Leo Gold

Gottes kleiner Partner


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zu Boden pressen wollte, sagte er ihm, er wolle ihm nur kurz Dr. Zey vorstellen. In den kommenden Tagen könne er sich mit ihm in Ruhe zusammensetzen und die Übergabe der Geschäftsführung des Bauausschusses vornehmen.

      Nachgiebig akzeptierte Herr Sonnenzweig Direktor Saalfelds Anweisung und hielt Julius die Schale mit den Keksen hin:

      „Wenigstens eine kleine Wegzehrung für den restlichen Rundgang. Ich schreib ihnen eine E-Mail, wann wir uns treffen können.“

      Bei Herrn Molitor erfolgte Julius Vorstellung in der Knappheit, in der es sich Direktor Saalfeld erhofft hatte. Nach drei Minuten, guten Wünschen für den Arbeitsbeginn und der Bitte, um 14 Uhr zu ihm zu kommen, verließen sie ihn wieder.

      Viele kräftige Männer- und zarte Frauenhände begrüßten Julius, bis sie schließlich vor Frau Eichhorn standen. Julius erkannte sie als die Pendlerin, die er morgens am Bahnhof getroffen hatte, die Frau mit dem Frühlingsmantel, die einen kräftigen Schluck Wasser aus einer Plastikflasche getrunken hatte. Sie kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und schaute Julius unsicher an. Nachdem sie Direktor Saalfeld die Hand gab, wandte sie sich an Julius:

      „Grüß Gott, Dr. Zey. Herzlich willkommen.“

      „Grüß Gott, Frau Eichhorn“, antwortete Julius. Er überlegte kurz, ob er sie auf das morgendliche Zusammentreffen ansprechen solle.

      „Kann es sein, dass wir uns am Bahnhof begegnet sind?“

      Ehe Frau Eichhorn zur Antwort ansetzte, sagte Direktor Saalfeld:

      „Stimmt. Sie wohnen in derselben Stadt. Und sie fahren auch noch beide mit dem Zug. Dann nutzen sie die Zeit am besten und reden dort über Geschäftliches.“

      Direktor Saalfeld war klar, dass nicht jeder, wie er, jede Minute, die er im Auto oder Zug verbrachte, damit ausfüllte, per Telefon dienstliche Fragen zu klären. Frau Eichhorns Gesichtsausdruck verriet, dass sie, wie Julius, morgens im Zug lieber etwas anderes tat, als sich schon mit der Arbeit zu beschäftigen oder sich mit Kollegen darüber zu unterhalten. Da Frau Eichhorn nicht wusste, was sie auf Herrn Direktor Saalfelds Bemerkung antworten solle, sagte Julius:

      „Das find ich prima, dass wir in derselben Stadt wohnen. Wir begegnen uns sicher öfters mal im Zug.“

      Über Frau Eichhorns Mund huschte ein abgerungenes Lächeln. Sie schien froh zu sein, dass Julius Direktor Saalfelds Vorschlag ins Feld der Möglichkeit abgelenkt hatte. Um weitere persönliche Fragen zu verhindern und sich bald wieder hinter ihren Schreibtisch zurückziehen zu können, sagte sie:

      „Ich glaub, ich hab sie am Bahngleis heute Morgen auch gesehen. In unserer Richtung fahren am Morgen ja nicht viele Leute zur Arbeit. Wir sehen uns da bestimmt mal wieder. Ich komme in den nächsten Tagen bei ihnen im Büro vorbei. Ich werde ihnen etwas über meinen Arbeitsbereich erzählen. Aber wir müssen nichts überstürzen.“

      „Ich denke, sie sollten nicht zu lange mit der Einführung in ihren Arbeitsbereich warten, Frau Eichhorn“, sagte Direktor Saalfeld und fügte hinzu: „Ende dieser Woche sollte es spätestens erledigt sein.“

      „Das kriegen wir hin“, sagte Frau Eichhorn, wonach sie erst Direktor Saalfeld, anschließend Julius, ihre Hand zur Verabschiedung gab. Sie kratzte sich an ihrem Hals und brachte die beiden zur Tür.

      Direktor Saalfeld eilte mit Julius die Treppen in den zehnten Stock hinauf. Er hatte nicht mehr viel Zeit, Julius den Angestellten der Direktion vorzustellen. Sein nächster Termin stand kurz bevor.

      Über die Sekretärinnen sagte Direktor Saalfeld, sie seien die Gruppe der Mitarbeiter, die sich über die drei Stockwerke am einheitlichsten zeige und die die Binnenidentität der Sektionen teilweise öffne. Ihre gegenseitige Treue verbinde sie. Viele von ihnen kämen aus dem nahe gelegenen, vom Katholizismus geprägten Landstrich. Und viele entsprächen dem sympathischen Typus einer katholischen, deutschen Frau mittleren Alters. Sie wären fleißig und legten Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Zudem – und das sei ihre feinste Eigenschaft – trügen sie mit ihrer mütterlich menschlichen Art den entscheidenden Anteil daran, dass ein Mindestmaß an emotionaler Wärme in der Verbandsverwaltung nicht unterschritten werde.

