Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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beiden.«

      Und schon ist sie wieder weg. Von hinten vernehme ich wieder Schmährufe, die von Franz mit ausgestrecktem Mittelfinger beantwortet werden, was einen vorwurfvollen Blick von Regula nach sich zieht. Er hebt beschwichtigend die Hände. Es fällt mir auf, dass sie sehr stark zittern, und als er sie vor sich auf den Tisch legt, bestätigt sich dieser Eindruck. Franz fühlt meine kritische Miene und verschränkt die Hände ineinander, wie wenn es ihm peinlich wäre, dass der Alkoholentzug so deutlich zu sehen ist.

      Wahrscheinlich arbeitet es in seinem Hinterkopf bereits auf Hochtouren, um die Frage zu beantworten, wann und wie er zur nächsten Bierdose kommen könnte. Meine Gesellschaft scheint ihn zumindest etwas von seiner ständigen Pflichtaufgabe, der Beschaffung von Alkohol, abzulenken.

      Er beugt sich nach vorne. »Lassen wir uns von diesen Idioten nicht stören«, flüstert er mir zu, schaut kurz mir kurz über die Schulter zum Tisch seiner ehemaligen Jasskameraden und drängt weiter: »Komm schon, erzähl. Wie ist es dir so ergangen? Wo bist du bloß gewesen? Wochenlang hört man nix mehr von dir, und dann bist du plötzlich wieder da. Ich hab mir Sorgen gemacht, Beethoven, echt jetzt.«

      »Moment, Moment«, beschwichtige ich ihn und beiße in den verführerisch riechenden Schokoladenkuchen. Das Gebäck lässt tatsächlich keine Wünsche offen! Mit einem entspannten Stöhnen lecke ich mir die Finger ab und spüle mit einem Schluck Kaffee nach.

      »Köstlich, nicht wahr?« Franz nickt anerkennend. »Ein Connaisseur der Haute Cuisine. Unser Beethoven kennt sich eben überall aus! Doch nun erzähl schon, mein Guter. Wo hast du dich rumgetrieben?«

      »Mal hier, mal dort. Wo es mir gerade so gefällt«, antworte ich ausweichend. »Bern ist schließlich nicht der einzige schöne Ort auf unserem Planeten.«

      »Wie machst du das bloß?« Franz staunt mich mit großen Augen an. Er zupft hektisch an seinem schmutzigen, knallbunt gestreiften Wollpullover herum. »Scheiße, Mann. Nimm mich mal mit. Ich hab keine Ahnung mehr, wie es außerhalb von dieser Stadt überhaupt aussieht. Mensch, Beethoven, du bist so ein cooler Hund! Lass dich nochmals drücken!«

      Er steht auf und schließt mich über den Tisch in seine Arme. Ich bin zutiefst berührt und klopfe ihm auf den Rücken. Dann nehmen wir wieder Platz, und ich beginne mit der Erzählung meiner Erlebnisse.

      5

      Schicksals-Symphonie

      September 1980

      So rasant der kleine Lars Fortschritte auf seinem Instrument verzeichnen konnte, so bergab ging es mit der Gesundheit von Churchill, dem Eber. Innerhalb weniger Monate schien das Tier sämtliche Lebensfreude verloren zu haben. Hatte es früher sich immer blitzschnell erhoben, wenn Opa Willy in den Stall getreten war, so blieb es nun apathisch liegen und nahm von seiner Anwesenheit keinerlei Notiz. Seine Futterrationen verschlang es lustlos, und schließlich rührte es das Essen überhaupt nicht mehr an.

      Doktor Jansen wurde regelmäßiger Gast auf dem Hof der Familie van Loon und konnte seinem Klienten keine große Hoffnung machen.

      »Schau, Willy«, meinte er betrübt, »das Tier ist neun Jahre alt, hatte ein schönes Leben und ist nun altersschwach geworden. Ich denke, dass die Zeit gekommen ist loszulassen.«

      »Loslassen?«, kreischte Opa Willy verzweifelt. »Was meinst du denn damit? Churchill ist ein Senior. Aber neun Jahre sind doch noch kein Alter! Er braucht bloß die entsprechende Pflege, wie wir Menschen sie im fortgeschrittenen Alter auch benötigen. Da ist er bei mir völlig richtig. Ich werde ihm ein nettes Schweinealtersheim einrichten. Er wird einen schönen Lebensabend im Hause van Loon verbringen dürfen, und es wird ihm an nichts fehlen. Doch auch er braucht seine Pillen und Pülverchen, genau wie wir, wenn wir älter werden. Vitaminpräparate, Schmerzmittel, was weiß ich schon. Dafür bist doch du zuständig, oder etwa nicht?«

