Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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bis sich die Holztür öffnete und Gregor in die Scheune trat.

      »Da seid ihr ja«, stellte er fest, streckte die Nase in die Luft und beobachtete anschließend mit gerunzelter Stirn seinen Bruder, der Gregors Erscheinen noch gar nicht bemerkt hatte, so sehr hatten ihn Mozarts Klänge bereits wieder eingenommen.

      Die Zwillinge konnte man nicht voneinander unterscheiden, waren in ihrem Wesen allerdings komplett verschieden. Während Lars eher der Zurückhaltende und Stille der beiden Brüder war, so zeichnete sich Gregor durch Tatendrang und Wildheit aus. Die markante Hakennase und das mächtige Kinn hatten sie von Claas erhalten. Meistens trugen sie auch die gleiche Kleidung, so wie heute.

      Trotz der Wärme hatte Mutter Astrid ihnen selbergestrickte Kniesocken und kurze Hosen sowie ein einfarbiges Hemd angezogen. Gregor trug seines, das an der einen Schulter bereits wieder zerrissen war, geöffnet. Er hasste Hemden und brachte nicht die Geduld auf, sie sorgfältig zuzuknöpfen, das überließ er seiner Mutter und maulte jeweils, weshalb er nicht ein Shirt anziehen dürfe.

      Lars hingegen hatte schon früh die nötige Feinmotorik entwickelt, knöpfte seine Hemden sorgfältig und war ohnehin bemüht, seine Kleider nicht schmutzig werden zu lassen. Ein schwieriges Unterfangen, wenn er mit Gregor im Wald herumtobte. Er war viel feinfühliger und sensibler als sein Bruder, was gerade in dieser Situation im Schweinestall wieder deutlich zum Ausdruck kam.

      Gregor hatte kein Gespür für den angespannten Zustand des kleinen Lars, merkte nicht, dass in diesem Moment zwischen dem Großvater und dessen Enkel ein zartes Band der Musik geknüpft worden war, das die beiden von nun an ein Leben lang noch fester aneinander binden sollte. Mit erst vier Jahren war dieses fehlende Einfühlungsvermögen bei Gregor durchaus erklärbar. Umso erstaunlicher war die bereits früh erkennbare sensible und feinfühlige Ausprägung bei Lars, die sich später noch in viel stärkerem Ausmaß zeigen sollte.

      »Was willst du denn hier drinnen bei diesem schönen Wetter?«, raunzte Gregor seinem Bruder zu und zerstörte mit seiner fehlenden Sensibilität die vorherrschende zauberhafte Stimmung, als ob er in eine Seifenblase gestochen hätte. »Komm mit, wir müssen am Fluss den Staudamm noch fertigbauen!«

      Etwas unsanft wieder ins Hier und Jetzt zurückversetzt, erinnerte sich Lars an ihre gemeinsame Baustelle am nahen Bach, die sie heute unbedingt noch hatten vollenden wollen. Mozart trat langsam in den Hintergrund, und trotzdem blieben noch einige Klangfetzen in seinen Ohren hängen, sodass er fragend zu seinem Opa hochblickte, als ob er von ihm eine Erlaubnis bräuchte, um sich aus der Scheune entfernen zu dürfen.

      »Natürlich, der Staudamm!«, rief der Alte so laut, dass selbst Churchill erschreckt zusammenzuckte. Die Tabakpfeife war ihm dabei aus dem Mund geglitten und lautlos auf dem mit Stroh übersäten Boden gelandet, ohne dass Opa Willy davon Kenntnis genommen hätte. Seine beiden Enkel hatten ihm am Vortag haarklein von ihrem Bauwerk erzählt, mit dem sie einen schmalen Seitenarm des Flusses in einen kleinen Sandtümpel umlenken wollten, den sie in mühsamer Kleinstarbeit mit ihren Plastikschaufeln ausgehoben hatten. »Mensch, Lars, den hast du wirklich komplett vergessen.« Theatralisch schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und wandte sich an Gregor. »Herr Baumeister, brauchen Sie noch einen fähigen Architekten, der Ihnen gute Tipps geben kann.«

      »Opa, was redest du da für einen Blödsinn!« Gregor schüttelte verärgert den Kopf. »So was können wir doch alleine. Aber du wirst unseren See als Erster anschauen dürfen.«

      »Natürlich, ich freu mich schon darauf!«, antwortete Willy und setzte eine wichtige Miene auf. »Wir werden euer Meisterwerk gebührend einweihen. Ich werde einen schönen Krug mit eiskalter Limonade mitbringen. Ist das ein Wort?«

      »Ja, Opa!«, schrien die Zwillinge wie aus einem Mund. Lars’ Prioritäten hatten sich bereits wieder verschoben, und er konnte es kaum erwarten, seinem Großvater das Ergebnis ihrer Bemühungen zu präsentieren.

      So verbrachten die beiden Jungs den Rest des Tages am Fluss, dessen Ufer von Bäumen gesäumt war, die ihnen angenehmen Schatten spendeten, und tummelten sich auf der Sandbank, wo sie das Loch für ihren kleinen See noch tiefer gruben und von überallher Steine anschleppten, um den Staudamm auszubauen.

