Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


Скачать книгу

Schule. Wo gibt es so was heute noch?« Oma Kurti hat sich wieder erholt und nickt mir anerkennend zu. Dann fällt sein Blick in den Kinderwagen und seine Augen verengen sich. »Ach nein, jetzt haben wir das Jakobeli aufgeweckt. Ganz ruhig, mein Schatz.«

      Er steht auf und beugt sich tief in den Kinderwagen hinein. Mit leiser und beruhigender Stimme spricht er auf den Teddybären ein und lässt seinen Worten ein Wiegenlied folgen.

      Guten Abend, gut’ Nacht, mit Rosen bedacht ...

      Er nimmt mich nicht mehr wahr, ist ganz auf den Kinderwagen fokussiert, und ich staune, mit welch heller und klarer Stimme er das Lied von Brahms intoniert.

      Ich glaube mich zu erinnern, dass beim letzten Zusammentreffen mit Oma Kurti eine Stoffpuppe mit blonden Zöpfen im Wagen gelegen hat, welche auf den Namen Vreneli getauft war. Vorsichtshalber verkneife ich mir aber die Frage nach ihrem Verbleib, um den Alten nicht aus der Fassung zu bringen.

      Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt ...

      Mit einem zärtlichen Kuss verabschiedet Oma Kurti den Stoffbären in den Schlaf und streichelt ihm über die pelzige Wange. Als er wieder aufschaut, sind seine Augen wässerig, und eine Träne sitzt im Augenwinkel. Als hätte er meine vorherigen Gedanken gelesen, beginnt er stammelnd:

      »Das Vreneli ... nun sind wir zwei halt alleine. Sie hat uns verlassen, war eines Tages plötzlich weg, ist einfach gestorben. Dabei war sie noch so klein.«

      Verständnisvoll nickend höre ich ihm zu und frage mich insgeheim, wie eine Puppe wohl gestorben sein kann. War sie kaputt, auseinandergefallen? Oder wurde sie gar von jemandem aus dem Kinderwagen gestohlen? Unvorstellbar für mich, wie man dies einem alten, hilfsbedürftigen Mann antun kann.

      »Wir sind immer noch sehr traurig, wir beide«, fährt Oma Kurti fort. »Vor allem das Jakobeli, es geht ihm gar nicht gut. Er vermisst seine kleine Schwester furchtbar. Ich muss ihn ständig trösten, dabei kann ich es selber noch gar nicht fassen.«

      Er wischt die Träne weg und zieht die Nase hoch. Ich greife nach seiner Hand, doch erschrocken weicht er mir aus. Verschwommen glaube ich mich zu erinnern, dass er sonst für Berührungen sehr empfänglich ist.

      »Kommst du mit hinein?«, frage ich und deute mit dem Kopf gegen die Türe des Stüblis.

      »Ach nein, das ist lieb von dir ...« Er scheint erfolglos nach meinem Namen zu suchen. »... du Mann aus dem großen Kanton. Aber mir ist im Moment nicht nach Gesellschaft. Jakobeli und ich brauchen uns nun gegenseitig. Es wird schon wieder besser werden.«

      Ich nicke Oma Kurti zu und tippe zum Abschied gegen meinen Filzhut.

      Gespannt, wen ich im Stübli alles antreffen werde, trete ich ein und bleibe, nachdem ich die Tür leise geschlossen habe, einen Moment stehen, um die Atmosphäre tief in mir drin aufzunehmen.

      Die gewölbte Decke, die weißgetäferten Wände mit den kleinen, gerahmten Bildern – ich kann die wohlige Aufregung in meinem ganzen Körper fühlen. Es ist wie ein Nachhausekommen für mich

      Die Tische sind gut besetzt, leises Gemurmel dringt an meine Ohren, und es duftet nach frischem Filterkaffee und warmem Gebäck.

      Regula, eine der guten Seelen des Stüblis, hat mich bereits entdeckt und winkt mir zu.

      »Du kommst genau richtig!«, ruft sie. »Rate mal, was ich heute für euch gebacken habe.«

      »Es riecht verführerisch gut«, gebe ich zur Antwort und hebe demonstrativ meine Nase in die Höhe. »In einem solch exklusiven und edlen Lokal kann es sich nur um Sachertorte und Rumpralinen handeln.«

      »Witzbold«, lacht sie und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu.

