Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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und ich fühle mich, als ob ich gerade die Ziellinie eines Marathonlaufes überschritten hätte.

      Vorsichtig stehe ich auf, recke und strecke mich ausgiebig und gähne herzhaft, die Hände in die Hüfte gestützt. Mein Kontrollblick neben die Bank ergibt, dass mein Hab und Gut noch komplett vorhanden ist: Schlafsack, Isomatte und die blaue IKEA-Tasche mit meinen wichtigsten Utensilien. Der iPod steckt auch noch in meiner Hosentasche, somit ist alles da, und ich kann in aller Ruhe wieder Platz nehmen.

      Die Beule in meiner Hosentasche verrät mir, dass der Flachmann ebenfalls noch vorhanden ist. Ich klaube ihn heraus und stelle hocherfreut fest, dass er fast noch zu einem Viertel mit Kirsch gefüllt ist. Als ich ihn bereits an meine Lippen geführt habe, halte ich kurz inne und besinne mich eines Besseren. Es wird gewiss noch einen würdigeren Moment geben, um den köstlichen Tropfen zu genießen. So versorge ich die Flasche in meiner Plastiktasche, die ich anschließend durchwühle und tatsächlich noch etwas Mineralwasser finde. Gierig und mit großen Schlucken trinke ich die Flasche leer und zerknülle sie danach geräuschvoll.

      Obwohl die Kopfschmerzen noch nicht nachgelassen haben, fühle ich mich etwas besser und betrachte meine Umgebung.

      Es ist ein wundervoller Frühlingstag, auf der Münsterplattform tummeln sich zahlreiche Fußgänger. Zu meiner Rechten erheben sich vor dem Gurten majestätisch die Türme des Naturhistorischen Museums. Ein Ausblick, den ich gerne und genussvoll einen Moment auf mich wirken lasse.

      Die Sonne steht schon etwas tief und blendet mich. Und erst jetzt wird mir bewusst, dass ich meinen schwarzen Filzhut gar nicht trage, was durch ein überflüssiges Abtasten meines Hauptes noch bestätigt wird.

      Ich ohne Hut, das gibt es eigentlich gar nicht, da fühle ich mich komplett nackt. Doch wo könnte er bloß sein? In der Plastiktasche habe ich vorher doch bereits gewühlt, und da war nichts. Verzweifelt suchend drehe ich meinen Kopf nach links und rechts, worauf ich durch einen heftigen Schmerz im Nacken wieder zur Ruhe gemahnt werde.

      Verflixt, wurde der mir tatsächlich während meines Mittagsschläfchens geklaut? Ich spreize meine Beine und blicke durch die Bretter der Sitzbank auf den Boden, und tatsächlich: Da liegt er, mein ständiger und treuer Begleiter. Ächzend bücke ich mich, hebe ihn auf und stülpe ihn mir auf den Kopf, nicht ohne ihn vorher mit einem Kuss begrüßt zu haben.

      Damit hätte ich meine Siebensachen wieder beieinander und kann mich mit meinem weiteren Tagesablauf beschäftigen.

      Hinter mir weckt ein rhythmisches Geräusch, begleitet von aufgeregtem Schreien, meine Aufmerksamkeit. Ich lege einen Arm auf die Banklehne und drehe etwas zu rasch meinen Kopf. Der Schmerz fährt mir augenblicklich in den Nacken, und ich muss mir eingestehen, dass mein Körper für solch ruckartige Bewegungen noch zu wenig Betriebstemperatur erreicht hat.

      Mit zusammengebissenen Zähnen massiere ich gründlich den schmerzenden Bereich zwischen den Schulterblättern. Ein Königreich für eine helfende Hand! Eine Liege, duftendes Öl und die professionellen Griffe eines Therapeuten, das wäre nicht zu verachten!

      Als ich es endlich schaffe, meinen Kopf zu drehen, stelle ich fest, dass unmittelbar hinter meiner Sitzbank zwei Jugendliche in eine Tischtennis-Partie vertieft sind. Mit ihren gegenseitigen Sticheleien heizen sie sich zusätzlich an, und ich verfolge interessiert den Verlauf des Spiels.

      Ich glaube, dass ich früher, ganz früher, als ich noch klein war, auch Pingpong gespielt habe, wahrscheinlich mit meinem Zwillingsbruder. Doch mein Erinnerungsvermögen reicht nicht aus, um klare Bilder aus der Vergangenheit in meinem Kopf erscheinen zu lassen. Auf jeden Fall erreichen die beiden Kontrahenten meiner Meinung nach ein beachtliches Niveau, und ich genieße die Dynamik und das Tempo des Spiels.

      Als einer der beiden mit einem Schmetterball das Match beendet, lässt sich der andere erschöpft auf die Knie fallen. Ich applaudiere dem Sieger, der mit erhobenen Händen seinen Triumph feiert und sich nach allen Seiten dreht.

