Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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nicht mit ganzem Herzen bei der Arbeit – die Melodien und Klänge verfolgten ihn den ganzen Tag über, und er freute sich bereits auf den Abend, wenn er sich wieder ans Klavier setzen konnte.

      So übte Lars von nun an fleißig auf dem Instrument Mozarts Melodie, entdeckte ständig neue Varianten und Tonfolgen, und nachdem das Klavier endlich gestimmt worden war, wurden seine Versuche auch akustisch einigermaßen erträglich. Allerdings vergaß er meistens, dass auch die schwarzen Tasten mit einbezogen werden müssten.

      »Fis!«, schrie Opa Willy aus dem Badzimmer, als sein Enkel wieder einmal einen Halbton danebengehauen hatte und wurde dabei von grunzender Zustimmung unterstützt.

      »Vater!« Astrid van Loon stürmte die Treppe herunter. »Du hast das Schwein doch nicht in unser Haus gebracht?«

      Nahe an einem Schwächeanfall hielt sie sich am Holzrahmen fest, nachdem sie die Badezimmertür aufgestoßen hatte, die nur leicht angelehnt worden war. In der Badewanne räkelte sich zufrieden Churchill und genoss den Strahl der Duschbrause, mit welchem er von Opa Willy gewissenhaft abgespritzt wurde.

      »Ich weiß gar nicht, wo das Problem ist, Tochter«, meinte der Angesprochene, hielt in der anderen Hand eine Flasche Shampoo und überlegte sich, ob er seinen Liebling damit einseifen sollte. »Es ist so heiß draußen, da hat Churchill sich durchaus eine kleine Abkühlung verdient.«

      »Vater, du erinnerst dich doch gewiss an den Fluss. Am Fuß der Böschung, keine hundert Meter von hier entfernt. Dort, wo die Zwillinge so gerne spielen.« Astrid verwarf die Hände. »Dort kann sich das Schwein wälzen und austoben, wie es will. Mein Gott, es gehört doch nicht in die Badewanne!«

      »Tochter!« Opa Willy schüttelte den Kopf und studierte aufmerksam das Fläschchen. »Wir sind doch keine Landstreicher. Auch ein Schwein hat ein Recht auf gründliche Körperpflege. Verdammt, wo habe ich bloß meine Brille wieder hingelegt?« Genervt schaute er sich um, und als er sein Lesegerät nicht finden konnte, zuckte er die Schultern und schraubte das Shampoo auf. »Egal, die leidgeplagten Borsten können durchaus ein wenig Seife vertragen. Nicht wahr, mein Schatz?« (Damit war nicht etwa seine Tochter gemeint.)

      Churchill hatte es sich inzwischen in der Badewanne gemütlich gemacht und sich hingelegt. Als sein ganzer Körper eingeschäumt wurde, entledigte er sich allerdings seiner Lethargie, indem er sich quiekend erhob und sich ausgiebig schüttelte.

      »Aber Churchill!« Der Alte stemmte die Hände in die Hüfte und setzte, von dem quer durchs Badezimmer fliegenden Schaum keine Notiz nehmend, zu einer Gardinenpredigt an. »Sei doch nicht so bockig. Wir wollen ja alle nur dein Bestes.« Und Richtung Nähzimmer schrie er: »Fis, Lars, Fis! Die schwarze Taste! Churchill und ich sind dir dankbar dafür!«

      »Ozat!«, krähte Lars aus der Stube und erwischte unter lautem Glucksen prompt den falschen Ton, während Churchill erneut ein erbärmliches Quieken von sich gab, was allerdings wohl eher mit seiner ungemütlichen Situation als mit der schrägen Melodie zu tun hatte.

      »Vater!« Astrids Stimme war eine Oktave höher gerutscht. »Ich bitte dich, hör auf damit! Das Schwein setzt das ganze Bad unter Wasser!«

      Verärgert drehte sich Opa Willy um und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seine Tochter. Ein deutliches Zeichen dafür war, dass er sich auf keine Diskussionen einlassen wollte.

      »Ich habe hier alles im Griff. Schließ die Tür von außen und lass mich mit Churchill allein. Kümmere dich gescheiter darum, dass Lars die schwarzen Tasten trifft. Sonst wird’s nichts mit Mozart.«

      Und als die Angesprochene keine Reaktion auf seine Anweisung zeigte, erhob er sich zu seiner vollen Größe und komplementierte sie mit seinen schaumigen Händen aus dem Badezimmer.

