Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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mich vorzustellen. Mein Name ist Bengt Fleischhauer.«

      Zögerlich ergriff Lars die entgegengestreckte Hand und verzog für einen kurzen Moment das Gesicht wegen des starken Händedrucks des Arztes.

      »Merkwürdiger Name«, stellte er fest und musterte den Hünen von Kopf bis Fuß. »Nomen est omen, nehme ich mal an.« Er konnte sich den imposanten Fleischhauer bildhaft vorstellen, an einem gedeckten Tisch sitzend und ein Steak um das andere lustvoll verzehrend.

      »Ich bin Vegetarier«, entgegnete der Arzt, ohne eine Miene zu verziehen. Die imaginäre Szene löste sich in Lars’ Vorstellung mit einem lauten Knall auf, und anstelle der Fleischstücke erschien ein Teller, vollgefüllt mit Rohkost.

      »Sie sind Vegetarier!«, prustete Lars los und konnte sich kaum mehr zurückhalten. »Mein Gott, wie passend! Das ist ja wohl ein Witz.«

      »Das ist es in der Tat«, meinte Fleischhauer, ohne auch nur das geringste Anzeichen eines Lächelns im Gesicht. »Aber Sie müssen zugeben: Seine Wirkung ist beeindruckend und lockert jegliche Anspannung im Nu auf.«

      Lars blieb der Mund offenstehen, und er folgte mit den Augen seinem Gesprächspartner, der sich umgedreht hatte und um den mächtigen Schreibtisch herum zu seinem Bürosessel zu schritt. Er setzte sich geräuschlos hin, faltete seine Hände und stützte die Ellbogen auf die Schreibtischoberfläche.

      Nachdem man sich gegenseitig ausführlich gemustert hatte, nahm Lars die gewaltige Bücherwand ins Visier und beäugte interessiert die Buchrücken. Die meisten Publikationen waren in englischer Sprache verfasst, die Autoren ihm gänzlich unbekannt. Am Ende eines Regals erkannte er ein paar Titel von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung und fragte in den Raum hinein, ohne sich von der Bibliothek umzudrehen:

      »Sind Sie Freudianer?«

      Als die Antwort ausblieb, wandte er den Kopf dem Arzt zu und nahm dessen anerkennendes Nicken wahr.

      »Die Theorien von Freud sind eine wichtige Grundlage unserer Wissenschaft. Haben Sie etwas von ihm gelesen, Herr van Loon?«

      Lars zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Ich kann mir nicht alles merken.«

      »Dann werden seine Theorien Sie nicht besonders beeindruckt haben.« Doktor Fleischhauer saß immer noch in unveränderter Pose hinter seinem Schreibtisch. »Sonst würden Sie sich gewiss daran erinnern.«

      »Wahrscheinlich«, brummte Lars und kratzte sich im Haar.

      »Wollen wir uns nicht gemeinsam hinsetzen, Herr van Loon?« Der Arzt war aufgestanden und wies in die Besucherecke, wo zwei Freischwinger mit verchromtem Gestell und schwarzem Lederbezug in einer Distanz von etwa zwei Metern einander gegenüber aufgestellt waren. Er griff nach einem Klemmbrett aus Aluminium und begab sich an die vorgeschlagene Stelle. Vor seinem Stuhl blieb er stehen und wartete, bis Lars schließlich der Aufforderung Folge leistete und sich in penetrant langsamem Schlendergang der Sitzgelegenheit näherte. Er blieb allerdings vor dem Stuhl stehen, nachdem Fleischhauer sich mit lässig übereinander geschlagenen Beinen bereits hingesetzt hatte und schielte aufs Papier, das unter der Klammer befestigt war. Es war ein blankes, leeres Blatt, das ihm jungfräulich entgegenstrahlte.

      Der Arzt deutete ihm mit einer Handbewegung an, doch auch Platz zu nehmen, und so ließ sich Lars seufzend auf das Leder sinken. Mit weit gespreizten Beinen testete er den Stuhl, indem er leicht hin und zurück wippte. Plötzlich verharrte er in seiner Bewegung und starrte Doktor Fleischhauer mit weit aufgerissenen Augen an.

      »Ich gebe diese Woche ein Konzert. Ich sollte schon lange in der Probe sein.«

      Aufgeregt schoss er aus dem Sessel hoch und eilte zur Tür. Draußen auf dem Korridor blickte er nach links und nach rechts und senkte resigniert seinen Kopf. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung er fliehen sollte.

