Martin Geiser

Beethoven in Sneakers


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er wirklich gesagt?«, wunderte sich Lars.

      »Er war ein sehr kluges Schwein«, antwortete Willy und wischte sich dabei eine Träne aus den Augenwinkeln.

      Von diesem Moment an probierte Lars, die Noten aus verschiedenen Betrachtungsweisen heraus zu lesen. Er variierte, improvisierte, schmückte aus und entdeckte ständig neue Bezugspunkte und Ansätze, die ihm ein vertieftes Verständnis zu dem bearbeiteten Stück ermöglichten. Selbstverständlich immer vor dem Erfahrungshorizont eines Neunjährigen – doch was das musikalische Empfinden betraf, da war er seinen Altersgenossen um Jahre voraus. Während den Klavierstunden spielte er allerdings so, wie es von seinem Lehrer verlangt wurde und ärgerte sich ständig mehr über die sturen Vorgaben, die an ihn gerichtet wurden und die er mit fortschreitender Dauer nicht mehr begreifen wollte.

      Gregor hatte die neue Lieblingsbeschäftigung seines Zwillingsbruders zunächst argwöhnisch verfolgt. Es war für ihn eine völlig fremde Welt, zu der er keinen Zugang fand. Und trotzdem wollte er herausfinden, was denn dieses Besondere sein könnte, das Lars so umtrieb und ihn immer wieder ans Klavier lockte.

      Er setzte sich einige Male selber ans Instrument und drückte auf den Tasten herum. Doch es gelang ihm nicht, die gleichen Klänge und Melodien hervorzubringen, die sein Bruder scheinbar mühelos aus dem Ärmel schütteln konnte.

      Mit sechs Jahren hatte er genug von seinen hoffnungslosen Versuchen und beschloss, dass er ebenfalls Klavierunterricht nehmen wollte. Doch schon nach einem halben Jahr stellte sich heraus, das ihm weder Technik noch Empfindungsvermögen beschieden waren, mit denen sein Bruder so mühelos umgehen und brillieren konnte.

      Astrid van Loon fand ihn weinend am Klavier vor und schloss ihn in die Arme.

      »Lars ist euer Engel«, jammerte Gregor. »Und was bin denn ich?«

      »Aber mein Schatz.« Die Mutter war erstaunt über den plötzlichen Ausbruch ihres Sohnes und streichelte seine Wange. »Hast du gemeint, dass wir Lars mehr lieben als dich, weil er ein außergewöhnliches musikalisches Talent hat?«

      »Er ist euer Engel«, beharrte der Junge. »Ich bin nichts.«

      Sie tröstete ihn und versuchte mit beruhigenden Worten, Gregors Sichtweise wieder zurecht zu rücken.

      »Wolltest du nur deshalb mit Klavier spielen beginnen?«, fragte sie ihn. »Hast du gemeint, dass wir dich dann mehr lieben würden? Du bist doch auch unser Engel. Wir lieben euch beide, egal was ihr tut.«

      Als am Abend die beiden Jungs im Bett waren, rief sie ihren Mann und Opa Willy zu Tisch und erzählte ihnen, was am Nachmittag vorgefallen war.

      »Haben wir Lars etwa zu viel Aufmerksamkeit geschenkt?«, wunderte sich Claas. »Das war mir nicht bewusst. Ich war überzeugt davon, dass Lars und Gregor von mir die gleiche Zuneigung erhalten und dass ich ebenso viel Zeit mit dem einen wie mit dem anderen verbringe.«

      »Also gar keine«, krächzte Opa Willy zynisch und erntete dafür einen bösen Blick seiner Tochter.

      »Lass ihn«, stoppte Claas seine Frau, die gerade zu einer gewiss nicht freundlichen Erwiderung ansetzen wollte. »Er hat ja recht. Ich kümmere mich wirklich zu wenig um die beiden. Ich arbeite zu viel, und wenn ich zu Hause bin, beschäftige ich mich mit der Frage, was an unserem Hof noch zu verbessern ist.«

      »Darum geht es jetzt im Moment aber nicht«, meinte Astrid. »Darüber können wir ein andermal sprechen. Jetzt geht es um die Jungs. Vater.« Opa Willy sah erstaunt hoch. »Ich glaube, auch du solltest dich vermehrt mit Gregor abgeben. Es dreht bei dir sehr häufig immer alles um Lars. Musik, Musik und nochmals Musik. Ich denke, auch du könntest deinen Teil dazu beitragen, dass Gregor sich nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühlt.«

      »Mag schon sein.« Der Alte knetete seine Finger. »Aber irgendjemand muss einem Jungen mit diesem ungewöhnlichen Talent ja zur Seite stehen, ihn beraten und für ihn da sein.« Er schwieg einen Moment und sah seine beiden Gegenüber mit ernstem Blick an. »Ihr Zwei seid es auf jeden Fall nicht.«

      Mit Beginn der Schulpflicht normalisierte sich das Verhältnis der Zwillinge wieder. Es wurde gar noch intensiver, wodurch eine starke Bindung zwischen den zwei Brüdern geknüpft wurde.

