Leo Gold

Gottes kleiner Partner


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Kummer hatte. Sie erzählte, dass es ihrer Mutter momentan schlecht gehe. Deren Rückenschmerzen plagten sie wieder. Auch Rosa sah blass aus. In sechs Monaten, am Ende von Julius Probezeit war der Geburtstermin ihrer Tochter berechnet worden. Darauf freuten sie sich sehr.

      „Jetzt hab ich ganz vergessen zu fragen, wie es bei dir war. Wie war’s denn?“, erkundigte sich Rosa, worauf ihr Julius von seinem ersten Arbeitstag erzählte.

      Er wusste, wie wichtig es ihr war, dass er sich wohlfühlte. Deswegen konzentrierte er sich auf die erfreulichen Aspekte, konnte dabei ein Déjà-vu aber schwer verdrängen: Er glaubte, in seine Schulzeit zurückversetzt zu sein, in der ihn seine Eltern unnachgiebig fragten, wie es in der Schule gewesen sei und er keine Lust hatte, darüber zu sprechen.

      In der Nacht schlief Julius schlecht. Müde ging er am Morgen zum Bahnhof und setzte sich in den Zug. Ab und an nickte sein Kopf unkontrolliert nach vorn oder nach hinten weg. Erst der ansteigende Lärm der Schüler schob seine Müdigkeit beiseite. Nur noch eine Haltestelle und auf der Digitalanzeige erschien das Wort ‚Endstation‘.

      Die letzten Minuten, die Julius in der Regionalbahn verbrachte, schaute er aus dem Fenster hinaus. Die Sonnenstrahlen schnitten Schneisen in den Morgendunst, der über den Feldern lag. Am Waldrand stand ein Bretterverschlag, aus dessen Schornstein Rauch in kleinen Wolken quoll. Julius mutmaßte, ein Schäfer würde sich darin aufhalten, trinke seinen Morgenkaffee und sein Hund wärme ihm die Füße.

      Die schrillen Bremsgeräusche ließen die Luftblase der Morgenphantasie zerplatzen. Der Zug kam zum Stehen. Julius bahnte sich zwischen den Schülern einen Weg, um vor ihnen den Bahnhof zu verlassen und nicht auf Frau Eichhorn zu treffen, die er ebenfalls im Zug vermutete, obwohl er sie vor der Abfahrt am Bahngleis nicht gesehen hatte.

      An diesem Tag standen nur die drei Gespräche mit den Sektionsleitern auf dem Programm, die am Vortag eine Tagung besucht hatten. Vorher wollte Julius noch die 24 E-Mails bearbeiten. Zu diesen waren 29 neue hinzugekommen. So schnell rächte es sich, Aufgaben zu verschieben. Wenigstens blinkte das rote Licht am Anrufbeantworter nicht. Von den 53 E-Mails konnte Julius zwanzig schnell erfassen und brauchte sie nur zur Kenntnis zu nehmen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die restlichen 33 E-Mails am Nachmittag zu bearbeiten.

      Drei Minuten vor neun. Er musste ins Büro von Herrn Dankmeier, dem Sektionsleiter der Alten- und Behindertenhilfe. Er zog sein Jackett an, klemmte sich sein Notizheft unter den Arm und ging in die achte Etage. Die Tür zu Herrn Dankmeiers Büro stand offen. Anfangs stellten sie sich einander vor, Name, Kurzbiographie, Suche nach Gemeinsamkeiten. Später unterhielten sie sich längere Zeit über München, wo Herr Dankmeier studiert hatte, der stark weitsichtig war, so dass Julius glaubte, von zwei magischen Kristallkugeln betrachtet zu werden.

      Herrn Karstrop, den Leiter der Sektion Familienhilfe, den Julius anschließend kennen lernte, umgab ein mysteriöser Schleier. Er war ungewöhnlich zugänglich, erzählte Julius beispielsweise, dass sein Vater in einem Pflegeheim untergebracht sei und dass er als junger Sozialpädagoge in einer Einrichtung zwangsweise einen Bewohner gewaschen habe. Das gehe ihm bis heute nach. Er wünsche sich eine transparente Kommunikation und eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Am Ende des Gesprächs gab er ihm ein Faltblatt mit, auf dem Julius nachlesen könne, für was seine Abteilung zuständig sei.

      Seinen letzten Antrittsbesuch machte er bei Frau Larson, die der Sektion Kinder- und Jugendhilfe vorstand. Ihre Mutter stammte aus Schweden, der Vater aus Norwegen. Sie erzählte Julius von der bevorstehenden Geburt ihres ersten Kindes. So verband sie von Anfang an eine frohe Erwartung. Frau Larsons Kleidungsstil war skandinavisch schnörkellos. Ihr feines, blondes, langes Haar vervollständigte das Bild einer schönen Europäerin.

      Nachdem Julius in einem Straßencafé mit Frau Larson zu Mittag gegessen hatte und ins Büro zurückgekehrt war, lag die Tagespost auf seinem Schreibtisch. Die Lampe des Anrufbeantworters blinkte rot und neue E-Mails warteten auf eine Antwort. Er rief die Nachricht auf dem Anrufbeantworter ab, wie es ihm Herr Wardorf am Tag zuvor erklärt hatte. Direktor Saalfelds Stimme bat Julius, er möge Pfarrer Schatz anrufen und ihn an das morgige Treffen um 9 Uhr erinnern. Julius rief Pfarrer Schatz an, der sich dafür bedankte und Julius bis zum nächsten Tag alles Gute wünschte.

