Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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setzte er sich an die Scheunenwand in den Schatten.

      »Angelino«, sinnierte derweil Opa Willy. »Wie kommst du bloß auf so was?«

      Gregor zuckte mit den Schultern und nippte an seinem Getränk. Der Großvater stellte das Werkzeug neben den Hackklotz und stopfte gemütlich eine neue Pfeife. Nach den ersten paar Zügen setzte er sich ächzend zu seinem Enkel neben die Holzbeige.

      »Ich finde es schön, wie ihr beide euch mögt, obwohl ihr so unterschiedlich seid. Gemeinsam seid ihr unheimlich stark.« Er betrachtete Gregor von der Seite, und ein Anflug von Stolz überwältigte ihn. Was hatte er doch für tolle Enkelkinder! »Der Weg von Lars ist wohl ziemlich klar. Aber weißt du denn schon, was du einmal werden willst?«

      Der Junge strahlte. »Ich werde Angelinos Manager.«

      »Natürlich!« Opa Willy lachte laut. »Wie konnte ich nur so blöd fragen. Das ist doch völlig klar. Angelino, Manager. Woher hast du denn diese Worte, mein Kleiner?« Er wuschelte ihm durch die dunklen Locken.

      »Oder ich werde Bettler.«

      Der Alte hielt in der Bewegung inne und griff verwundert nach seiner Pfeife, die ihm sonst aus dem Mund gefallen wäre.

      »Bettler? Wie denn das?« Verwirrt betrachtete er seinen Enkel.

      »Das sind ganz liebe Menschen. Sie haben einen Hund und werden von den Leuten beschenkt.«

      »Das darf doch nicht wahr sein!« Astrid van Loon schüttelte den Kopf, als ihr Vater ihr am Abend von seinem Gespräch mit Gregor berichtete. »Weißt du, Vater, ich war letzte Woche mit ihm in München, und da hat er einen Bettler gesehen, der mit seinem Hund in der Fußgängerzone gesessen hat. Er war völlig fasziniert von dieser Gestalt, ist zu ihr gegangen, hat mit ihr gesprochen und den Hund gestreichelt. Ich habe ihn fast nicht mehr weggebracht. Auf dem Rückweg hat er mich mit Fragen gelöchert, wollte wissen, weshalb der Bettler dort gesessen sei, was er so alles mache und wo man dies lernen könne.«

      Opa Willy lachte laut und hielt sich seinen mächtigen Bauch.

      »Das ist nicht witzig, Vater!« Astrid strafte den Alten mit einem tadelnden Blick.

      »Manager oder Bettler.« Er konnte sich fast nicht mehr erholen. »Das sind goldene Zukunftsaussichten für meinen Enkel. Auf jeden Fall scheint er eine sehr soziale Ader zu haben.«

      Das Lachen verging aber ein paar Tage später auch ihm, als die van Loons einen Anruf von Frau Lang, der Inhaberin des kleinen Lebensmittelladens im Dorf, erhielten.

      »Stell dir vor, dein Sohn sitzt mit eurem Hund vor meinem Geschäft und hat einen Hut hingestellt. Geht’s euch so schlecht, dass ihr jetzt schon die Kinder zum Betteln schicken müsst?«

      Die Frau Lang war bekannt für ihre spitze Zunge, und Astrid war nie ganz mit ihr warm geworden. Umso peinlicher war es ihr, dass gerade das größte Lästermaul der Umgebung auf Gregor aufmerksam geworden war. Sofort eilte sie ins Dorf und holte den Jungen nach Hause.

      »Das geht nicht, Gregor!«, schimpfte Vater Claas beim Abendbrot.«

      »Du kannst doch nicht einfach betteln gehen. Was sollen denn die Leute von uns denken«, weinte Astrid.

      »Mein Junge«, grummelte Opa Willy, »wir müssen uns einmal ernsthaft miteinander unterhalten.«

      Er blickte hinüber zu Lars, der artig seine Rindsroulade aß und von der ganzen Aufregung gar nichts mitbekommen zu haben schien. Es machte den Anschein, als ob er in anderen Sphären schweben würde.

      Die Vortragsübung, für die Lars so eifrig geübt hatte, stand an. Er durfte ein Klavierkonzert von Mozart darbieten und sein Lehrer, Herr Steinmeyer, spielte auf dem zweiten Flügel den Orchesterpart. Der kleine van Loon verblüffte die Zuhörer mit seiner virtuosen Technik und mit einer improvisierten Kadenz, die in der Nachbetrachtung noch viel zu reden gab.

      Eine Woche später nahm ihn Opa Willy zur Belohnung für seine außerordentliche Leistung mit nach München an ein Symphoniekonzert.