      »Willy!« Doktor Jansen stellte seine Arzttasche auf den Boden, kniete sich zu Churchill hin und tätschelte dessen Flanke, ohne dass dieser Notiz davon nahm. »Hat das wirklich noch einen Sinn? Es gibt eine Zeit zum Leben und eine Zeit zum Sterben. Das Schwein hatte ein schönes Leben und nun ...«

      »Du sprichst von ihm, als ob er schon tot wäre«, unterbrach der Alte den Arzt mit zorniger Stimme. »Aber wenn du mir dabei nicht helfen willst – ich werde mich um Churchill kümmern. Ich weiß schließlich bestens, wie man sich im hohen Alter fühlt. Oder willst du mir auch gleich eine Todesspritze mit verpassen?«

      Jansen schüttelte resigniert den Kopf, erhob sich und griff nach seiner Tasche. Er wollte auf die Provokation hin noch etwas erwidern, doch als er die Tränen in den Augen des Alten glänzen sah, hielt er sich zurück. »Du weißt, wo du mich findest, wenn ich etwas für dich tun kann«, sagte er und tippte zum Abschied an die Hutkrempe. Zurück blieb ein alter Mann, verzweifelt und aufgewühlt, der nun, da er alleine war, die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Er legte eine Kassette in die Anlage, drehte die Lautstärke auf die höchste Stufe, und der Raum wurde von Mozarts Klängen beschallt, er hatte die g-Moll-Symphonie ausgewählt, die bis ins Wohnhaus hinüber zu hören war, sodass umgehend die Zwillinge in der Scheune auftauchten.

      Sie fanden ihren Großvater neben Churchill auf dem Boden liegend, den Arm um ihn gelegt und die Öhrchen streichelnd. In ihrem Alter konnten sie noch nicht genau verstehen, was vor sich ging, und sie knieten sich zu Opa Willy nieder und tätschelten das Schwein, das mit geschlossenen Augen die tröstenden Streicheleinheiten zu genießen schien.

      Am nächsten Morgen war Churchill tot.

      Opa Willy organisierte eine Trauerfeier, die hinter dem Stall auf der Wiese stattfand und zu der nur der engste Familienkreis eingeladen war, wie er energisch betonte

      Im Schweinestall mistete er gründlich aus, entfernte Churchills Wohnstube und errichtete einen kleinen Altar, auf den er neben zwei gerahmten Fotografien seines Liebsten sowie unzähligen Kerzen auch die Urne mit der Asche des verstorbenen Tieres stellte. Stundenlang konnte er sich dort aufhalten, auf einem Schemel sitzend, versunken in Erinnerungen und der Musik lauschend. Er hatte eine neue Auswahl mit Messen und Requiems getroffen, die in Endlosschleifen die Scheune auch akustisch in einen Ort der Trauer verwandelten.

      Die einzige Freude, die ihm in dieser Zeit das Leben noch zu versüßen vermochte, waren die unglaublichen Fortschritte, die der kleine Lars auf dem Gebiet der Musik erzielte. Der Klavierlehrer, Herr Steinmeyer, attestierte dem Jungen ein ungewöhnliches Talent, das nicht nur seine Technik mit einbezog, sondern auch das musikalische Verständnis sowie die Fähigkeit, einmal gehörte Melodien sofort und fehlerfrei nachzuspielen.

      Bereits mit sechs Jahren hatte er den Jungen an den Vortragsübungen von seinen deutlich älteren Klavierschülern teilnehmen lassen. Und während diese aufgeregt ihren Auftritten entgegenfieberten und einige kurz zuvor vor lauter Nervosität die Toilette vollkotzten, konnte Lars sich vor lauter Vorfreude fast nicht zurückhalten und musste regelrecht zurückgehalten werden, damit er nicht als Erster auf die Bühne stürmte.

      Mit zunehmendem Alter wurde der junge van Loon auch immer kritischer in Bezug auf die Korrekturhinweise, die er von seinem Klavierlehrer erhielt.

      Es war erst wenige Wochen her, als er sich Herrn Steinmeyer regelrecht widersetzte, als dieser seine Interpretation einer Diabelli-Sonate so nicht gutheißen wollte.

      »Und wer sagt denn, dass man das nicht auch so spielen kann?«, fragte er nach den tadelnden Hinweisen seines Klavierlehrers.

      »Beachte doch die Vortragsbezeichnungen. Und außerdem: Die Tradition will es so«, stellte dieser eindringlich fest.

      »Was heißt denn das nun wieder?« Lars war ganz außer sich. »Scheiß auf die Tradition! Ich finde, so klingt es viel besser.« Im nächsten Augenblick bereute er allerdings seinen Ausbruch, und als er den entsetzten Blick Steinmeyers auffing, entschuldigte er sich und ließ dessen Verbesserungswünsche über sich ergehen.

      Als er am Abend seinem Opa von der Klavierstunde erzählte, blickte dieser in die Ferne und sinnierte seufzend:

      »Churchill hat immer gesagt: