Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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in den Sessel zurück. Mit lauerndem Blick musterte er den Arzt.

      »Ist dies das übliche Prozedere bei Ihnen? Man startet ganz harmlos in der Kindheit und tastet sich dann langsam an die Neurosen und Phobien der Patienten ran?«

      »Nun, Herr van Loon, ich hatte nicht den Eindruck, dass ich Sie zu irgendetwas gezwungen hätte. Sie haben aus freien Stücken erzählt, und, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie haben dies auf eine sehr lebendige und anregende Weise getan.« Nachdenklich nahm er einen Schluck Wasser. »Aber ich denke, das ist nun genug für heute. Wir werden morgen noch genug Zeit finden, um weiter in ihr Leben vorzudringen.«

      »Morgen?« Lars schoss aus dem Stuhl empor und stemmte die Arme in die Hüfte. Plötzlich war ihm wieder bewusst geworden, wo er sich überhaupt befand und dass sein oberstes Ziel darin bestand, so rasch wie möglich hinaus zu gelangen und nach Hause zu kommen. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, Herr Fleischwolf.«

      »Fleischhauer«, korrigierte ihn der Arzt, ohne eine Miene zu verziehen, und parierte den wild flackernden Blick des Musikers. »Sie brauchen im Moment sehr viel Ruhe, Herr van Loon. Und wenn Sie schon mal hier sind, so wollen wir doch die Gelegenheit nutzen und Sie gründlich untersuchen.«

      Die Nennung des Namens hatte Lars bereits wieder von seiner Situation abgelenkt; kichernd setzte er sich in den Stuhl zurück. »Fleischhauer, richtig. Der vegane Fleischhauer. Was für ein Witz!«

      Der Arzt wartete geduldig, bis Lars sich beruhigt hatte und wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als dieser ihm zuvorkam:

      »Nun denn, Doktor. Quid pro quo. Ich habe meine Kindheit vor Ihnen ausgebreitet, und nun wären Sie an der Reihe. Erzählen Sie mal: Was soll das alles? Weshalb bin ich hier, und was haben Sie mit mir vor?«

      Doktor Fleischhauer dachte einen Augenblick angestrengt nach, dann schob er sich die Brille auf die Nase zurück und beugte sich vor. In diesem Moment vibrierte das Handy in seiner Jackentasche. Er holte das Gerät hervor, hob den Finger und nickte Lars zu:

      »Gleich, Herr van Loon. Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment. Das ist wichtig.«

      Er erhob sich aus dem Stuhl, nahm das Gespräch mit einem auffordernden und gedehnten »Ja« entgegen und trat ans Fenster, wo er in die Landschaft hinausblickte, über die sich inzwischen völlige Dunkelheit gelegt hatte. Ohne eine weitere Entgegnung lauschte er der Stimme, meinte schließlich »In Ordnung« und beendete das Gespräch. Mit einem Lächeln im Gesicht setzte er sich wieder zu Lars zurück und ließ das Handy in sein Jackett zurückgleiten.

      »Ich stimme Ihnen völlig zu, Herr van Loon. Natürlich haben Sie das Recht zu erfahren, weshalb man Sie hierhergebracht hat.« Er griff nach dem Klemmbrett und trommelte einen kurzen Moment lang mit den Fingern darauf herum. »Aber ich denke, es gibt da jemanden, der Ihnen die Lage besser schildern kann als ich und dem Sie wahrscheinlich auch mehr Vertrauen entgegenbringen, als Sie es mir gegenüber tun.« Mit einer Kunstpause versuchte er herauszufinden, welche Wirkung seine Worte auf sein Gegenüber auszulösen vermochten. Als er keine Reaktion feststellen konnte, seufzte er und fuhr fort: »Herr Carbotti ist soeben in der Klinik eingetroffen. Er hat darauf bestanden, dass wir ihn sofort verständigen, wenn Sie wieder aufgewacht sind.«

      »Papa Carbonara ist hier?« Lars’ Gesicht hellte sich auf. »Der kommt mich bestimmt abholen. Auf den Signor ist eben Verlass!«

      Doktor Fleischhauer runzelte die Stirn.

