Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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dass wenigstens das Arbeitszimmer von deiner Zerstörungswut verschont geblieben ist. Das war nämlich wie immer abgeschlossen.«

      Lars starrte seinen Freund entsetzt an. Alles um ihn herum begann sich zu drehen. Kleine Erinnerungsfetzen schlugen wie Blitze in seinem Kopf ein, verschwanden aber ebenso rasch wieder, bevor er sie festhalten konnte. Er hörte das Krachen des Holzes, seine wilden Schreie – und da war auch Musik. Furchtbare Musik.

      Und plötzlich war alles wieder weg. Die Bilder, die akustischen Eindrücke – zurück blieb nur eine Stille, die sich über den Raum gelegt hatte und die laut vibrierend in seinen Ohren dröhnte.

      Lars war blass geworden und wühlte hilflos durchs dichte Haar. Seine Stimme war tonlos.

      »Warum habe ich das denn bloß getan?«

      »Tja. Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten, Maestro.« Carbotti schürzte die Lippen. »Ich denke, das wird das Thema sein, welches du mit Doktor Fleischhauer bearbeiten wirst. Die Zulligers von nebenan wurden durch den Lärm auf deine Aktivität aufmerksam und haben die Polizei verständigt. Glücklicherweise hatten sie meine Telefonnummer und haben auch mich angerufen. So konnte ich kurzfristig bewirken, dass man dich hierher gebracht hat.«

      Das Ehepaar Zulliger, reizende und freundliche Menschen, beide knapp über siebzig Jahre alt, waren Lars’ Nachbarn. Beide waren sehr interessiert an Kultur, vor allem an klassischer Musik, und ließen keine Gelegenheit aus, um von ihrem prominenten Nachbarn einen Einblick ins Showbusiness zu erhaschen. Lars ging ihnen aus dem Weg, wo er nur konnte, und wenn es sich nicht vermeiden ließ, so fütterte er sie mit ein paar kurzen Anekdoten, um sie zufrieden zu stellen.

      »Das heißt also, dass ich wegen diesen alten Säcken hier in der Klapse bin?«

      »Das heißt, dass die beiden das Richtige getan haben, um dich vor dir selbst zu schützen. Ich werde ihnen morgen mit einer Schachtel Konfekt oder Pralinen einen Besuch abstatten und mich dafür bedanken.«

      Lars wollte bereits wieder einen energischen Einwand vorbringen, als er einhielt und nachdachte. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren und er versuchte, die richtigen Puzzleteile zusammenzusetzen.

      Er erhob sich vom Bett und blieb vor seinem Manager stehen, der unbewusst seinen massigen Körper etwas nach hinten lehnte, um zwischen ihm und seinem Gegenüber die notwendige Distanz aufzubringen. Dies war allerdings zwecklos. Lars beugte sich zu ihm hinunter und tippte mit seinem Zeigefinger gegen Carbottis Brust.

      »Weshalb hast du überhaupt den Zulligers deine Nummer gegeben? Ich denke nicht, dass du dich mit ihnen auf ein Kaffeekränzchen verabreden wolltest.«

      Für Sergio Carbotti wurde die Nähe des Musikers unerträglich, und er stieß ihn sanft beiseite, um sich selbst aus dem Sessel erheben zu können. Erneut strich er sein Hemd glatt und steckte die Zipfel in die Hose.

      »Na ja, Maestro. Ich habe mir einfach Sorgen gemacht und mir gedacht, dass es nicht schaden würde, wenn deine Nachbarn mich als Kontaktperson kennen und in Notfall kontaktieren könnten. Und das haben sie ja auch gemacht. Ich bin sehr froh darüber.«

      »Du hast dir Sorgen gemacht? Um mich?«

      »Maestro!« Carbotti verschränkte vorwurfsvoll seine Arme. »Du wirst nicht abstreiten können, dass ich dich schon mehrmals auf deinen Zustand hingewiesen habe. Er hat sich in den letzten Monaten deutlich verschlechtert. Du wirkst fahrig, unkonzentriert und abwesend. Außerdem kann ich dich häufig nicht erreichen, weil du dein Handy abgeschaltet hast oder der Akku leer ist. Zudem muss ich dir wohl die vier abgesagten Konzerte vom letzten Jahr nicht in Erinnerung rufen.«

      »Ach die!« Lars winkte ab. »Da habe ich mich nicht so gut gefühlt. Kann ja mal vorkommen. Der Stress und so. Du weißt ja, wie das so ist ...«

