Mira Bergen

Verflixt und ausgesperrt!


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sie nicht nennen können, da keiner von ihnen etwas für diese Situation konnte. Beide hatten das Gefühl, etwas, das man nicht mehr nachholen konnte, verpasst zu haben. Das trug nicht eben zur Entspannung bei.

      Humbert haderte besonders schwer mit der Lage der Dinge. Was gab man seinem Sohn Nützliches mit auf den Weg, wenn sich dieser bereits in einem Alter befand, in dem er die meisten Dummheiten hinter sich hatte?

      Als die Schmerzen etwas nachließen, nahmen die Gehirne ihre Tätigkeit wieder auf, auch wenn das Adrenalin noch für eine gewisse Überhitzung sorgte. Beide Köpfe arbeiteten in ähnlicher Geschwindigkeit, und als die Essensglocke ertönte, waren sie gleichermaßen zu der Erkenntnis gelangt, dass die Hauptschuld Naguts Mutter traf.

      Allein der Gedanke an Immernett, Naguts Mutter, brachte Humberts altes Blut noch immer in Wallung. Längst vergessene Sehnsüchte kehrten zurück und alte Wunden brachen auf.

      Er erinnerte sich, als hätte sie erst gestern vor ihm gestanden. Sie besaß den schönsten, weichsten Bart von allen. Selbst Ken konnte da nicht mithalten. Ihre Augen glänzten wie Funkelsteine, wenn sie lachte. Humbert war ihr vom ersten Moment an verfallen. Auch wenn sie ein Heinzelmännchen war.

      Er fand nie Genaueres heraus. Aber ihm war schnell klar geworden, dass Heinzelmännchen nicht sonderlich glücklich waren mit dem, was sie tun mussten. Auch wenn sie unentwegt so aussahen.

      Irgendwann vor langer Zeit hatten sie offensichtlich den Falschen sehr, sehr verärgert. Jemanden, der genug Einfluss besaß, um die Heinzelmännchen zu zwingen, bis ans Ende ihrer Tage unorganisierten Menschen hinterher zu räumen und zu putzen. Vielleicht war es ein Zauberer gewesen. Früher soll es davon mal ziemlich viele gegeben haben. Gelegentlich auch gute.

      Aber wie auch immer es dazu gekommen war – die Heinzelmännchen mussten für Menschen deren Arbeiten erledigen und durften sich dabei nicht erwischen lassen. Gelegentlich waren Heinzelmännchen jedoch nicht vorsichtig genug und wurden von Menschen gesehen. Letztere waren mitunter unberechenbar und schlichen zu nächtlichen Zeiten durch ihre Häuser, um aus unerklärlichen Gründen Milch zu trinken oder ähnliche verrückte Dinge zu tun. Die Folgen waren schreiende Menschen und traumatisierte Heinzelmännchen.

      Auch aggressive oder neugierige Haustiere konnten erschütternde Auswirkungen auf die sensible Heinzelmännchenpsyche haben.

      Waren die Erlebnisse ganz besonders traumatisch, wurde das entsprechende Heinzelmännchen vorübergehend an einen ruhigen Ort zur Erholung gebracht.

      Humbert vermutete, dass derartige Begegnungen auf die betroffenen Menschen nicht minder erschütternd wirkten. Erst kürzlich hatte er Frau Wunderlichs Reaktion auf eine solche Erfahrung erlebt.*

      Immernett war im Rahmen einer solchen Erholungsmaßnahme in den Berg gekommen, in dem Humbert damals lebte.

      Humbert küsste den Boden, auf dem sie ging. Auch wenn das bedeutete, dass er anschließend Steine kaute.

      Die Gefühle schienen auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn sie wollte bei ihm bleiben. Humbert war der glücklichste Zwerg der Welt. Er ließ nichts unversucht und füllte endlose Antragsformulare aus, schrieb herzerweichende Begründungen – doch alles vergebens. Sämtliche Anträge wurden zurückgewiesen. Sie war ein Heinzelmännchen und musste zurückkehren. Es gab keine Ausnahmen.

      Also entschloss sich Humbert, mit ihr zu gehen. Er wollte alles aufgeben und hätte jede erdenkliche Tätigkeit verrichtet, nur um bei ihr zu sein.

      Und sie?

      Wütend kaute Humbert an seinen Fingernägeln.

      Sie lachte ihn aus – ob er tatsächlich geglaubt habe, sie wolle mit ihm zusammen sein. Nein. Sie wollte hier bleiben, weit weg von den Heinzelmännchen und der erniedrigenden Arbeit. Dafür hätte sie selbst ihn in Kauf genommen. Aber er habe sich als unfähig erwiesen. Ganz bestimmt nicht wollte sie ihn noch länger ertragen oder auch nur an ihn denken.