      Herr Liebig, der zweite Architekt, aß gerade ein belegtes Brötchen, als Direktor Saalfeld in dessen Büro trat, von Julius gefolgt. Herr Liebig war überrascht. In seinen Gedanken versunken hatte er die beiden nicht gesehen, wie sie durch die anderen Büros gelaufen waren. Wegen der Schallschutzglaswände, hier im zehnten Stock, konnte er sie auch nicht hören. Standen bei den anderen Mitarbeitern die Glastüren allesamt offen, bemerkte Julius erst, als Direktor Saalfeld die Glastür von Herrn Liebigs Büro hinter sich schloss, welche Wirkung die Schallschutzglaswände erzeugten. Es war mucksmäuschenstill. Wie einem Taubstummen erschien Julius die außerhalb liegende Büroszenerie.

      Herr Liebig legte das Brötchen in eine Schreibtischschublade und beeilte sich, während sich Julius vorstellte, seinen letzten Bissen schnell zu zerkauen, dass er ihn hinunterschlucken konnte. Er sagte, er freue sich, zukünftig mit Julius zusammenzuarbeiten. Julius bedankte sich. Sie schwiegen. Direktor Saalfeld, der immer ungeduldiger wurde, erinnerte Herrn Liebig an die beiden Gespräche am Nachmittag, worauf sich alle voneinander wieder verabschiedeten.

      Auf dem Weg ins Büro der Pressesprecherin erzählte Direktor Saalfeld, dass der Leiter der Abteilung für Sozialpolitische Grundsatzfragen, Dr. Himmelstingel, noch die nächsten zwei Wochen seinen Urlaub in der Toskana verbringe, sie also vor dem Ende des Rundgangs nur noch der Pressesprecherin Hallo sagen müssten, weil der Bauzeichner von Julius Abteilung – Herr Schuhmacher – an diesem Vormittag frei habe.

      Die Pressesprecherin Frau Eisler war eine zarte Person, dessen Haupthaar hinter den beiden großformatigen Bildschirmen auf ihrem Schreibtisch, auf dem sich Zeitungen, Broschüren, Plakate und verschiedene Werbematerialien stapelten, hervorschaute.

      Interessiert schaute Frau Eisler Julius an, während Direktor Saalfeld freundliche Worte über ihn sagte. Seine Frage, ob sie Julius neben dem Verbandspressespiegel auch den der Bischöflichen Verwaltung weiterleiten könne, setzte sie einem Dilemma aus. Sie äußerte zunächst ihre Bedenken wegen des Datenschutzes. Es sei bereits eine Ausnahme, dass sie als Externe den Pressespiegel der Bischöflichen Verwaltung erhalte. Letztlich sagte sie aber doch zu, Julius täglich beide Pressespiegel per E-Mail zuzusenden.

      Julius war froh, als er das Büro von Frau Eisler verließ. Eine weitere Hürde seines ersten Arbeitstags, das Kennenlernen der Kollegen, hatte er übersprungen. Direktor Saalfeld sagte ihm noch, dass er in drei Monaten beim ‚Plenum‘ die Möglichkeit habe, sich vor allen Mitarbeitern vorzustellen. Das ‚Plenum‘ sei eine halbjährliche Veranstaltung, bei der sich alle Kollegen der Verbandsverwaltung träfen und über gemeinsame Fragen berieten. Sie vereinbarten, dass sie sich am Mittwochmorgen in Direktor Saalfelds Büro wiedersehen würden, um über die wichtigsten aktuellen Aufgaben zu sprechen. Den Dienstag solle Julius nutzen, sich in die Ordner einzuarbeiten und sich mit dem status quo vertraut zu machen.

      Julius schloss die Tür seines Arbeitszimmers. Wie bei Frau Eisler und Dr. Himmelstingel, die beiden anderen Abteilungsleiter der Direktion, waren die Jalousien blickdicht verschlossen.

      Er ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken, das Fenster im Rücken, vor dem sich das Stadtpanorama ausbreitete. Die ohrenbetäubende Stille, die er in Herrn Liebigs Büro das erste Mal bewusst erlebt hatte, schützte nun seine Innen- vor der Außenwelt.

      Julius musste an eine Fischart denken, die er bei seinem letzten Zoobesuch entdeckt hatte. Es handelte sich um den ‚Indischen Glasbarsch‘ (Parambassis ranga). Zum Zwecke der Tarnung entwickelten sich seine Vorfahren zu ‚unsichtbaren‘ Fischen. Seine Haut war durchsichtig. Die Fressfeinde konnten durch den gläsernen Körper hindurchsehen und bemerkten ihn (im Idealfall) nicht. Da Julius vom Indischen Glasbarsch zuvor nie gehört hatte, blieb er lange vor dem Aquarium stehen und beobachtete fasziniert ein Exemplar dieser Gattung. Als hätte es ihm seinen Wunsch von den Augen abgelesen, kam es mehrere Male an die Glasscheibe geschwommen und wandte sich ihm seitlich zu, so dass er das Rückenmark, die Gräten, die Kiemen, sowie kurz hinter den Augen sein pulsierendes Herz erkennen konnte. Der Indische Glasbarsch hörte nichts, genauso wie Julius. Der