozierte der Alte jeweils mit ernster Miene, wenn die Rede auf das Hausschwein kam, »wie die meisten Schweine übrigens. Churchill ist klüger als unsere Katzen und der Hund zusammen und ist zudem ein unverbesserlicher Optimist!«

      Und wenn er in die zweifelnden Gesichter der Zuhörer blickte, so befahl er sie in die Scheune, wo er ihnen voller Stolz seinen Liebling präsentierte und ihn ein paar Kunststücke vorführen ließ. Zum Beispiel apportierte der Eber mit großer Leidenschaft seinen Lieblingsball oder setzte sich auf Kommando hin.

      Churchill war Willys Lebensinhalt – neben seinen beiden Enkeln natürlich, und wenn er sich nicht gerade um das Schwein kümmerte oder mit den Jungs spielte, so verfolgte er aufmerksam das Weltgeschehen. Stundenlang konnte er am Küchentisch sitzen, eine Schale mit Kaffee vor sich, den er jedoch erst zu trinken begann, wenn sich auf der Oberfläche eine Milchhaut gebildet hatte. Dies rief bei den Zwillingen jeweils so mächtigen Ekel hervor, dass sie laut schreiend aus der Küche stürmten. Dazu las er die Tageszeitung Wort für Wort und unterließ es dabei nicht, zu jedem Artikel seinen Kommentar abzugeben (egal, ob sich jemand in der Küche befand oder ob er ganz alleine war).

      »Das ist doch unglaublich! Unser Bundeskanzler trifft den Honecker in Helsinki. Was er diesem Verbrecher wohl zu sagen hat? Er wird sich doch nicht etwa gar mit ihm verbrüdern wollen?«

      Auch beim Fußball hielt er mit seiner Meinung nicht hinter dem Zaun:

      »Es wird endlich Zeit, dass unsere Buben« (damit meinte er natürlich den FC Bayern) »den Drecksborussen wieder mal den Rang ablaufen. Na, der Gerd und der Franzl werden’s schon richten!« Zu seinem großen Ärger sollte die Borussia aus Mönchengladbach allerdings auch die nächsten beiden Meisterschaften gewinnen, da konnten auch Willys Lieblingsspieler Müller und Beckenbauer nichts dagegen ausrichten.

      Zusätzlich zum Zeitungsstudium spazierte er fast jeden Abend zu seinen Nachbarn, den Richters, um gemeinsam mit ihnen die Tagesschau zu verfolgen. Tochter Astrid und Schwiegersohn Claas weigerten sich standhaft, ein Fernsehgerät anzuschaffen, was beinahe täglich zu hitzigen Diskussionen im Hause van Loon führte. Der knapp viertelstündige Spaziergang, den Willy unter die Füße nehmen musste, wurde von den Richters jeweils mit einem erstklassigen Sofaplatz und einem gscheiten Weizen belohnt. Der Besuch war nach der Tagesschau natürlich noch nicht beendet, da die Nachrichten reichlich Stoff für Diskussionen lieferten (und da das Bier noch in aller Ruhe ausgetrunken werden musste).

      Manchmal wurde auch noch ein zweites oder gar drittes Bier vertilgt. Opa Willys Zustand am darauffolgenden Tag war folglich meistens verkatert und seine Laune dementsprechend – das musste sogar Churchill leidvoll erfahren – dann nämlich, wenn die Fütterung nicht termingerecht vonstatten ging und der Geruch im Stall etwas streng wurde.

      Als nun im August 1975 der kleine Lars vier Jahre alt war und seinen Großvater und Churchill im Stall besuchte, blieb er plötzlich mitten im Raum stehen und lauschte aufmerksam den Klängen, mit welchen der Schuppen ständig beschallt wurde, die er aber bisher gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Opa Willy hatte seine Musikanlage in der alten Scheune aufgebaut und den Lautsprecher gegen Churchills Wohnzimmer ausgerichtet. So nannte er die Ecke, die er für das Schwein mit Stroh eingerichtet hatte. Aufopfernd hatte er aus seiner riesigen Schallplattensammlung mit klassischer Musik ausgewählte Werke auf Kassetten überspielt (»Ich kann meinen Platten die Kälte und Feuchtigkeit im Stall nicht zumuten!«) und spielte die Tonträger tagsüber ohne Unterbruch rauf und runter.

      Wenn sich dabei jemand über Willys außergewöhnlichen Musikgeschmack wunderte, der so gar nicht zur volkstümlichen und skurrilen Erscheinung des Alten passen wollte, so zuckte dieser mit provozierender Gleichgültigkeit mit den Schultern und holte anschließend zu einem gewaltigen Loblied auf die klassische Musik aus.

