Stefan G. Rohr

Das Kontingent


Скачать книгу

werden. Tausende seiner Landsleute haben dort schon Schutz erhalten. Für eine kleine Familie, mit einer alten Frau, einer Schwangeren und einem kleinen Mädchen wird es sicher noch Platz geben.

      Ein Überwechseln auf die türkische Seite muss aber vorbereitet sein. Sie brauchen die Kraft für den Weg und Geld, um dort nicht mittellos zu sein. Wer weiß denn, was mit ihnen und all den anderen Flüchtlingen geschehen wird, wohin sie am Ende gebracht, auf welche Orte sie irgendwann vielleicht verstreut werden.

      Da liegen sie, seine Lieben, und schlafen. Das Enkelkind im Arm seiner jungen, wieder schwangeren jungen Mutter, seine schon alte Frau, zusammengekauert gegenüber, geschützt von einem im Fenster angebrachten Holzbrett, das Kugeln und Splitter abwehren soll. Als ob ein Stück Holz das könnte. Sein Tee ist längst kalt, er hält in seit Stunden in seinen zitternden Händen und er fühlt den Rosenkranz in seiner Tasche. Jetzt zu Gott zu beten, lehnt er weiter ab. Gott hat alles andere, als es verdient, dass er ihn anruft. Das Leid kann nicht Gottes Wille sein. Das Sterben ringsum, die aufgerissenen Bäuche, Hinrichtungen, grausamste Folter und gnadenloses Wüten entgegen alle Menschlichkeit – ist das Gottes Fügung? Wenn ja, so ist dieser Gott schon lange nicht mehr der seine. So einen Gott anzubeten widerspricht seinem Herzen und Verstand.

      Alle Lehre von der Güte und Gerechtigkeit seines Gottes sind dahin. Kein Erbarmen mit den Folteropfern, keines mit denen, die mit ihren Eingeweiden in den Händen einen langen, grausamen Tod in den Ruinen erleiden. Keine Güte gegenüber den vielen Frauen, die vergebens auf ihre Söhne und Männer warten. Einen solchen Gott will er nicht mehr anbeten müssen. Und soll das etwa eine Prüfung bedeuten? Will Gott schauen, ob seine Schäfchen auch in der größten Not am Glauben festhalten, ihm huldigen? Einen Gott, der so grausam sein sollte, den will er nicht ehren. Den wird er eher verfluchen und sich wehren, in dessen Antlitz zu schauen, seine Orte aufzusuchen, vor seinen Heiligtümern zu knien, die Beichte abzulegen.

      Was soll er beichten? Dass er seine Familie retten muss, dass er stiehlt, um das tun zu können, dass er auch vor einem Mord nicht zurückschrecken würde, sollte es um das Leben der ihm Schutzbefohlenen gehen? Wenn das die Sünden sind, die ihm ein ewiges Leben verwehren sollten, dann ist er heute schon verdammt. Durch das Fegefeuer geht er bereits, zusammen mit seiner Familie, die sich in all der Zeit stets ehrfürchtig ihrem Gott zugewendet hat. Schlimmer wird nur noch die Hölle, an deren Rand sie bereits stehen, deren Geruch sie schon erreicht, deren Farben den nächtlichen Himmel bluten lassen, deren Verdammte sie immer wieder schreien hören. Ja, die Hölle ist direkt vor ihnen und Luzifer streckt seine Hand nach ihnen aus.

      Einer seiner Schüler hat ihn einmal gefragt, ob Gott wirklich allmächtig sein. Als er das bejahte, fragte der Schüler, ob Gott dann einen so großen Stein schaffen könne, der so schwer sei, dass selbst Gott ihn nicht mehr tragen könnte. Er antwortete dem Schüler, dass auch das möglich wäre, da Gott sowohl die Kraft für die Schöpfung, als auch für die Unendlichkeit hätte. Und es sei genau dieser Glaube an Gottes Macht, die einen Christen in ebensolcher Weise stärken und diesen für dessen Ewigkeit vorsehen. Der alte Mann kann jetzt aber weder Schöpfung noch eine unendliche Göttlichkeit sehen. So wirft er mit Abscheu und unter Tränen seinen Rosenkranz in das noch lodernde Feuer im Herd.

      In dieser Nacht wird der alte Mann nicht schlafen. Er fasst einen Entschluss. In seinem ausgefransten Kaftan hat er gut und sicher seine letzte Habe eingenäht. Goldmünzen, die er in noch guter Zeit, als wäre es weise Voraussicht, als Faustpfand für schlechte Tage gekauft hat. Sie sind das Letzte, was seine Familie noch besitzt. Ihr Wert ist nicht allzu groß, er wird aber vielleicht ausreichen, um ein sicheres Flüchtlingslager auf der türkischen Seite zu erreichen. Sein Ziel hat einen Namen: das Lager von Adiyaman.

      11

      In Kairo sitz Dr. Bashir Faruq an seinem edlen Schreibtisch. Die feine Maserung der Olivenbaumwurzel verleiht diesem eine besondere Eleganz und Bedeutung. Auf ihm steht das Namensschild aus Kupfer, eine englische Leselampe mit einem grünen Glasschirm und es liegen verschiedene Aktenmappen, fein säuberlich aufeinandergestapelt, in blauen, grünen, gelben und roten Pappeinschlägen, die mit mehrfarbig geflochtenen Kordeln zusammengebunden sind.

