Leo Gold

Gottes kleiner Partner


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Also sicherte er kurzerhand seine Bereitschaft zu, den Nebenposten zu übernehmen. Pfarrer Schatz freute sich und wollte offenbar das für ihn leidige Thema beenden, weil er Julius übergangslos aufforderte, er solle in Ruhe überlegen, wie er sich sein Büro einrichten wolle. Es wäre ihm wichtig, dass sich seine Kollegen in ihrem Büro wohl fühlten. Sie verbrächten ja viele Stunden am Tag darin. Bei Frau Wolkow liege ein Katalog, aus dem er sich seine Möbel aussuchen könne. Aber wenn er spezielle Wünsche habe, würden diese selbstverständlich auch erfüllt.

      So endete ihr Gespräch mit der Aussicht auf ein schönes Büro, die Julius kurzzeitig vergessen ließ, welche Arbeiten er bis zum Feierabend noch erledigen musste.

      Mit der Hilfe von Frau Maus gelang es ihm bis um 18 Uhr die drängenden Angelegenheiten zu bearbeiten. Auf die letzte Minute erreichte er auch den Zug, in dem ihm wie an den Vortagen die Augen zufielen und sein Kopf unwillkürlich auf seine Brust sackte. Zu Hause fiel er schließlich Rosa in die Arme. Wie gut sie roch, dachte er. Ihre Haut war weich. Julius küsste sie gern.

      Anfang Mai war es abends wieder lange hell. Sie aßen im Wintergarten zu Abend, der Zimmer-Springbrunnen plätscherte leise vor sich hin, das heiße Wasser im Heizkörper erwärmte mit der zunehmenden abendlichen Kühle stärker den Raum. Rosa erzählte Julius von den Querelen aus der Schule und dem Besuch bei ihrer Mutter Thea, der es immer noch wegen ihrer Rückenschmerzen schlecht ginge. Irgendwann hörten sie auf, über die alltäglichen Probleme zu sprechen. Rosa setzte sich neben Julius aufs Sofa, legte den Kopf auf seinen Schoß, das Licht der Stehlampe leuchtete gedimmt und nur noch die beruhigenden Geräusche des Zimmerspringbrunnens wie der Heizung waren zu hören.

      Am kommenden Morgen stand Frau Eichhorn bereits am Bahngleis, als Julius von der Unterführung die Treppen hinaufkam. Sie wirkte missmutiger als am Tag zuvor, gewann aber nach den ersten Sätzen ihre bemühte Freundlichkeit zurück. Wie gestern setzten sie sich im Zug auf einen Viererplatz, schräg einander gegenüber, und widmeten sich den Beschäftigungen, die sie vor dem Arbeitsbeginn am liebsten taten. Frau Eichhorn las in ihrer Zeitung. Julius hörte Musik. Auf dem Weg vom Bahnhof bis zum Verband redeten sie dann wieder, wie am Tag zuvor, über dieses und jenes. Julius glaubte, dass sie eine gute Routine gefunden hätten. Obwohl er eigentlich lieber die Zugfahrten am Morgen alleine verbracht hätte, begann er, auch an dieser Art des Zusammensitzens seinen Reiz zu finden.

      Seine Arbeitsstunden im Verband verrannen wegen der Formulierung der Vorlagen für die bevorstehenden Gremiensitzungen wie im Flug. Zum Mittagessen traf er sich mit Herrn Schuhmacher, der ihm langsam zu vertrauen begann. Es sah so aus, dass Julius an diesem Tag sogar den Zug um kurz nach fünf erreichen würde. Er wollte aber nochmal zu Herrn Liebig, mit dem er einige Dinge wegen des Entwurfs der neuen Satzung für den Bauausschuss absprechen wollte.

      Als ob es vom Schicksal vorherbestimmt gewesen wäre, führte das Gespräch zu folgender Entdeckung: Beide begeisterten sich für die Schöne Literatur. Damit tat sich ihnen, unverhofft, ein buntes Paralleluniversum auf, vor dessen Hintergrund der Verband mit seinen Nickeligkeiten wie eine Schattenwelt erschien. Durch immer neue Aussagen, Kommentare, Zitate und Bonmots über Goethe, Stendhal, Proust, Nabokov und Salter schraubte sich ihre Unterhaltung zu elfenbeinernen Höhen hoch. Auch erzählte Julius Herrn Liebig, dass er früher selbst Geschichte geschrieben habe und eigentlich lieber selbst schreibe, als andere Autoren zu lesen.

      Julius war der erste, dem die Zwänge der bürgerlichen Welt wieder bewusst wurden: Der Zug wartete nicht. Geschwind versicherten sie sich, nicht zu viel Zeit verstreichen zu lassen, ehe sie sich erneut über ihr gemeinsames Hobby austauschten. Und bereits auf dem Weg zum Bahnhof wurde Julius bewusst, welches Geschenk es war, auf einen Literaturliebhaber innerhalb des Verbands gestoßen zu sein.