      Er grinst mich an und streckt mir den Schläger entgegen.

      »Willst du auch mal, Alter? Dann hätte der Loser dort drüben vielleicht mal eine echte Chance.«

      Für die Bemerkung erntet er den ausgestreckten Mittelfinger seines Spielpartners. Ich hebe das Kinn und wehre mit einer saloppen Handbewegung ab:

      »Muss meine Kräfte vernünftig einteilen. King Roger erwartet mich heute Abend noch auf dem Centre Court.«

      »Klar, Alter. Alles cool«, meint der Sieger mit einem wiehernden Lachen und schreitet auf die andere Seite des Tisches, um seinem Partner die Hand zu reichen.

      »Mimimimi. Mach nicht so auf schwanger, Mann.«

      Mit einem Ruck zieht er ihn hoch und wischt ihm über den Rücken, als ob er soeben das Eidgenössische Schwingfest gewonnen hätte.

      »Wichser«, quittiert der Unterlegene und boxt ihn in die Seite. »Revanche?«

      »Scheiß auf die Revanche. Energy und Zigarette?«

      »Cool, Mann.«

      Sie schlagen die Fäuste gegeneinander und winken mir zu, bevor sie Richtung Münsterplatz verschwinden. Ihr Abgang gibt mir die Gelegenheit, mich wieder auf meine momentane Situation zu fokussieren und meinen Körper wieder etwas zu bewegen.

      Ich habe keine Ahnung, wie lange ich auf der Bank vor mich hingedöst habe. Ein Wunder eigentlich, dass keiner der Schlümpfe – unsere Bezeichnung für die Bullen – mich aufgeweckt und fortgejagt hat. Aber ich will mich nicht beklagen und erhebe mich vorsichtig. Man soll das Schicksal ja nicht herausfordern.

      Ich ergreife den Schlafsack am Riemen, schwinge die Tasche über die Schulter und schlendere langsam Richtung Balustrade, wo ich einen Blick auf die Aare und das Mattequartier werfe.

      Mit einem Seufzer schließe ich die Augen und strecke die Nase in die Luft, nehme die Düfte um mich herum wahr. Es riecht nach Frühling, und was gibt es Schöneres als die Erkenntnis, dass die Natur nach ihrer Wiedergeburt sich langsam wieder zu ihrer prallen und prächtigen Schönheit entfaltet.

      Dieser philosophische Gedankengang verdient eine Belohnung, und so schüttle ich eine zerbrochene Zigarette aus dem zerknitterten Päckchen und stecke mir die Kippe an.

      Gut gelaunt und beschwingt setze ich meinen Weg fort, laufe am Eckpavillon mit dem Lift vorbei und nicke den Gästen des Gartenlokals, die mir aufdringliche und voyeuristische Blicke zuwerfen, freundlich zu.

      »Servus«, grüße ich sie, zugegebenermaßen etwas zu laut und zu offensichtlich, sodass sie sich peinlich berührt sogleich wieder von mir abwenden.

      Wortfetzen wie unverschämt oder tragisch dringen an meine Ohren, vermögen allerdings meine gute Laune auf keine Art und Weise zu trüben. Da habe ich schon viel schlimme Sachen gehört und über mich ergehen lassen müssen.

      Bevor ich die Münsterplattform durch die Gitterabsperrung mit den golden leuchtenden Spitzen wieder verlasse, werfe ich einen Blick zurück und lasse die zauberhafte Stimmung nochmals auf mich wirken. Die Sonnenstrahlen schimmern durch die Bäume, die bereits mit einem stattlichen Grün ausgestattet sind, und die Menschen, welche die Terrasse bevölkern, wirken aufgeräumt und genießen das herrliche Aprilwetter. Ich werfe meine Kippe weg und belohne meine Lunge mit einem tiefen Zug frischer Frühlingsluft. Die satten Aromen lassen mich mit einem lustvollen Aufstöhnen kurz innehalten. Wenn ich die Macht hätte, das Rad der Zeit anzuhalten und den Moment zu konservieren, so wäre dies der richtige Augenblick dafür.

      Quengelndes Weinen holt mich aus meinen Tagträumen zurück, und vor mir steht die Mutter mit ihren zwei Kindern, die mir vorher bereits begegnet ist. Wenn mir etwas durch Mark und Bein geht, wie bei einigen Leuten das Geräusch einer Kreide auf Schiefertafel, so ist dies das Kreischen und Brüllen von Halbwüchsigen. Es bereitet mir nahezu körperliche Schmerzen, und am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten.

      Pack deine Racker ein und hau schnellstmöglich mit ihnen ab, denke ich mir und stelle in diesem Moment fest, dass ich den Toreingang zur Münsterplattform so in Beschlag nehme, dass sie