Leo Gold

Gottes kleiner Partner


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der Anwesenden im Zentrum zu stehen.

      Julius versuchte, sich wieder ganz auf seinen Vortrag zu konzentrieren, den er schon zur Hälfte präsentiert hatte. Und weil er sich sicherer fühlte als anfangs, glückte es ihm, den zweiten Teil überzeugender darzustellen. Je länger Julius referierte, desto mehr wunderte er sich über einen seiner männlichen Kollegen: Dieser spannte rhythmisch seine Oberarmmuskeln an und testete mit der Hand deren Festigkeit. Er legte seine Arme, weit von sich gestreckt, auf die Rückenlehnen seiner Sitznachbarn, so dass seine Brust gedehnt wurde. Und er konnte seinen Blick nicht lang vom Dekolleté einer Kollegin entfernen.

      Nach dem Ende seines Vortrags wollten wieder viele zu Wort kommen.

      Zunächst lehnte sich Julius einfach zurück. Direktor Saalfeld moderierte die Diskussion und erteilte das Wort. Die persönlichen Spannungen zwischen einigen Mitgliedern ließen bald Funken sprühen. Besonders knisterte es zwischen Herrn Karstrop und Herrn Molitor. Herr Karstrop hielt die Sanierungsmaßnahmen im Altenheim Meesheim für dringend geboten, Herr Molitor dagegen für überflüssig. Die Diskussion spitzte sich auf einen Dialog der größten Widersacher zu. Frau Larson wandte sich an Julius und sagte:

      „So geht das fast immer. Die werden erst aufhören, wenn Direktor Saalfeld dazwischen geht.“

      Und es geschah, wie es Frau Larson vorausgesagt hatte. Nach weiteren sieben Minuten, in denen Herr Karstrop und Herr Molitor heftig ihre Positionen verteidigten, ergriff Direktor Saalfeld das Wort, weil die Auseinandersetzung persönlich wurde:

      „Lieber Herr Karstrop, lieber Herr Molitor, ich bedanke mich für ihre engagierten Statements. Jetzt können Fragen zum Sachverhalt an Dr. Zey gestellt werden.“

      Um sich von ihrem Schlagabtausch zu erholen, ließen Herr Karstrop und Herr Molitor nun erst mal ihren Kollegen den Vortritt, Julius Einschätzung zu der Notwendigkeit von Sanierungsmaßnahmen im Altenheim Meesheim abzufragen. Julius parierte die Einlassungen und stieß bei dem Großteil der Sektionsleiter auf Verständnis, wenn seine Antworten offenbarten, dass er zwar den Sachverhalt nach Aktenlage kannte, aber nicht über einen der vielen Zusammenhänge Bescheid wusste, die es zu berücksichtigen galt. Denn auf die ‚Zusammenhänge‘ kam es an. Sie bestimmten nicht selten, welche Wendung eine Entscheidung nahm. An dieses Grundgesetz des Verbandes musste sich Julius erst gewöhnen. Dahingehend beruhigte ihn Direktor Saalfeld:

      „Ihre Premiere ist gelungen, Dr. Zey. Gratulation! Sie haben die Angelegenheit sachkundig präsentiert und alle Fragen beantwortet. Die Zusammenhänge, ja, die Zusammenhänge können sie nicht wissen. Uns fehlt die Zeit, dass ich sie in alle einweihe. Aber bei unserem Beschluss muss eine Rolle spielen, dass unser Vorstandsmitglied Herr Göbbels der ehemalige Bürgermeister von Meesheim ist und eben in seiner Vorstandsfunktion des Verbandes mit diesem Haus identifiziert wird. Deshalb muss ein tadelloser baulicher Zustand gewährleistet sein.

      Wenn die Leute in Meesheim denken, der Verband kümmere sich nicht um seine Häuser in den Gemeinden, wo zentrale Figuren des Verbandes zu Hause sind, dann wird uns gar nichts mehr zugetraut. Es gilt in dieser Angelegenheit also ein besonderes Augenmerk auf die Öffentlichkeitswirkung zu legen. Das Altenheim muss – wobei ich dem Beschluss nicht vorgreifen möchte – ein Beispiel für die professionelle Arbeit des Verbands darstellen. Und dazu gehört eben auch ein einwandfreies bauliches Erscheinungsbild.“

      Herr Karstrop hob seinen rechten Arm, worauf Direktor Saalfeld fragte:

      „Ja, Herr Karstrop, was möchten sie noch hinzufügen?“

      „Ich bin ganz ihrer Meinung, Direktor Saalfeld. Die Sanierungsmaßnahmen sind zwingend erforderlich. Aber ich möchte nochmals auf einige sachliche Unklarheiten von Dr. Zeys Vortrag eingehen, wenn ich darf.“

      Direktor Saalfeld ließ ihn gewähren, obgleich auch die für diesen Tagesordnungspunkt eingeplante Zeit bereits überschritten war. Julius hörte Herrn Karstrops Einwand zu:

      „Ihre Kostenrechnung für die Sanierungsmaßnahmen halte ich für fehlerhaft“, so direkt setzte er ein. Bei ihrer ersten Begegnung hatte ihn Julius umgänglicher erlebt.