      Faruq liest in einem dickeren Dokument und ist besorgt, über die Informationen, die ihm gerade vorgelegt wurden. Hiernach überlegen die europäischen Staaten, die Einreise von Flüchtlingen aus den IS-gepeinigten Regionen zu unterbinden, ja durch Erschwernisse förmlich zu verbieten. Hierbei steht besonders die Türkei im Visier der Europäer. Von den über 1,5 Millionen Menschen, die in der jüngsten Vergangenheit in die Türkei geflohen sind, seien zwar mehrere hundert Tausend wieder nach Syrien zurückgekehrt, aber nur knapp Dreihunderttausend lebten dort in Flüchtlingslägern.

      Die meisten der Menschen hätten sich in den Regionen unkontrolliert verteilt, es herrscht kaum noch verlässliche Übersicht und es mischen sich immer mehr Terrorkämpfer, Attentäter und Menschen aus nicht betroffenen Regionen unter die Flüchtlinge, um über diese Weise einen schnellen Einreiseweg, legal und illegal, nach Europa zu erhalten.

      Somit wird die Türkei, dem Bericht zur Folge, nunmehr nicht mehr allein als Aufnahmeland für Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, sondern auch als Gefahrenquelle und als Transitland für Migranten, Wirtschaftsflüchtlinge aus Entwicklungsländern angesehen. Migranten, die nach den vorliegenden Informationen die türkischen Ausnahmeregelungen als sichere Streckenmöglichkeit nutzen, um von den Lägern und vor allen den unkontrollierten Flüchtlings-Camps aus über Griechenland oder Bulgarien nach Europa zu gelangen. Eine weitaus weniger lebensbedrohende Passage, als in einem dieser Todesboote über das Mittelmeer zu fliehen. Sie nutzen die "Politik der offenen Tür" für syrische Flüchtlinge und tragen dazu bei, dass die Türkei attraktiv ist, um von hier aus illegale Grenzübertritte zu versuchen. Zudem wird mit größter Sicherheit davon ausgegangen, dass die Türkei auch ein Transitland für Menschen aus der ganzen Welt ist, die sich dem IS, der al-Nusra oder anderen Terroreinheiten in Syrien oder dem Iran anschließen, um dort zu kämpfen. Die Türkei, mit seiner über 900 Kilometer langen Grenze nach Syrien, wäre somit ein Transferraum mit unüberschaubaren Mechanismen und Konsequenzen.

      Faruq versteht diesen Bericht richtig. Er muss befürchten, dieser gibt den Auftakt dafür, die Freizügigkeit der Flüchtlinge nicht nur erheblich einzuschränken, sondern vielmehr zurückzuschrauben und eine Verschärfung der Einreise- und Aufenthaltsbedingungen zu erzielen. Die Europäer sorgen sich, dass über diese Kanäle eine zu große Schar von Flüchtlingen bis in ihre Länder gelangt. Sie glauben ja ohnehin, nicht noch mehr leisten zu können, ihre Kontingente seien erschöpft, in vielen EU-Ländern sogar überschritten und die Abwehrhaltung nimmt täglich zu. Millionen Menschen stehen in ganz Afrika und Osteuropa in den Startlöchern, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Sie streben in die Kernländer Europas – passieren aber dabei zwangläufig die Außengebiete, die Länder, die die Grenzen Europas zu schützen haben. Das wird nicht ohne Konflikte bleiben. Und wenn sich die Welle erst einmal in Bewegung gesetzt hat, wird es kein Halten mehr geben. Das werden die Regierungen der einzelnen Länder wissen – und Europa wird reagieren. Früher oder später.

      Die in diesem Bericht aufgeführten Tatsachen werden möglicher Weise Regierungen und Staaten wachrütteln, das Abwehrverhalten einzelner verstärken oder die Gemeinschaft zerrütten, auseinander dividieren. Länder, wie Griechenland, haben zudem selbst so viele innenpolitische und wirtschaftliche Sorgen, dass jeder Flüchtling, der in ihr Land kommt, sei es auch nur für den Transfer, eine Belastung bedeutet. Darin erklärt sich wohl auch gerade das Verhalten Griechischer Behörden im Umgang mit Asylanten und Flüchtlingen, die derzeit in der Regel gleich wieder zurück abgeschoben werden, zur Abschreckung zuvor vielleicht noch eine Zeit im Gefängnis sitzen müssen.

      Eine Verschärfung der Lage in der Türkei, ein Land, das Faruq bisher ganz bewusst als eine der sinnreichsten Drehscheiben für die Flüchtlingsströmungen verstanden hat, bedeutet unmittelbar auch eine Reduzierung der zuzulassenden Grenzübergänge, eine Verschärfung der Kontrollen, bis hin zu einer generellen Zurückweisung. Die Konsequenzen für die syrischen Flüchtlinge, die zum Teil unmittelbar aus den Kampfgebieten fliehen, weder über Besitz noch Mittel verfügen, werden unüberschaubar. Faruq weiß, dass das Leben kosten wird.

      Die türkische Regierung