      »Die Verwandtschaft kann man sich nicht aussuchen«, hörte sie ihn hinter verschlossener Tür grummeln, bevor er sich wieder mit zärtlicher Stimme dem Eber zuwandte. »Und nun zu dir, mein Lieber! Sag mal, Churchill. Was soll das eigentlich?«

      Ja, was soll das eigentlich?, dachte sich Astrid und beschloss, dass es sinnlos wäre, sich mit ihrem Vater zu streiten. Und so setzte sie sich zu Lars ans Klavier, blendete den Lärm aus dem Badezimmer aus, und strich dem Jungen über seine dichten Locken.

      Lars genoss die Aufmerksamkeit seiner Mutter und übte beharrlich an Mozarts wundervoller Melodie, bis er sie fließend und korrekt wiedergeben konnte. Als er sie stolz am Abend nach dem Nachtessen der versammelten Familie vorspielte, klopfte ihm Opa Willy anerkennend auf die Schulter und meinte:

      »Glaub mir, mein Kleiner. Aus dir wird einmal ein ganz großer Musiker werden, das spüre ich im Urin.«

      »Ozat!« Lars strahlte seinen Großvater an, wandte sich wieder dem Klavier zu und probierte neue Tonfolgen aus.

      Fasziniert beobachtete die ganze Familie den Jungen, der ganz in die Musik vertieft war und sich von seiner Umwelt abgenabelt hatte.

      »Wenn seine Locken blond wären, dann sähe er wie ein Engel aus«, flüsterte Astrid ihrem Mann zu.

      Claas lächelte verträumt.

      »Ein Engel auf einer Wolke, der anstelle der Harfe auf dem Klavier spielt.«

      »Ich bin so stolz auf ihn«, seufzte die Mutter.

      Auch Gregor betrachtete aufmerksam seinen Bruder und dessen Fähigkeit, mit der er die Eltern in Glückseligkeit verfallen ließ.

      »Ein Engel«, murmelte er und streichelte die Katze, die sich auf seinem Schoss niedergelassen hatte. »Mein Bruder ist ein Engel.«

      3

      Signor Carbonara

      Februar 2017

      »Ihre Kindheit muss sehr harmonisch gewesen sein, Herr van Loon.« Doktor Fleischhauer hatte sein Klemmbrett auf den Beistelltisch gelegt, die Brille in die Stirn geschoben und mit wachsender Faszination den Schilderungen des Musikers gelauscht. Er würde anschließend noch genügend Zeit haben, um sich Notizen zu machen und das Gehörte zu analysieren. Ohne auch nur einmal zu unterbrechen, hatte er seinem Gegenüber ausreichend Raum geboten, um dessen Vergangenheit nochmals aufleben zu lassen.

      Lars hatte diese Freiheit ausgiebig genutzt und war tief in seine Kindheit eingetaucht. Wie ein Film waren die Bilder vor seinem inneren Auge durchgezogen, manchmal beinahe zu rasch, und am liebsten hätte er die eine oder andere Erinnerung für einen Moment festhalten wollen, um sie mit den aufkeimenden Emotionen anzureichern.

      Doch er drängte vorwärts, die Worte sprudelten nur so aus seinem Mund. Er bemerkte mehr als einmal, dass er sich selber ein wenig zügeln musste, damit der Arzt den Anschluss nicht verpasste und die Sätze in ihrem überbordenden Tempo auch verständlich blieben. Es war das erste Mal, dass er jemanden in seine Kindheitserinnerungen einweihte, aber er stellte fest, dass sie ihm problemlos über die Lippen flossen, wohl dadurch bedingt, dass er in ruhigen Stunden ständig wieder an die für ihn so schwerelose und liebevolle Zeit zurückdachte.

      Sogartig wurde er in die Vergangenheit hineingezogen. Da fiel ihm noch ein zusätzliches Detail ein und dort wäre noch eine weitere Geschichte zu erzählen gewesen. Doch er bemühte sich, den roten Faden nicht zu verlieren und zielstrebig auf seine ersten Erfahrungen mit dem Klavier zuzusteuern. Erst später sollte er sich selber die Frage stellen, durch wie viel romantisierende Verklärung seine Erinnerungen getrübt gewesen sein könnten.

      Nach der Episode mit Schwein Churchill in der Badewanne merkte er, wie erschöpft er war, wie ihn das Eintauchen in die Vergangenheit ausgelaugt hatte und wie froh er um eine Pause war, die ihm der Arzt mit einem zustimmenden Nicken gewährte.

      Wie aus dem Nichts hatte Doktor Fleischhauer eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläser hervorgezaubert, füllte diese randvoll auf und reichte Lars eines davon. Er prostete ihm zu.

      »Zum Wohl, Herr van Loon. Diese Erfrischung haben Sie sich redlich verdient.«

      In hastigen Zügen leerte Lars sein Glas bis auf den letzten Tropfen und streckte es dem Arzt entgegen. Dieser schenkte nach und beobachte, während er an seinem Getränk nippte, wie sein