Stefan G. Rohr

Das Kontingent


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insgesamt etwa fünfzehn Kämpfer. Die Zahl der Feinde gegenüber wird mindestens viermal so groß sein. Munition oder Handgranaten haben sie nur noch wenig. Es reicht sicher nicht, um sich in einem anstehenden Häuserkampf behaupten zu können. Doch zurück werden sie auch nicht gehen. Das heute und hier geflossene Blut der Brüder und Schwestern lässt das nicht zu.

      Aus dem zurückliegenden Bereich rücken ein Dutzend Kämpfer nach. Der junge Mann ist erleichtert. So wird es einfacher und ist nicht mehr ganz aussichtslos. Einen Rückzug auf der Gegenseite können sie zwar nicht wirklich erwarten. Mit Glück formieren sie sich lediglich aufgrund der Verluste gerade neu. Dann wäre ein schnelles Vorrücken jetzt die richtige Taktik.

      Es wird auch nicht gezögert. Ein kurzer Blick über das vor ihnen liegende Gelände, die Felsen, Deckungsmöglichkeiten und die Lage der toten Kämpfer, ihre Waffen und Munition. Dann springen sie auf und rennen, so gut es geht in gebückter Stellung, mit der Waffe in der Vorhalte auf die Ruinen vor ihnen zu. Kaum sind sie in Bewegung, wird in fast gleicher Sekunde das Feuer auf sie eröffnet. Es liegen scheinbar doch noch ein paar der feindlichen Kämpfer hinter irgendwelchen Steinen oder Mauern und die Geschosse zischen durch die Luft. Der junge Mann hört die Projektile an seinem Kopf vorbeisausen, hört das dumpfe Einschlagen in den Brustkorb seines Nebenmannes, hört, wie dieser im Lauf zusammenkracht und wie dessen Schädel auf dem Felsstück aufschlägt und aufplatzt.

      Der junge Mann läuft weiter, unbeirrt, schießt auf die Stellen, wo er gerade noch Mündungsfeuer gesehen hat. Er merkt gar nicht, dass er schreit, mit weit aufgerissenem Mund wie ein Tier zu brüllen begonnen hat. Seine Augen sind blutrot und er hat nur eines im Sinn: so viele zu töten, wie Gott es ihm möglich macht.

      Er erreicht die Ruinen vor ihm. Deckung gibt ihm ein Betonpfeiler und er sieht, wie wenige Meter weiter ein IS-Kämpfer liegt und seine Waffe nachlädt. Der junge Mann greift sein Kurzschwert, das er am Gürtel trägt, und während er sich mit kurzen und überaus schnellen Sprüngen zur Deckung des feindlichen Kämpfers bewegt, hat er es aus dem Gürtel gezogen und sticht es mit aller Wucht auf den immer noch nachladenden Mann ein.

      Er trifft nicht etwa dessen Brust. Sein kurzes Schwert landet mit der Spitze voran direkt im Kehlkopf des Feindes, dessen Augen vor Schmerz und Todesangst hervorquellen, als seien sie Tennisbälle. Der junge Mann bewegt sein Schwert geschickt und ruckartig in verschiedene Richtungen. Als er es mit gleichem Schwung herauszieht, ist der Hals des bereits Toten fast ganz durchtrennt.

      Er hört einige kurze, halblaute Rufe seiner Mitkämpfer, die signalisieren, dass der Ruinentrakt feindfrei sei. Das Gebäude ist stark beschädigt und die Mauern sind von Geschossen und Granatsplittern durchsiebt. Einige der Kämpfer beziehen gleich Posten. Ihr Anführer hat eine kurze Einteilung befohlen und die entscheidenden Positionen besetzt. Mit der restlichen Truppe macht er eine kurze Bestandsaufnahme. Dieser Angriff hat nur vier seiner Leute das Leben gekostet. Ein gutes Ergebnis.

      An ihrer linken Flanke hatte ein Trupp mit zehn Kämpferinnen geholfen, diesen Komplex zu erobern. Diese Gruppe ist ein Teil einer Gemeinschaft von syrischen Frauen, die sich in den Kampf begeben haben. Er besteht ausschließlich aus Frauen, meist jüngeren. Sie haben wieder einmal mutig und mit besonderer Härte gekämpft und liegen jetzt im Nebengebäude.

      Das Mädchen mit der Kalaschnikow kämpft lieber mit den Männern. Sie hat sich neben dem jungen Mann gesetzt. Ihr rinnt eine Blutspur von der rechten Stirnseite am Gesicht herunter. Die Wunde scheint aber schon getrocknet und damit wohl nicht so schlimm zu sein. Sie nimmt von ihrer Verletzung keinerlei Notiz und schnitzt in ihren Gewehrkolben bereits wieder eine Kerbe und gleich drauf eine weitere. Stumm sitzt sie da, schaut niemand an.

