Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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von keinem der Drei besonders geschätzt oder gewürdigt wird. Die beiden Kleinen schreien lauthals, und die Mutter geht mit gesenktem Blick an mir vorbei.

      Kopfschüttelnd schaue ich ihnen nach und fange noch ein paar schimpfende Worte der Frau auf, mit denen sie ihre Kinder zur Räson mahnen will und die ihre Wirkung bei weitem verfehlen.

      Nein, das soll nicht der letzte Eindruck gewesen sein, den ich von der Münsterplattform in mir festhalte, bevor ich in die Altstadt zurückkehre! Ich wende mich nochmals dem herrlichen Anblick zu, den ich am liebsten für immer in meine Netzhaut einbrennen würde. Dann ist’s auch für mich Zeit, und ich schlendere durch die Kreuzgasse zum Rathausplatz, wo ich links in die Postgasse einbiege, meinem Ziel entgegen.

      Unterwegs begegne ich dem Schorsch mit seinem Schäferhund. Er hat ein blaues Auge und eine geschwollene Lippe. Wahrscheinlich hat er sich wieder wegen einer Kleinigkeit geprügelt.

      »Hallo, Schorsch. Wie geht’s? Ist das nicht ein prächtiger Tag?«

      »Prächtig?« Ich sehe in seinen Augen Angriffslust aufblitzen. »Ich sage dir mal, was prächtig ist: Unser Stapi, der das Problem mit der Reitschule nicht auf die Reihe kriegt, aber jetzt großspurig eine Biografie seiner Familie veröffentlicht. Nicht mal selber geschrieben hat er sie. Wann auch? Er zeigt sich ja viel lieber im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit bei Apéros und Cüplis anstatt einmal die Ärmel hochzukrempeln und zu arbeiten!«

      Er blickt mir während seiner kurzen Brandrede kein einziges Mal in die Augen, dreht dauernd nervös den Kopf nach links und rechts, als ob er kontrollieren müsste, ob er von jemandem verfolgt wird.

      Der Schorsch ist unser Veteran, der Dienstälteste auf der Gasse sozusagen. Er ist weit über siebzig Jahre alt, eine kleine, drahtige Gestalt mit schlohweißem Haar, aber dichten, buschigen und tiefschwarzen Augenbrauen, die mich jedes Mal aufs Neue faszinieren. Trotz seines hohen Alters kann er immer wieder erstaunliche Kräfte entwickeln, vor allem wenn ihm irgendetwas nicht in den Kram passt. Dann wird er schon öfter mal handgreiflich. Seine rote Knollennase und die die rotgeäderten Wangen sind Zeichen seiner Vergangenheit als Alkoholiker. Nach einem missglückten Selbstmordversuch beschloss er, sein Leben umzukrempeln. Seit vielen Jahren ist er trocken, lebt vom Sozialamt und bettelt den Rest, den er benötigt, zusammen.

      Sein großspuriges und egozentrisches Benehmen ist die Folge seines ehemals übermäßigen Alkoholkonsums. Er muss ständig im Mittelpunkt stehen und kann mit abwertenden und überheblichen Bemerkungen seine Kumpels manchmal gehörig vor den Kopf stoßen. Das hat ihm schon die eine oder andere Beule beschert, wohl gerade letztlich, wie sein geschundenes Gesicht verrät.

      Ein bürgerliches Leben ist für ihn nie in Frage gekommen, zu sehr und gerne schimpft er über die unfähigen Politiker und die Adminfuzzis, wie er die Angestellten des Verwaltungsapparats nennt.

      Aber er hat auch seine liebenswürdigen Seiten. »Wer kann schon von sich behaupten«, doziert er jeweils für alle die es hören, aber besonders natürlich für diejenigen, die es nicht hören wollen, »dass die ganze Stadt sein Wohnzimmer ist! Ich bin in ganz Bern zu Hause, tout Berne, c’est moi!«

      Ein zahnloses Lächeln, gefolgt von einem heftigen Hustenanfall, nicht etwa der Aufregung über unseren Stadtpräsidenten, sondern der zahlreichen Brissagos geschuldet – ja, das ist unser Schorsch.

      Nachdem er noch einen Moment über die Politiker gewettert hat, bedeutet er mir, etwas näher zu kommen, macht rasch einen Kontrollblick zu seinem Hund, der sich inzwischen gemütlich niedergelassen hat, und flüstert mir dann ins Ohr:

      »Diese Nacht war ich beim Egelsee, und dann sind sie gekommen.«

      »Wer ist gekommen?«, flüstere ich zurück, und er straft mich mit einem abschätzigen Blick für diese in seinen Augen saudumme Frage.