      Herr Karstrop fuhr fort:

      „Ich habe mir die Mühe gemacht, eine Gegenrechnung aufzustellen, und bin dabei auf eine geringere Summe als die von ihnen veranschlagte gekommen. Wie erklären sie die Differenz?“

      Herr Karstrop ließ Kopien von seiner Kostenrechnung verteilen und Herr Pappel warf die Zahlen mit dem Beamer an die Wand. Julius überflog Herrn Karstrops Vorlage. Er hatte zu wenig Zeit, die Daten genauer zu vergleichen. Also entschied er sich, ausgeglichen zu reagieren.

      Er nannte Herrn Karstrop mehrere Argumente, weshalb ein Unterschied zwischen den beiden Kostenaufstellungen bestehe. Der wichtigste sei darin begründet, dass er grundsätzlich mit großzügigeren Kostenannahmen rechne, während Herr Karstrop mit den mindestens zu erwartenden Aufwendungen operiert habe. Damit glaubte Julius, ihm den Wind aus den Segeln genommen zu haben. Anstatt sich mit seiner Erklärung zufrieden zu geben, hakte Herr Karstrop nach:

      „Das mag vielleicht stimmen, dass meine Annahmen optimistisch sind. Doch wenn ich mir den unübersichtlichen Aufbau der Vorlage anschaue und ihre Tendenz, alles so ausführlich darzustellen, dass ich glaube, sie halten mich für minderbemittelt, liegt der Schluss näher, dass ihre Annahmen mit einem Fragezeichen zu versehen sind?“

      Julius glaubte es nicht. Er dachte, dass diese Einlassung so deutlich unfair gewesen sei, dass Direktor Saalfeld Herrn Karstrop zu mehr Gelassenheit rate. Direktor Saalfeld blieb stumm. Da Julius keine andere Alternative sah, antwortete er Herrn Karstrop:

      „Ich kann ihre Schlussfolgerung nicht teilen. Vom Aufbau und Stil der Vorlage auf die Angemessenheit der Kostenaufstellung zu schließen, leuchtet mir nicht ein. Dass der Text Wiederholungen und genaue Erklärungen enthält, das stimmt. Da jede Institution eigene Vorlieben an Texte stellt, muss ich die des Verbands erst kennenlernen. Um aber noch mal auf ihren ursprünglichen Kritikpunkt zurückzukommen, unsere unterschiedlich hochgerechneten Ergebnisse bei den Kosten für die Sanierungsmaßnahmen: Ich werde ihre Auflistung in Ruhe anschauen und ihnen dann eine Rückmeldung geben. Momentan kann ich ihnen nur die Antwort wiederholen, die ich ihnen zuvor gegeben hab.“

      Als Herr Karstrop von Julius Reaktion herausgefordert zu einer Replik ansetzte, fühlte sich Direktor Saalfeld schließlich doch veranlasst, eine weitere Zuspitzung abzuwenden:

      „Nun fordern sie unseren neuen Kollegen nicht gleich zu sehr heraus. Ich denke, die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Kostenaufstellung sind klar geworden. Und Dr. Zey hat ihnen ja zugesagt, ihnen später eine detailliertere Antwort nachzureichen.“

      Herr Karstrop gab nach und nickte seinem Chef zu. Alle Mitglieder der Sektionsleiterkonferenz forderte Direktor Saalfeld auf:

      „Nun möchte ich alle um ein Handzeichen bitten, ob sie für oder gegen die Sanierungsmaßnahmen im Altenheim Meesheim stimmen?“

      Frau Larson und Herr Molitor stimmten gegen die Notwendigkeit von Sanierungsmaßnahmen. Das gefährdete jedoch nicht die relative Mehrheit, die dafür votierte. Erleichtert fasste Direktor Saalfeld das Abstimmungsergebnis zusammen:

      „Damit sind unsererseits die Sanierungsmaßnahmen beschlossen. Herr Pappel hat das Resultat protokolliert, so dass unser Votum an den Bauausschuss weitergeleitet werden kann. Danke nochmal an Dr. Zey für die Erläuterungen zum Tagesordnungspunkt. Gibt es noch irgendwelche Anmerkungen?“, Direktor Saalfeld schaute in die Runde, „nein, damit können wir zu TOP 8 übergehen.“

      Nachdem Julius seine Bürotür hinter sich zugezogen hatte, öffnete er die Jalousien zu einem Drittel. Er spürte, dass er wegen Herrn Karstrops Versuch, ihn aus der Reserve zu locken, Abstand brauchte, um wieder zu sich zu kommen. Er setzte sich auf seinen Bürostuhl und schloss die Augen. Es war erst halb zwölf. Julius musste noch 30 Minuten warten, bevor er seine Mittagspause beginnen konnte. Diese durfte nur im Zeitfenster zwischen 12:00 und 13:30 Uhr erfolgen. Und da er es für unpassend hielt, sich am Ende seiner ersten Arbeitswoche nicht an die Regeln zu halten, wartete er. Eigentlich hätte er das Programm für die Tagung der Verbandsdirektoren aktualisieren können. Doch er verschob die lästige