      Gregor fand rasch Anschluss und knüpfte neue Freundschaften mit Kameraden, welche die gleichen Interessen hatten: Fußball, durch den Wald streifen und von großen Abenteuern träumen oder Indianer spielen. Die freien Nachmittage verbrachte er mit seinen Freunden, tollte draußen herum und kam oft mit schmutzigen oder zerrissenen Kleidern nach Hause.

      Lars hingegen war von Beginn weg ein Eigenbrötler, der die Freizeit lieber am Klavier verbrachte und in die Welt der Musik eintauchte. Er unterschied sich massiv von seinen Klassenkameraden durch eine ungewöhnliche Reife und eine unbeirrbare Zielstrebigkeit. Seine Leistungen waren tadellos, und die Prüfungen meisterte er im Handumdrehen, was ihm natürlich den Ruf eines Strebers einbrachte. Er suchte keine Kontakte, spielte in den Pausen auf einem Luftklavier und summte dabei flotte Melodien.

      Damit war er das ideale Opfer für seine Kollegen. Sie machten sich lustig über ihn, stellten ihm das Bein oder lauerten ihm gar auf. Doch sie hatten die Rechnung ohne Gregor gemacht, der die Rolle des Beschützers seines Bruders annahm und ihm konsequent zur Seite stand.

      Durch das hohe Ansehen, das Gregor in der Schule genoss und dem Umstand, dass man es mit ihm nicht verscherzen wollte, verloren die Kinder das Interesse an Lars und ließen ihn in Ruhe. Der eine oder andere faule Spruch war nicht ganz zu vermeiden, aber größtenteils wurde seine Andersartigkeit gar akzeptiert, und man nannte ihn, nicht ganz ohne Spott Gregors kluger Bruder.

      »Du bist mein Schutzengel, Bruderherz«, sagte Lars oft zu Gregor. »Ohne dich würde es mir sehr schlecht gehen.«

      »Du bist doch der Engel«, meinte dieser dann lachend, »auch ohne blonde Haare.«

      Es hatte sich in ihm eine Faszination für die Begabung seines Bruders entwickelt, und er liebte es, am Abend nach dem Nachtessen auf dem Sofa zu fläzen und Lars beim Klavierspielen zu beobachten. Es gelang ihm nicht, die Leidenschaft für Musik zu teilen. Sie war für ihn eine Sprache, die er nicht verstand und zu der er keinen Zugang fand. Aber er konnte Lars’ Begeisterung spüren, wenn dieser auf dem Instrument spielte oder über Musik sprach. Und er war überzeugt davon, dass aus seinem klugen Bruder mal etwas ganz Besonderes werden würde, etwas, worauf er stolz sein konnte.

      Vergessen war seine einstige Eifersucht, dass sein Bruder von den Eltern mehr Aufmerksamkeit genießen und mehr Liebe erhalten könnte. Im Gegenteil, wenn er seinen Bruder am Klavier, in die Musik vertieft, beobachtete, so konnte er sogar verstehen, weshalb sie in ihm einen Engel gesehen hatten.

      »Wie ein Engel«, murmelte er, »ein kleiner Engel.«

      Und plötzlich hatte Gregor dieses Wort im Kopf, diesen Namen. Angelino. Er hatte keine Ahnung, wie er darauf gekommen war. Es war einfach da, und er fand, dass es zu seinem Bruder passte, wie die Faust aufs Auge. Er klatschte vergnügt in die Hände, erhob sich vom Sofa und trat zu Lars, der gerade in eine Etüde vertieft war.

      »Das machst du großartig, Angelino«, sagte er und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Als er in das verwunderte Gesicht seines Bruders blickte, lachte er verschmitzt und rannte in einem Höllentempo nach oben in sein Zimmer, wo er sich außer Atem aufs Bett warf und zu seinen Walt-Disney-Heften griff.

      An einem prächtigen Spätsommertag anfangs der Achtziger-Jahre spaltete Opa Willy vor der Scheune Holz, und Gregor stapelte die Scheite unter dem Vordach. Aus dem offenen Fenster drangen die Läufe eines Mozart-Klavierkonzerts nach draußen, das Lars für eine Vortragsübung vorbereitete.

      Der Großvater ließ häufig die Axt sinken und lauschte der Musik. Außerdem schmerzte ihn bei dieser kräftezehrenden Arbeit der Rücken, sodass die Unterbrechungen sich sehr häuften.

      »Er ist gut, dein Bruder, nicht wahr, Gregor?«, meinte der Alte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er trug bloß seine verwaschene Cordhose mit den Hosenträgern. Sein Oberkörper war nackt und glänzte in der Sonne.

      »Angelino