      »Beethoven! Ich glaub’s ja nicht!« Der Aufschrei kommt von ganz hinten, und als ich den Kopf in diese Richtung drehe, sehe ich gerade, wie ein Hüne sich von seinem Stuhl erhebt und die Jasskarten auf den Tisch fallen lässt – sehr zum Ärger seiner Mitspieler. »Ta – ta – ta – taaaaa!« Er schmettert das Motiv aus Beethovens Fünfter durch den ganzen Raum und kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Als er mich mit seinen Pranken umarmt, bleibt mir beinahe die Luft weg, und gleichzeitig fällt mein Blick auf die Nische hinten im Raum, wo ein Porzellanengel mir seine Flügel entgegenstreckt. Mein ganzer Körper versteift sich, anstatt die kameradschaftliche Umarmung zu erwidern. Die Arme werden schwer, mein Puls beginnt zu rasen, und meine Erinnerungen kreisen wild und ungestüm um einen imaginären Punkt, dem ich mich verzweifelt anzunähern versuche, jedoch nicht zu fassen kriege.

      Ein Engel – da war doch irgendetwas. Sehr lange ist es her, und trotzdem ist es noch präsent und versetzt mir einen schmerzhaften Stich mitten in die Brust. Von einer panischen Angst ergriffen, ringe ich nach Luft und beginne zu keuchen.

      Die Umarmung erschlafft, und der Riese blickt mich fragend an: »Beethoven? Alles in Ordnung mit dir?«

      »Alles gut, Franz.« Einatmen, ausatmen. Ganz ruhig. Langsam normalisiert sich mein Puls wieder, und ich klopfe meinem Gegenüber beruhigend auf die Schulter. »Ein kleiner Schwächeanfall, nichts weiter, worüber man sich Sorgen machen müsste.«

      Franz strahlt und umarmt mich nochmals.

      »Beethoven! Verfickte Hühnerscheiße! Wo hast du dich bloß wieder rumgetrieben. Wann hab ich dich das letzte Mal gesehen? Mal kurz überlegen ...« Er kratzt sich über seinen dichten Bart und winkt dann ab. »Ist ja egal. Komm mit, setz dich zu uns. Du musst unbedingt den Kuchen kosten, den die gute Regula für uns gebacken hat. Großartig, sag ich nur. Zu einem Jass kann ich dich wohl nicht überreden?«

      Er führt mich zum Tisch, wo seine Jasspartner widerwillig ihr Spiel unterbrechen mussten und mich mit argwöhnischen Blicken anstarren.

      »Schaut her«, verkündet er feierlich. »Das hier ist unser Beethoven, ein wahrer Kulturfreund. Läuft dauernd mit seinem Knopf im Ohr rum und zieht sich so richtig heavymäßigen Klassikstoff rein. Und ich kann euch sagen, der Kerl versteht auch was davon. Stimmt’s mein Freund?« Er schließt die Augen und bewegt seine Arme, als würde er ein unsichtbares Orchester leiten.

      Seine Kumpels zeigen kein Interesse an meiner Person.

      »Schon gut, Franz«, meint der eine und deutet auf die hingeworfenen Karten. »Spielen wir jetzt weiter oder machst du einen auf Dirigent?«

      »Komm schon«, drängt ein anderer. »Auf so ein gutes Blatt habe ich den ganzen Nachmittag gewartet. Geht’s endlich weiter?«

      »Geduld, Geduld, meine Lieben.« Franz ist in seinem Element und geht in der Rolle als Gastgeber völlig auf. »Regula, Kaffee und Kuchen für unseren Freund hier.«

      »Spinnst du jetzt komplett?«, kommt es vom Tisch. »Der Laden gehört nicht dir alleine. Dein Mozart kann sich selber bedienen gehen, so wie wir alle es machen.«

      »Schön.« Franz zieht eine Schnute. »Dann spielt doch alleine weiter. Ich hab Wichtigeres zu tun.«

      Unter lautem Protest führt er mich von den drei Kartenspielern weg und platziert mich an einen freien Tisch.

      »Warte hier, Beethoven. Ich hol uns eine kleine Stärkung.«

      Mir ist die ganze Situation äußerst peinlich, und ich kann den Ärger von Franz’ Mitstreitern gut verstehen. Ich bin froh, so zu sitzen, dass ich ihnen den Rücken zuwende und nicht in ihre wütenden Gesichter blicken muss.

      Franz scheint das alles überhaupt nichts auszumachen. Mit breitem Grinsen stellt er zwei Tassen Kaffee auf den Tisch und hebt mit wichtiger Miene den Zeigefinger.

      »Das Gebäck wird uns von der Meisterin höchstpersönlich serviert.« Er deutet auf Regula, die bereits hinter ihm steht, mit zwei großen Stücken Schokoladenkuchen in eine Serviette gewickelt.

      Ächzend lässt Franz sich auf den Stuhl sinken und streichelt kurz über Regulas Hand.

      »Unsere gute Seele. Und was für eine exzellente Bäckerin. Gott vergelt’s dir, meine Liebe.«

      »Seit