      »Herr van Loon«, hörte er die ruhige, sonore Stimme Doktor Fleischhauers in seinem Rücken. »Bitte beruhigen Sie sich doch und setzen Sie sich wieder hin. Ich verspreche Ihnen: Sie werden bestimmt nichts verpassen.«

      Lars stützte sich am Türrahmen ab und ließ den Kopf hängen. Er empfand völlige Leere, kam sich vor, wie in einem gewaltigen Vakuum, in dem er kopfüber und komplett orientierungslos schwebte. Dieses Nichts schien sich langsam aber bestimmt in seinem Kopf breit zu machen und sein Gehirn kontinuierlich in Luft aufzulösen.

      »Herr van Loon.« Hatte die Stimme des Arztes eine leicht bedrohliche Nuance angenommen oder bildete sich Lars das bloß ein? Noch immer hatte er das Gefühl, dass er sich Schritt für Schritt aus dieser Welt entfernte und an einem Ort eingetroffen war, an dem keine Entscheidungen getroffen werden mussten und keine Gedanken zu fließen brauchten. Es war einfach nur noch ein Dahingleiten ohne einengende Konventionen und Ansprüche. Fühlte sich so das Sterben an?

      Als er eine schwere Hand auf seiner Schulter fühlte, schrie er laut auf und glaubte zunächst, in das Gesicht von Gevatter Tod zu blicken. Doch dann konnte er die randlose Brille und den gepflegten Dreitagebart einwandfrei Doktor Fleischhauer zuordnen und entspannte sich ein wenig.

      »Bitte, Herr van Loon.« Der Arzt deutete mit eindringlicher Geste in die Richtung der Besucherecke. »Wir wollen doch endlich unser Gespräch aufnehmen.«

      Lars ließ sich widerstandlos wieder auf den Stuhl setzen und beugte sich vornüber, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt.

      Wie war er nur hierhergekommen? Wenn er sich doch bloß erinnern könnte!

      »Sie sprachen von einem Konzert, Herr van Loon.« Doktor Fleischhauer hatte sich wieder ihm gegenübergesetzt und schrieb eine kurze Notiz. Danach hatte Lars wieder seine volle Aufmerksamkeit. »Erzählen Sie mir mehr darüber. Wo werden Sie auftreten?«

      Noch immer schien sich anstelle des Gehirns eine große, leere Blase in Lars’ Kopf eingenistet zu haben. Verwirrt blickte er in Fleischhauers graublaue Augen, die ihn aufmerksam musterten, und suchte verzweifelt nach einer geeigneten Antwort.

      »In der Philharmonie«, brachte er schließlich hervor.

      »Naja.« Der Arzt kratzte sich am Kinn. »Da gibt es einige davon. Wir sind hier in Bern, Herr van Loon. Sie befinden sich in einer Psychiatrischen Privatklinik und wurden gestern von einer Polizeistreife bei uns eingeliefert. Haben Sie irgendeine Erinnerung daran?«

      Polizei. Lars’ Blick ging durch Doktor Fleischhauer hindurch. Verzweifelt kramte er in seinen Erinnerungen. Da war nichts. Es war wie ein leergeräumter und klinisch sauber geputzter Raum, in dem nicht die geringste Kleinigkeit an die Bewohner erinnerte.

      »Herr van Loon?« Die Stimme wurde eindringlicher. »Erinnern Sie sich?«

      Lars schüttelte langsam den Kopf. Wenn er aus diesem Albtraum nur aufwachen könnte!

      Der Arzt erhob sich erneut, trat zu seinem Schreibtisch und nahm eine Akte zur Hand. Er schob seine Brille in die Stirn und vertiefte sich für einen Moment in das Dokument. Dann nickte er wissend und begab sich zu Lars zurück. Erneut notierte er sich etwas, nachdem er sich gesetzt hatte.

      »Wie geht es Ihnen denn?«

      Lars beugte sich nach vorne.

      »Mir geht es hervorragend, Doktor. Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin, aber ich fühle mich ausgezeichnet. Wie bereits gesagt, bin ich daran, ein Konzert vorzubereiten. Wann kann ich also nach Hause gehen?«

      Fleischhauer ging nicht auf Lars’ Frage ein. Er machte sich weiterhin Notizen und meinte, ohne aufzublicken:

      »Ist Ihnen das schon häufiger passiert?«

      »Was meinen Sie?«

      »Gedächtnisverluste, Erinnerungslücken.« Er hob den Kopf und sah Lars direkt in die Augen. »Wutanfälle. Hat es das schon öfters gegeben?«

      Lars hielt dem Blick des Arztes stand, und wie aus dem Nichts sprudelte es aus ihm heraus:

      »Wenn man darüber redet, wird auch das Einfachste gleich kompliziert und unverständlich.«

      Fleischhauer legte den Stift auf den Schreibblock