      Dann machte sich Julius daran, die Post zu sichten. Vieles davon verstand er nicht, weshalb er mit dem ganzen Stapel zu Frau Maus ging. Sie sagte, dass der Posteingang zu ihren Aufgaben gehöre. Sie habe sich schon gewundert, wo die Post an diesem Tag bleibe. Erleichtert gab ihr Julius die Briefe und war froh, endlich die Beantwortung der E-Mails beginnen zu können.

      Doch indem er sich an seinen Schreibtisch setzte, klopfte es an die Tür. Ehe er etwas sagen konnte, trat Herr Sonnenzweig, der Sektionsleiter für Fortbildung, schon in sein Büro. Julius überlegte, wie er mit dem unerwarteten Besuch umgehen solle. Er bot ihm einen Kaffee an.

      Herr Sonnenzweig fragte, wie Julius seinen ersten Arbeitstag überstanden habe, und beantwortete sich die Frage gleich selbst:

      „Sie werden die neuen Eindrücke sicher problemlos verarbeitet haben. Architekten sind ja für eine schnelle Auffassungsgabe bekannt.“

      Wie Herr Sonnenzweig zu dieser Einsicht gekommen war, wusste Julius nicht. Ohne Luft zu holen, sprach Herr Sonnzweig das eigentliche Anliegen an, das ihn zu ihm führte.

      In der zweimonatigen Stellenvakanz musste Herr Sonnenzweig auf Wunsch von Direktor Saalfeld kommissarisch die Geschäftsführung des Bauausschusses übernehmen. Diese Funktion wollte er offenbar lieber jetzt als nachher an Julius abgeben. Er redete so hektisch, dass Julius ihm schwer folgen konnte, blätterte in einem Aktenordner, den er mitgebracht hatte und der die aktuellen Unterlagen zum Bauausschuss enthielt, streifte sich zwischendurch über sein dünnes Haar und stellte am Ende in derselben unumstößlichen Art, die Julius von Direktor Saalfeld kannte, fest:

      „Wenn sie den Ordner durchgelesen haben, wissen sie, wie sie den Bauausschuss betreuen müssen. Und falls sie noch Fragen haben, melden sie sich. Die Einladungen für die nächste Sitzung in zwei Wochen sind schon raus. Sie müssen nur noch das Protokoll schreiben und sich um die üblichen Sachen kümmern.“

      Anschließend wollte Julius eine Frage stellen, kam aber nicht dazu, weil Herr Sonnenzweig geschickt zu einem neuen Gesprächsthema überleitete, das mit dem Bauausschuss nichts zu tun hatte. Als Julius auf die Uhr schaute, war es schon 15 Uhr vorbei. Und da er nicht wusste, ob in seinen ungelesenen E-Mails eine oder mehrere dabei waren, die er an diesem Tag noch beantworten musste, wurde er ungeduldig. Um 15:30 Uhr ging Frau Maus nach Hause und Herr Liebig und Herr Schuhmacher waren heute auch nicht im Haus, wenn er noch Fragen hatte.

      Herrn Sonnenzweigs Handy klingelte. Julius hörte eine aufgeregte Frauenstimme in einer fremdländischen Sprache auf ihn einreden. Zunächst schien es, als wolle er sie abwimmeln. Als das nicht funktionierte, entschuldigte sich Herr Sonnenzweig, stand auf und sagte, sie sähen sich spätestens am Freitagmorgen bei der Sektionsleiterkonferenz. Erleichtert schloss Julius hinter ihm die Tür und sah auf seinem Desktop, dass es schon halb vier war.

      Endlich konnte er die E-Mails überfliegen. Bis um halb fünf schaffte er es, alle anzulesen. Er atmete durch, als eine Null in Klammern hinter dem Ordner „Posteingang“ erschien. Viele E-Mails enthielten Belanglosigkeiten, über einige musste er morgen mit Frau Maus sprechen und drei forderten schon heute eine längere Antwort. Da klopfte Pfarrer Schatz an die Tür, trat ein und fragte gut gelaunt:

      „Haben sie Zeit?“

      Einerseits wollte ihn Julius nicht enttäuschen, andererseits mochte er seine E-Mails fertig bearbeiten. Er entschied sich für die Antwort:

      „Theoretisch schon.“

      Pfarrer Schatz bat Julius, mit ihm in eines der Gebäude der Bischöflichen Verwaltung zu gehen. Dort hatte er um fünf Uhr einen Termin, bei dem viele Angestellte der Bischöflichen Verwaltung anwesend waren, die für deren Bauabteilung arbeiteten. Zwischen ihrem Ressort und der Bauabteilung des Verbandes kam es gelegentlich zu Überschneidungen. Darum sei es eine gute Gelegenheit, dass sich Julius ihnen vorstelle. Also begleitete er Pfarrer Schatz.

      Nachdem Julius wieder in sein Büro zurückkehrte, war es kurz vor halb sechs. Er überlegte,