      »Soweit ich verstanden habe, ist Herr Carbotti Ihr Manager. Ihre Beziehung scheint aber weit über ein normales Arbeitsverhältnis hinaus zu gehen.«

      Lars war aufgesprungen. »Das sehen Sie völlig richtig, Doktor. Er ist so was wie mein Kindermädchen. Ohne ihn bin ich manchmal komplett aufgeschmissen.« Dann verflog plötzlich seine Aufregung, und mit einem Anflug von Zärtlichkeit fügt er hinzu: »Und er ist ein sehr guter Freund. Mein einziger Freund.«

      Der wehmütige Unterton in Larsʼ Stimme berührte den Arzt auf merkwürdige Weise. Doch bevor er etwas sagen konnte, war dieser spezielle Moment bereits wieder entschwunden, die Stimmung gekippt. Lars fuhr ungeduldig fort:

      »Wann kann ich Ihn sehen?«

      »Setzten Sie sich doch bitte wieder, Herr van Loon.« Fleischhauers Stimme war ruhig, aber bestimmt. »Schwester Hanife wird Sie abholen und in Ihr Zimmer führen. Ihr Manager wartet dort auf Sie.«

      »Niemals!« Völlig aufgedreht tänzelte Lars vor dem Arzt auf und ab. »Ich gehe nicht zurück zu diesem Engelbild. Ich kann Engel nicht ausstehen – und diese Klee-Zeichnungen erst recht nicht!«

      Fleischhauer schüttelte verwirrt den Kopf und machte mit den Händen eine beruhigende Geste.

      »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Aber ich kann Sie insofern beruhigen, als dass wir Sie nicht auf die Station zurückbringen. Es besteht kein Grund mehr zur Sorge und zur Beobachtung. So haben wir ein hübsches Zimmer für Sie ausgesucht. Sie werden sich sehr wohl darin fühlen.«

      Lars stützte sich mit beiden Armen auf die Stuhllehne. »Ich fürchte ebenfalls, dass Sie nicht ganz verstehen. Papa Carbonara kommt mich abholen. Ich gehe wieder nach Hause. Jetzt gleich. Daran können auch Sie mich nicht hindern!«

      »Ich halte das nicht für eine gute Idee.« Der Arzt lehnte sich zurück und schlug ein Bein über das andere. »Ich denke, es ist das Beste, wenn Sie einmal ungestört mit Ihrem Manager sprechen. Danach können wir weiterschauen.«

      In dem Moment klopfte es an die Türe, und Schwester Hanife erschien im Türspalt. Lars erkannte von weitem die gewaltige Warze in ihrem Gesicht.

      »Bin ich zu früh?«

      »Sie kommen genau richtig, Frau Turan.« Doktor Fleischhauer war aufgestanden und machte einen Schritt Richtung Tür. »Herr van Loon und ich haben sehr ausführlich miteinander gesprochen. Ich denke, er braucht jetzt Ruhe. Er wird ziemlich erschöpft sein.«

      »Bin ich nicht!«, widersprach Lars energisch.

      »Bringen Sie ihn auf sein Zimmer.« Der Arzt schob Lars’ Einwand beiseite. »Ist Herr Carbotti bereits dort?«

      »Alles, wie Sie es gewünscht haben.« Die Schwester nickte.

      »Bitte achten Sie darauf, dass er nicht zu lange bei unserem Patienten bleibt. Wie bereits gesagt: Herr van Loon braucht nun Ruhe und Erholung.«

      »Werde ich eigentlich auch mal um meine Meinung gefragt?« Lars hatte seinen Protest energisch vorbringen wollen, doch er merkte selbst, wie matt er klang.

      Schwester Hanife trat neben ihn und nickte ihm aufmunternd zu.

      »Kommen Sie, Herr van Loon. Wir wollen Ihren Besuch doch nicht warten lassen.«

      Fasziniert und zugleich voller Abscheu starrte Lars auf die Warze. Am liebsten hätte er der Schwester ins Gesicht gegriffen und über die dunkle Erhebung gestrichen. Er wollte sie berühren, fühlen, an ihr drehen und sie damit wie eine Schraube aus der Wange entfernen.

      »Herr van Loon?« Schwester Hanife hob ihre Stimme etwas an. »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe? Wollen wir dann gehen?«

      Lars merkte, wie seine Finger sich in die Stuhllehne gekrallt hatten. Er entspannte sich, bedachte Doktor Fleischhauer mit einem fragenden Blick, den dieser mit einem aufmunternden Zunicken erwiderte, und schloss sich schließlich der Schwester an.

      »Machen Sie sich keine Sorgen«, hörte er die Stimme des Arztes im Rücken. »Wir sehen uns morgen, dann können wir weiterreden.«

      Lars war zu erschöpft, um Widerspruch zu leisten. Die Energie, die sich während seiner Erzählung in ihm aufgestaut hatte, war verflogen, und er fühlte sich enorm müde.

      Einmal darüber schlafen, dachte er sich. Morgen sieht alles besser aus.

      Mit einem tiefen Seufzer ließ er die Stuhllehne los und dehnte den Rücken. Sein Blick schweifte nochmals durch das Büro, als ob es gelte, für immer Abschied zu nehmen. Dann nickte er dem Arzt zu und schloss sich ohne ein weiteres Wort Schwester Hanife an, die ihn mit einem aufmunternden