      Lars staunte nicht schlecht, als er seinen Großvater in einem Anzug mit Krawatte erblickte, der ihm zwar überhaupt nicht stand, weil er ihn sich bloß ausgeliehen hatte. Trotzdem hinterließ die Aufmachung bei dem Jungen einen tiefen Eindruck.

      »Aber Opa«, meinte er. »So zieht Papa sich doch nur an, wenn wir in die Kirche gehen.«

      »Man wählt die feinste Kleidung aus, wenn man ins Konzert geht, mein Junge. Du wirst sehen: Die Leute werden alle so angezogen sein. Mutter hat dir auch deine schönsten Kleider bereitgelegt. Geh schon, zieh dich an, sonst verpassen wir den Bus.«

      Auch im Konzertsaal kam Lars aus dem Staunen nicht heraus. Da es im Hause van Loon immer noch keinen Fernseher gab, hatte er eine solche Veranstaltung noch nie von der optischen Seite wahrnehmen können und bombardierte Opa Willy mit Fragen:

      »Weshalb sitzen alle Leute so still da? Das ist ja wie in der Kirche. Freuen die sich denn nicht?«

      »Warum tragen die Musiker alle so einen komischen Anzug? Die sehen ja aus wie Pinguine.«

      »Was macht der Mann da vorne mit dem Stäbchen? Und weshalb steht der, wenn alle anderen doch sitzen?«

      »Warum klatscht denn niemand?« Eine berechtigte Frage, die Lars zwischen zwei Sätzen stellte.

      »Weshalb schauen alle so ernst drein?«

      Während er all die vielen Fragen stellte, die ihm auf der Zunge brannten, stellte er die ärgerlichen und vorwurfsvollen Blicke rund um ihn herum fest, und Opa Willy wies ihn schließlich darauf hin, dass in der Pause genug Zeit vorhanden wäre, um Antworten zu geben.

      »Hör doch einfach zu, Bub«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Dafür sind wir nämlich da!«

      So vertiefte sich Lars in das Klavierkonzert von Schumann, das er von den Aufnahmen, die Opa Willy ihm vorgespielt hatte, bereits kannte. Staunend lauschte er den Klängen, die so ganz anders tönten als auf den Kassetten, viel unmittelbarer, viel mächtiger, viel eindringlicher. Er konnte die Musik fühlen und hatte die vielen Fragen, die ihn noch vor wenigen Augenblicken gequält hatten, rasch vergessen. Es kam ihm vor, als ob er in einem See baden würde, allerdings war es nicht Wasser, sondern die Musik, die seinen Körper umsäumte, kräuselte und für sich einnahm.

      Der Solist spielte seinen Part abwechslungsweise so innig, mal kräftig, dann wieder verträumt und zärtlich und mit einer Sicherheit und Selbstverständlichkeit, die Lars nicht einmal bei Herrn Steinmeyer so gesehen hatte.

      Und dann der Klang! Diese Töne! Wenn Lars die Augen schloss, dann war es nicht nur das Wasser, in dem er schwebte, sondern er glaubte, über sich ein ganzes Himmelszelt zu erblicken, an dem die Sterne golden funkelten und sich zu einer Einheit formierten, die seinen ganzen Körper erschaudern ließ. Er hatte das Gefühl, sich in der Gegenwart zu verlieren und sie gleichzeitig mit einer Intensität zu fühlen, die er bisher noch nie so erlebt hatte.

      Und dann, in der Pause, hatte Lars endlich die Gelegenheit, die unzähligen Fragen, die ihn im Konzertsaal beschäftigt hatten, endlich loszuwerden. Gierig sog er die Antworten seines Opas in sich auf, und jede Erklärung zog weitere Fragen nach sich, sodass Willy seinen Enkel beinahe auf den Sitz zurückprügeln musste. Und auch dort sprudelte es aus dem Kleinen nur so hinaus. Jede Beobachtung, jedes Detail musste erklärt werden, und erst als der Dirigent zurück aufs Podest kam, verstummte Lars und war gespannt, wie es weitergehen würde.

      Für den zweiten Teil des Konzerts stand Beethovens Fünfte auf dem Programm, ein Stück, das Lars im Schweinestall schon oft gehört hatte und zu dessen mitreißenden Themen er dort stets aufgeregt herumgehüpft war. So fiel es ihm noch viel schwerer, ruhig sitzen zu bleiben, denn die Musik entfaltete seinen Bewegungsdrang. Am liebsten wäre er aufgestanden, seinen Opa an den Händen gepackt, mitgesungen und getanzt. Er war erstaunt darüber, wie die Zuhörer scheinbar emotionslos auf ihren Sitzen saßen und die Musik über sich hinwegfluten ließen.

      Im zweiten Satz dann allerdings, im wunderbaren Andante con moto, war er auch ganz in sich versunken und lauschte atemlos dem herrlichen