      »Nein, mein Lieber, das weiß ich nicht.« Nun hatte Carbottis Stimme einen energischen Unterton erhalten, sodass Lars etwas erschrocken zusammenzuckte. Der Manager holte tief Luft und setzte zu einer Brandrede an: »Ich passe die Termine sehr genau deinen Bedürfnissen an, so wie wir das abgesprochen haben. Kein großer Stress, höchstens zwei Auftritte pro Monat und, wenn es möglich ist, keine langen Reisezeiten. Du hast genug Erholung, so wie du das haben willst. Die Nachfrage nach dir ist enorm, ich kann nur etwa jede fünfte berücksichtigen, und die Warteliste von Interessenten wird immer länger. Ich bedränge dich aber nicht, halte mich an die Abmachungen und vertröste die Agenturen auf Jahre hinaus. Ich stelle mich immer vor dich, halte dir den Rücken frei, mache das Spiel mit den Medien mit und richte dich nach einer deiner depressiven Phasen wieder auf – ob du was reingeworfen hast oder nicht, das will ich jeweils gar nicht wissen.« Er blickte in Lars’ wässerige Augen, die ihm matt entgegenschimmerten und beinahe zufielen. »Kurzum, Maestro. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du zur Ruhe kommst und herausfindest, was mit dir nicht stimmt. Die Lage ist ernst, Maestro!«

      Lars ließ das verbale Donnerwetter über sich ergehen und nickte dann seinem Manager zu. Er war unendlich müde; es war, als ob die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben wären und eine unheimliche Kraft auf ihn einwirken würde, die ihn hinunterzog, tief hinunter, in einen dunklen Sog, der ihn bedrohlich zu verschlucken drohte. Er setzte sich aufs Bett und verkündete mit matter Stimme:

      »Du hast natürlich recht. Aber ich mag mich nicht mehr weiter unterhalten. Ich glaube, ich muss mich mal ein wenig ausruhen. Können wir morgen weiterreden?«

      Und damit schlüpfte er aus den Schuhen und legte seinen Kopf mit einem lauten Seufzer auf das weiche Kissen, ohne auch nur ein Kleidungsstück auszuziehen, faltete die Hände auf der Brust und schloss die Augen.

      Sergio Carbotti fühlte sich vom abrupten Zubettgehen des Musikers etwas überrumpelt, murmelte ein leises »Gute Nacht« und zog sein Jackett unter Lars’ Füssen hervor, die dieser ungeniert auf das gute Stück gelegt hatte. Er schwang es über die Schultern und verließ auf leisen Sohlen das Schlafzimmer. Im Türrahmen drehte er sich nochmals um und warf einen Blick zurück, mit der Absicht, die besten Genesungswünsche nachzureichen. Doch als er das leise Schnarchen aus dem Bett vernahm, wusste er, dass diese ungehört bleiben würden.

      Lars van Loon war bereits eingeschlafen.

      4

      Im Stübli

      April 2016

      Da ist erneut die lästige Fliege, die auf meiner Nase herumtanzt und wegen der ich genervt die Augen aufschlage. Mit einem ärgerlichen Grummeln wische ich das Insekt weg, reibe mir den Schlaf aus dem Gesicht und schaue mich um. Das Erste, was ich dabei wahrnehme, ist eine Mutter, die mit zwei Kindern an der Hand an mir vorbei spaziert. Der kleine Junge trägt ein Cap mit dem Emblem des hiesigen Fußballvereins und stiert mich ungeniert und mit großen Augen an. Ich schenke ihm ein breites Lächeln, was bei ihm allerdings nicht so gut ankommt. Er wendet sich von mir ab, krallt sich mit beiden Händen in die Jacke seiner Mutter und beginnt lauthals zu weinen. Die Frau bedenkt mich mit einem harten und vorwurfsvollen Blick, legt ihren Arm um die Schultern des Jungen und zieht ihn weg von mir.

      »Blöde Kuh«, murmle ich leise, drücke die Handballen in meine Augenhöhlen und gönne mir so einen kurzen Moment der Ruhe.

      Es gibt angenehmere Bilder und Gefühlslagen beim Aufwachen. Eine Matratze, eine weiche Daunendecke, ein Kissen, in Griffweite der Rücken einer schönen Frau – ja, das wär schon was!

      Stattdessen schießt mir unerbittlich ein aggressiver, stechender Schmerz in den Kopf, der mich am Aufstehen hindert und mich zwingt, nochmals die Augen zu schließen und für einen kurzen Moment so zu verweilen. So zögere ich den Zeitpunkt des Aufstehens noch eine Weile hinaus, bis ich feststelle, dass den Schmerzen auch mit Geduld nicht beizukommen ist.

      Ächzend ziehe ich mich an der Rückenlehne der Parkbank hoch, und augenblicklich werden die Kopfschmerzen von einem Stich in der Wirbelsäule übertüncht. Ich kann einen Aufschrei nicht unterdrücken und beiße verzweifelt die Zähne zusammen. Mein Mittagsnickerchen scheint ein bisschen länger ausgefallen zu sein als ursprünglich geplant, was mir mein Rücken nicht unbedingt zu verzeihen gedenkt.

      Langsam, Wirbel um Wirbel streckend, erhebe