      Sie waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wie die Zeit verflog. Auch die zahlreichen Mückenstiche, die sie sich dabei zuzogen, ignorierten sie weitgehend. Erst als Mutter Astrid vor ihnen stand und sie mit vorwurfsvoller Miene aufforderte, mitzukommen und das Abendbrot einzunehmen, entfernten sie sich völlig verschmutzt von ihrer Baustelle.

      Während Lars sich der dreckigen Kleidung bewusst wurde und eine Schelte von Mama erwartete, kümmerte Gregor sich keinen Deut darum. Nachdem sie der Aufforderung, sich zunächst einmal gründlich zu waschen und neue Kleider anzuziehen, Folge geleistet hatten, stürzten sie sich mit Heißhunger auf das Abendessen. Bei Würstchen und Kartoffelsalat, ihrem gemeinsamen Leibgericht, mussten sie ihren Großvater in Bezug auf ihr Bauwerk nochmals um einen Tag vertrösten.

      »Aber morgen werden wir bestimmt fertig, Opa, ganz sicher!«, erklärte Gregor eindringlich, und Lars nickte eifrig.

      Und als Vater Claas auch noch in ihr Bauvorhaben eingeweiht werden wollte, überboten sich die Zwillinge mit Erzählungen und Beschreibungen über ihren selbstgebauten See. Es war beinahe unmöglich, sie in ihrem Redefluss zu unterbrechen und zur Nachtruhe zu mahnen. Maulend zogen sie ihr Nachthemd an und schlüpften unter die Decke.

      Nach dem Gutenachtkuss der Eltern und einer kurzen, aber haarsträubenden Geschichte von Opa Willy, wurde das Licht gelöscht. Im Dunklen dachten die beiden Jungs aber nicht im Geringsten ans Schlafen. Sie flüsterten sich gegenseitig zu, was es morgen noch alles zu erledigen gab und schmiedeten bereits neue Pläne.

      Am nächsten Morgen aß Lars sein Marmeladenbrot auf und machte sich für die anstehenden Arbeiten bereit. Gregor saß immer noch am Frühstückstisch und trödelte herum.

      Während er auf seinen Bruder wartete, fiel sein Blick auf das alte Klavier, das völlig unbenutzt im Nähzimmer seiner Mutter stand und bloß wegen Opa Willys beharrlichem Entgegenhalten noch nicht weggeschafft worden war. »Wer weiß schon, vielleicht werden Lars oder Gregor einmal darauf spielen wollen!«, hatte der Alte ständig gemahnt, als es wieder einmal darum ging, das Instrument zu entfernen.

      Lars kletterte auf den Stuhl, hob den Deckel und blickte auf die weißen und schwarzen Tasten, die ihn zum Ausprobieren aufforderten. Mit beiden Zeigefingern bearbeitete er unter glucksendem Lachen das Instrument – und erinnerte sich plötzlich wieder an die wundervolle Melodie, von der er am Vortag im Schweinestall so ergriffen gewesen war. Er hatte die Töne noch genau im Ohr und versuchte mit höchster Konzentration, die Tonfolge wiederzugeben, was ihm nach vielen verzweifelten Versuchen ansatzweise und seiner Meinung nach vortrefflich gelang.

      »Das Klavier muss unbedingt gestimmt werden. Es ist ja nicht zum Aushalten!«, grummelte Opa Willy aus der Küche, wo er Gregor ermahnt hatte, endlich vorwärts zu machen.

      »Mit dem Essen spielt man nicht, mein Kleiner! Deine Mutter möchte schon lange den Tisch abräumen, und dein Bruder wartet auf dich.«

      Nachdem seine Anweisungen endlich von Erfolg gekrönt waren, lauschte er Larsʼ ersten musikalischen Versuchen und meinte danach: »Ich werde jetzt mal bei Siggi vorbeischauen. Seine Frau haut auch mal in die Tasten. Da wird er doch bestimmt wissen, wo man so ’nen Klavierstimmer herbekommen kann.«

      Sprach’s und machte sich bereit, um gemeinsam mit Churchill bei der Bäckerei Siegfried vorbeizuschauen.

      »Wo hab ich denn nur die verflixte Leine hingetan?«, wetterte er aus der Scheune, während das Schwein aufgeregt in seiner Bucht umhertänzelte. Es liebte Spaziergänge ins Dorf und spürte genau, wann es wieder soweit war.

      Lars dagegen war völlig versunken in das Klavierspiel und testete fleißig neue Tastenfolgen aus, woraus neue Melodien entstanden. Mit Erstaunen stellte er fest, welche Klänge durch das Drücken von mehreren Tasten erzeugt wurden und konnte sich gar nicht mehr vom Instrument losreißen.

      Erst als Gregor laut schreiend ins Nähzimmer stürmte und ihn an die noch anstehenden Arbeiten am Fluss mahnte, beendete