      »Na, wer wohl? Die Außerirdischen. Ich habe das UFO mit eigenen Augen gesehen. Über dem See ist es geschwebt. Alles war beleuchtet. Ich sage dir, mein Lieber, das Ende ist nahe! Die Menschheit ist am Verdummen. Kein Auge mehr für das wirklich Wichtige. Bloß noch in ihr blödes Gerät starren, das können sie. Aber die Außerirdischen werden uns von diesen Idioten erlösen.« Er packt mich am Arm. »Leute wie mich werden sie verschonen, das ist klar. Leute, die den Durchblick haben. Leute, die wissen, worauf es ankommt. Endlich werden wir vom Abschaum der Menschheit erlöst werden.« Mit kritischem Blick mustert er mich. Das erste Mal, dass er mir in die Augen schaut. »Ich glaube, auch du gehörst zu den Auserwählten. Zu den wenigen, die übrigbleiben.« Er tritt einen Schritt zurück, hebt wissend den Zeigefinger und ergänzt mit lauter Stimme. »Und zuerst werden sie sich unseren Stapi holen, das schwöre ich dir. Und danach unmittelbar diese Idioten aus Russland und Nordkorea. Die Zeit ist gekommen, schon bald ist es soweit.«

      Seit seinem Selbstmordversuch ist Schorschs Wahrnehmung leider etwas in Mitleidenschaft gezogen worden. Außerirdische und Verschwörungstheorien gehören zu seinem täglichen Brot.

      Er weist den Schäferhund an aufzustehen, verabschiedet sich von mir – »Ich habe noch wichtige Termine.« – und schreitet mit raschen Schritten Richtung Rathaus.

      Ich blicke ihm lächelnd nach und nehme dann den Rest meines Weges unter die Beine. Nach ein paar Schritten stehe ich vor dem Stübli, dem öffentlichen Wohnzimmer der Stadt Bern.

      Hier, in dieser Oase der menschlichen Wärme, wo nach emotionalen Graden gemessen wird, ist jeder willkommen. Keiner braucht sich zu schämen, man darf sich selbst sein, ohne eine Maske aufsetzen zu müssen. Der Alkoholiker sitzt neben dem Bauarbeiter, der Junkie unterhält sich mit dem Straßenmusiker, die Pensionäre diskutieren mit den Arbeitslosen über die aktuelle politische Lage; alle sind eine große Familie.

      Vor der Eingangstüre sitzt Oma Kurti auf der morschen Holzbank und beugt sich über den daneben stehenden Kinderwagen. Die blonde und zerzauste Perücke sitzt schief auf seinem Haupt und würde wohl auseinanderfallen, wenn sie nicht von einem Kopftuch zusammengehalten würde, dessen Farbe unmöglich zu bestimmen ist. Die Essensreste im struppigen Bart zeugen von seiner letzten Mahlzeit, und das geblümte, blaue Kleid hat auch schon bessere Tage gesehen. Darunter trägt er graue Leggins, und seine Füße stecken in knallgelben Gummistiefeln, die so hell leuchten, als seien sie erst gerade geputzt oder neu gekauft worden.

      Ich nicke ihm freundlich zu, und er hält sofort den Zeigefinger vor den Mund, um mich zur Ruhe zu mahnen. Er winkt mich zu sich und deutet dann in den Kinderwagen, wo unter der Decke ein verfilzter Teddybär mit nur noch einem Auge liegt. Oma Kurti streichelt ihm zärtlich über den Kopf und flüstert mir dann mit seiner tiefen und scheppernden Bassstimme zu:

      »Der Bub ist endlich eingeschlafen. Wir wollen ihn nicht aufwecken. Ist er nicht süß?« Eine gewaltige Alkoholfahne weht mir entgegen, und ich widerstehe erfolgreich dem Reflex mich abzuwenden.

      »Allerliebst«, säusle ich zurück. »Wie heißt der Kleine denn?«

      »Das ist das Jakobeli«, antwortet Oma Kurti und wirft mir dann einen kritischen Blick zu. Seine Augen flackern unruhig, und der fährt sich mit der Zunge nervös über die kümmerlich geschminkten Lippen. »Bist einer aus dem großen Kanton, gell? Ein Gummihals?« Der Alte lässt seinen kichernden Laut ertönen, der in einen wilden Hustenanfall gipfelt, von dem er sich beinahe nicht erholen kann. Ich klopfe ihm auf den Rücken und merke, wie er sich dabei verkrampft und meiner Hilfe ausweicht.

      Unter den zottigen, blonden Stirnfransen, die beinahe bis zur Spitze seiner Hakennase reichen, erkenne ich einen ängstlichen Blick, und so trete ich einen Schritt zurück und ziehe zur Begrüßung meinen Hut.

      »Ich bin der Gregor aus Bayern.«

      Wie häufig habe ich ihm wohl schon meinen Namen genannt? Oma Kurtis Gedächtnis mit einem Löchersieb zu vergleichen wäre wohl beinahe eine Beleidigung für das Küchenutensil. Ich weiß nicht, wie lange er schon auf der Straße lebt, man munkelt von über dreißig Jahren. Eine lange Zeit, die zusammen mit Unmengen von Alkohol ihre Wirkung hinterlassen hat. Eine gescheiterte Existenz auf der Schattenseite des Lebens. Aber eine Seele von Mensch, in ganz Bern bekannt und beachtet. Wenn er mit seinem Kinderwagen durch die Gassen zieht