      »Und außerdem« präzisierte er dabei, auf Churchill deutend, »muss ich auch Rücksicht auf meinen kleinen Freund hier nehmen. Er ist ein riesiger Musikliebhaber. Vor allem Mozart und Beethoven gehören zu seinen Favoriten. Brahms findet er grenzwertig, und Wagner ist ihm zu pompös und schwülstig.«

      Nun stand also sein Enkel Lars vor ihm und lauschte aufmerksam der musikalischen Untermalung im Saustall. Es war, als hätte sich bei Lars eine Tür geöffnet, von deren Existenz er bisher gar nichts gewusst hatte. Die Klänge ließen seinen Körper erzittern und breiteten sich in ihm mit einem wohligen Schaudern bis in die Fingerspitzen aus.

      »Was hast du denn, mein Kleiner«, fragte der Alte, der nicht begriff, weshalb der Bub bewegungslos und mit offenem Mund stehengeblieben war.

      Mit großen Augen blickte Lars seinen Großvater an, der sich zu ihm herunter bückte und ihn aufmerksam musterte. Der Geruch von Zwiebeln, Knoblauch und Tabak schlug ihm entgegen, die unverkennbare Duftmarke von Opa Willy. Äußerlichkeiten waren dem Alten unwichtig, seine Standardkleidung bestand aus einem Paar verfilzter Cordhosen, die unter seinem mächtigen Bauch bloß dank den Hosenträgern nicht die dünnen Beine runterrutschten. Im Sommer trug er dazu nur ein geripptes Unterhemd, dessen Verfärbung Rückschlüsse auf das Alter des Kleidungsstückes zuließen. Wenn es kälter wurde, zog er sich ein dickes, kariertes Baumwollhemd über, und wenn die Temperaturen ins Bodenlose sanken, griff er nach seinem alten Militärmantel, ein Relikt aus seiner aktiven Dienstzeit, ebenso wie die schweren Schuhe, das einzige Paar, das er besaß. Er zog es aber nur dann an, wenn seine Zehen kurz vor dem Erfrieren waren, was relativ selten vorkam, sodass man ihn meistens barfuß antreffen konnte, selbst dann, wenn er sich für wichtige Besorgungen ins nahe gelegene Dorf begab.

      »Musik«, brachte der kleine Lars hervor und verfiel augenblicklich wieder den Klängen, die das alte Gemäuer in eine verträumte Stimmung tauchten und die Zeit aufzuheben schienen.

      »Ach so.« Opa Willy nickte zufrieden und schenkte seinem Enkel ein zahnloses Lächeln. Ächzend erhob er sich wieder und lauschte selber ein paar Augenblicke den Klängen. »Das ist Mozart. Churchill schwört darauf und ist ganz verrückt danach.«

      Als ob er die Worte verstanden hätte, ließ der Eber ein zustimmendes Grunzen ertönen und furzte anschließend genüsslich. Opa Willy klagte häufig über Verdauungsprobleme seines Lieblings und fachsimpelte leidenschaftlich mit seinem Freund Doktor Jansen, dem Tierarzt von Eichhausen, über die möglichen Ursachen der Blähungen und den damit verbundenen Konsequenzen auf die ideale Futtermischung.

      »Ozat«, echote der kleine Lars und strahlte über das ganze Gesicht.

      »Mmmoooozaaarrrrrrrt«, korrigierte ihn der Alte. »Wolfgang Amadeus. Das größte Genie, das diese Welt jemals gesehen hat!«

      »Mozahr«, flüsterte Lars und lauschte weiterhin dem langsamen Satz des Klarinettenkonzerts, der gerade in seiner ganzen Schönheit aus dem Lautsprecher strömte und dessen Wirkung auch von Churchills Gefurze nicht beeinträchtigt werden konnte.

      »Jaja, von mir aus«, lenkte Opa Willy ein. Er wusste, dass Lars verhältnismäßig spät mit Sprechen begonnen hatte, ganz anders als sein Zwillingsbruder Gregor, und noch häufig Mühe mit der korrekten Aussprache bekundete. »Gefällt es dir?«

      Der Kleine nickte eifrig und horchte weiterhin mit gespitzten Ohren den Melodien und Harmonien, die er soeben zum ersten Mal so richtig wahrgenommen hatte und die ihn in einen Zustand völliger Glückseligkeit versetzten.

      Opa Willy strich ihm durchs dunkle, gelockte Haar und tätschelte dann liebevoll Churchills Flanke, worauf das Schwein ein langgezogenes Quieken erschallen ließ. Lars zuckte zusammen und verlor die Fokussierung auf die Musik für einen Moment.

      »Hat Schwein Schmerzen?«, fragte er ängstlich, doch sein Großvater konnte ihn mit einer abwinkenden Geste beruhigen.

      »Nein, mein Kleiner. Er zeigt damit bloß seine Begeisterung für Mozart.«

      »Ozat«, wiederholte Lars und klatschte entzückt in die Hände.

      Opa Willy seufzte, holte seine Pfeife hervor und stopfte sie mit Tabak, dessen Geruch die beiden Zwillinge so sehr mochten, solange er nicht