      Und damit war sie weg. Humberts Verzweiflung reichte so weit, dass er sich zu den Weihnachtszwergen versetzen ließ, um nicht mehr an sie erinnert zu werden.

      Angesichts der neuesten Entwicklungen war davon auszugehen, dass sie später noch des Öfteren an ihn erinnert wurde, dachte Humbert grimmig und musterte seinen Sohn. Die Ähnlichkeit mit ihm war unverkennbar.

      »Na los. Gehen wir erstmal essen«, sagte er bemüht locker. »Danach können wir, äh, weiterreden. Oder aufräumen.«

      ***

      Lindgrüne, parfümierte Briefe waren im Haus der Wunderlichs eher die Ausnahme. Man konnte es Herrn Wunderlich also nicht verdenken, dass er darauf aufmerksam wurde.

      Der Brief lag auf Emilys Schreibtisch und somit auf verbotenem Terrain. Er war bereits geöffnet, aber sorgfältig wieder in den Umschlag gesteckt worden.

      Herr Wunderlich konnte nicht genau sagen, was ihn dazu getrieben hatte, in Emilys Zimmer zu gehen. Vermutlich Neugier. Mädchen waren für ihn eine fremde Spezies und Emily hielt sich oft sehr lange in diesem Zimmer auf, und das, obwohl es dort weder einen Fernseher noch einen Kühlschrank gab. Das kam ihm sonderbar vor.

      Zögerlich wendete er den Brief hin und her. So fand er heraus, dass dieser von Ken stammte. Ken irgendwer. Mehr stand nicht auf dem Umschlag.

      Wer zum Teufel war Ken?

      Herr Wunderlich focht einen langen, schweren Kampf mit sich selbst aus. Dann legte er den Brief vorsichtig zurück.

      Er hätte furchtbar gern einen Blick hineingeworfen. Schließlich hatte man als Vater eine Verantwortung. Außerdem fand er das eindeutig zu früh. Emily war noch immer in der Grundschule. Da bekam man keine parfümierten Briefe von Leuten, die Ken hießen.

      Aber er konnte sich nicht überwinden, den Brief zu lesen. Verwirrt fragte er sich, wieso. Und fand schließlich die Antwort.

      Es war Angst.

      Blanke Angst, die sich mit seinen Überlebensinstinkten verbündet hatte. Dagegen kam man nicht an. Es sei denn, man stach mit dem Messer auf sich selbst ein.

      Bestimmt würden es Emily und, schlimmer noch, seine Frau herausfinden, wenn er den Brief las. Wie auch immer. Herr Wunderlich ahnte, dass sein Leben dann eine dramatische Wendung nehmen würde. Und zwar hin zum Schlechten.

      Also würde er sich damit begnügen, seine bisherige – leider wenig zufrieden stellende – Taktik weiterzuverfolgen und alle Gespräche zwischen Emily und seiner Frau über seltsame Themen belauschen. Wer weiß. Vielleicht konnte er eines Tages den Code entschlüsseln und verstehen, worüber sich weibliche Wesen unterhielten. Und mit etwas Glück würde er dabei auch erfahren, wer Ken war.

      Vielleicht war KEN ja auch eine Abkürzung. Für Kinder-Erziehungs-Notdienst oder etwas in der Art.

      ***

      Zwei Tage waren vergangen und der Koch war arbeitslos. Die Heinzelmännchen schienen die Küche übernommen zu haben, und zwar zu Zeiten, in welchen sich keiner wehren konnte. Nämlich nachts.

      Sie lebten einen Rhythmus, der den Zwergen entgegenkam. Nachts arbeiteten und tagsüber schliefen sie. So lief man sich außer beim Frühstück und Abendbrot nicht über den Weg.

      Letzteres führte dazu, dass zu diesen beiden Mahlzeiten ungewöhnlich schnell und stumm gegessen wurde. Anschließend sprangen die Zwerge auf und taten so, als warteten großartige und wichtige Aufgaben auf sie. Was meistens nicht der Fall war. Denn jetzt wohnten hier auch Heinzelmännchen.

      Trotzdem sich die Zwerge allmählich mit der Anwesenheit der Heinzelmännchen abfanden, waren sie doch dankbar, dass sie zumindest das Mittagessen ungestört einnehmen konnten. Und sie konnten sich dafür reichlich Zeit lassen, da es kaum noch etwas zu tun gab.

      Die Heinzelmännchen hatten auch diese Mahlzeit voll im Griff, wenngleich sie selbst nicht daran teilnahmen. Wenn der Koch morgens in die Küche kam, wartete auf ihn bereits ein komplett vorbereitetes Menü. Er musste es zu gegebener Zeit nur noch aufwärmen und auf die Teller verteilen. Die restliche Zeit langweilte er sich und suchte verzweifelt nach einem