      Nachdem Julius am Donnerstagabend seinen Teil zu einer lustigen Chorprobe beigetragen hatte, erlebte er am Freitagmorgen eine böse Überraschung. Frau Eichhorn stand am Bahngleis und schien auf ihn zu warten. Aufgeregt verlagerte sie ihr Körpergewicht von einem auf das andere Bein. Sie sah aus, als habe sie die Nacht über kein Auge zugetan. Als sie Julius begrüßte, brach Folgendes aus ihr heraus:

      „Herr Dr. Zey, ich bin seit zehn Jahren gewohnt, alleine im Zug zu sitzen. Ich möchte, dass das so bleibt. Setzen sie sich bitte woanders hin! Ich brauche den Platz für mich allein. Und ich brauche meine alte Routine wieder. Das Reden morgens möcht ich nicht. Ich find es aufdringlich, dass sie das nicht von selbst merken. Also, jetzt. Jetzt ist die Sache ja klargestellt. Das ist nichts gegen sie persönlich.“

      Perplex hatte ihr Julius zugehört. Er war von dieser Zurückweisung kalt erwischt worden, weil er Frau Eichhorn anders eingeschätzt hatte. Sie hatte gutmütig auf ihn gewirkt. Julius schwenkte ein:

      „Entschuldigen sie, dass ich ihnen zu nahe gekommen bin. Ich werde mich natürlich woanders hinsetzen.“

      Danach versuchte Frau Eichhorn noch nette Worte zu sagen. Glücklicherweise kam der Zug bald eingefahren, die beiden stiegen ein und setzten sich in unterschiedliche Waggons.

      Julius dachte darüber nach, was wenige Minuten zuvor geschehen war. Im Grunde gab es an Frau Eichhorns Verhalten nicht viel auszusetzen. Auch er wollte morgens lieber allein im Zug sitzen. Und dass er das nun tun konnte, bevorzugte er, als schweigend auf einem Vierersitz mit Frau Eichhorn zu sitzen, während jeder seiner Beschäftigung nachging. Doch er verstand die Art und Weise nicht, in der ihn Frau Eichhorn bloßgestellt hatte. Besonders weil es in einer Phase erfolgte, in der er bemüht war, sich den Gepflogenheiten bei seinem neuen Arbeitgeber anzupassen.

      Der Zug näherte sich der Bischofsstadt. Wie sollte sich Julius nach der Ankunft des Zuges verhalten? Die Tage zuvor war er mit Frau Eichhorn vom Bahnhof zum Verband gelaufen. Das wollte er nicht mehr. Er wollte sich dem Willen Frau Eichhorns nicht anpassen, der vorsah, im Zug getrennt zu sitzen und den Weg vom Bahnhof zum Verband gemeinsam zu laufen. Er blieb also im Zug und wartete bis alle anderen Passagiere ausgestiegen waren. Als er selbst aufstand und am Ausgang des Zuges ankam, sah er Frau Eichhorn am Bahnsteig nach ihm Ausschau halten. Julius trat zurück in den Zug und beobachtete Frau Eichhorn durch ein Fenster. Noch einige Augenblicke dann wartete Frau Eichhorn nicht länger. Julius stieg aus und lief noch einen Umweg, bevor er zu seinem Büro ging.

      Julius Telefon klingelte. Direktor Saalfelds und Pfarrer Schatz Assistent Herr Pappel bat ihn, zum Sitzungsraum zu kommen. Er nahm den überarbeiteten Ausdruck der Vorlage, sein Notizheft und den USB-Stick mit, auf dem die Präsentation gespeichert war.

      Im Sitzungssaal saßen neben Direktor Saalfeld, Pfarrer Schatz und Herrn Pappel die sechs Sektionsleiter. Sie diskutierten noch über den vorangehenden Tagesordnungspunkt, während Julius Herrn Pappel den USB-Stick gab. Direktor Saalfeld und Pfarrer Schatz saßen an einem Tischende, Herr Molitor, Frau Eichhorn, Frau Larson sowie Julius zu ihrer linken-, Herr Pappel, Herr Karstrop, Herr Dankmeier sowie Herr Sonnenzweig zu ihrer rechten Seite.

      Julius war froh, sich erst an die Atmosphäre im Raum gewöhnen zu können, bis er seine Vorlage vorstellte. Das machte ihn ruhiger. Auch die Sitzordnung, dank der er Frau Eichhorn an dem ovalen Tisch kaum sehen konnte, minderte seine Aufregung. Die Teilnehmer diskutierten eifrig. Erst als Direktor Saalfeld die Diskussion zum Tagesordnungspunkt 6 mittels einer Abstimmung beendete, deren Ergebnis Herr Pappel protokollierte, konnte die „Notwendigkeit von Sanierungsmaßnahmen im Altenheim Meesheim“ beraten werden.

      Direktor Saalfeld sagte zu Julius:

      „Dr. Zey, ich begrüße sie zu ihrer Premiere in dieser Runde und wünsche ihnen nochmals einen guten Start bei uns.“

      Die Gremienmitglieder klopften mit ihren Mittelfingerknochen auf die Tische, um Direktor Saalfelds Worten Nachdruck zu verleihen.

      „Um keine Zeit zu verlieren, bitte ich sie, uns ins Thema einzuführen. Sie können dabei ruhig sitzen bleiben.“

      Julius gab Herrn Pappel ein Zeichen, die vorbereitete Computerpräsentation zu starten. Die Sektionsleiter folgten Julius Erläuterungen, einige machten sich Notizen, manche tranken Tee oder Kaffee und andere suchten unaufhörlich eine Sitzhaltung, die ihrem Selbstbild entsprach.

      Mit Interesse beobachtete Julius die Körperhaltung der männlichen Kollegen. Bereits bei der Diskussion zum vorangehenden