      Der Kommandant der kleinen Truppe hat einen schmutzigen Zettel in der Hand und geht reihum. Alle sagen ihren Namen und er notiert sich diese. Als er bei dem jungen Mann ist, sagt auch dieser ihm leise seinen Namen: al-Basir, Abu. Als ihr Führer alle Namen hat, gibt er seine Lage, die Namen der Überlebenden und einige Informationen an seine Führung weiter.

      Noch nicht einmal zwei Kilometer von dieser Ruine, in der Zone, die bisher noch kein Kampfgebiet ist, kommt ein alter Mann gerade wieder von seinen heutigen Besorgungen zurück. Er wurde von seiner Familie schon von Herzen erwartet. Der Vater von Sharif und Abu al-Basir hat heute nur ein wenig weißes Brot kaufen können, mehr nicht. Er wird es am darauffolgenden erneut versuchen, Besseres für seine Frau, die Tochter und seine Enkelin zu besorgen. Und die Seinen werden wieder auf ihn warten, hoffen, dass er auch diesmal unversehrt wiederkommt.

      9

      Marta und Julius stehen noch eine kurze Zeit schweigend vor der Grabstelle auf dem Altonaer Hauptfriedhof. Marta hatte eben noch die verwelkten Blumen entsorgt und einen kleinen Strauß weißer Rosen in eine der grünen Stecktöpfe vor dem Grabstein platziert. Der einzige Schmuck, den die ansonsten schlichte Grabstelle ziert. Nach einiger Zeit des Innehaltens schauen sie sich an, dann machen sich wieder auf den Rückweg zum Auto.

      Schweigend gehen sie über die sandigen Wege des Friedhofes. Wäre dieser nicht ein Ort der Trauer, könnte man auch meinen, es handele sich um einen schönen Park. Herrliche alte Bäume säumen ihren Weg. Sie gehen an so manch prunkvollem Grab mit monumentalen Steinen, Kreuzen und Inschriften vorbei, lesen Namen, Geburts- und Sterbedaten. Hier liegen Familien und berühmte Väter der Stadt, Künstler, Senatoren oder erfolgreiche Kaufleute. Üppige Rhododendren, hohe Zypressen, kunstvoll beschnittene Buchsbäume und prächtige Oleander mit dunkelroten oder elfenbeinfarbenen Blüten zieren die Gräber und grenzen die großen Familiengräber hochherrschaftlich von den unbedeutenden, kleineren ab.

      Selbst im Tod muss scheinbar der Nachwelt belegt werden, mit welcher Kapitalausstattung der Verstorbene seine Nachkommen versorgt hat. Dabei reicht wohl ein polierter Marmorblock nicht immer. Kleine Mausoleen, mit protzigen Säulen und kupfernen Dächern, mit eigener Wegeführung und schweren schwarzen Ankerketten, die als Zäunung satt an den gusseisernen Säulen hängen, sollen dem Besucher sagen: hier ruht jemand, der etwas ganz Besonderes war. Haltet Abstand, bestaunt sein Lebenswerk, habt Ehrfurcht. So beerdigt zu sein, ist eigentlich nur Königen vorbehalten. Sie sehen schwarze Obelisken, auf goldgefassten Fundamenten, die Spitze in den Himmel ragend, hoch hinaus, schier bis zu den Wolken reichend, einen langen Schatten auf andere Gräber werfend, so, als wollte der hier beerdigte Mensch auch noch nach seinem Ableben das warme Licht für sich allein reservieren.

      Sie gehen auch an dem Feld der anonym Bestatteten vorbei. Eine große Wiese, mit breiten Sandwegen umrahmt, mit Holzbänken am Rande und einer angenehmen Stille. Wer hier liegt, wollte kein Aufheben um sich, keine Tränen vor poliertem Granit, wollte eingelassen werden, in den Schoß der Erde und sich den Ort nur mit anderen Seelen teilen, die wie er, ungestörten, schnörkellosen Frieden suchen.

      Marta und Julius erreichen das weiße Gatter am Friedhofseingang. Erst jetzt möchten Sie wieder sprechen.

      „Marta“, sagt Julius. „Ich weiß, dass er Dir mehr bedeutet hat …“

      „Und ich weiß, dass Du es schon lange weißt.“ beruhigte ihn Marta.

      „Du warst für mich immer meine Mutter. Dafür möchte ich Dir heute danken.“ Julius hakt Marta unter und drückt ihren Arm.

      Marta möchte vom Thema ablenken: „Was wirst Du jetzt tun?“ fragt sie ihren jungen Begleiter. „Du musst jetzt an Dich denken, Dir schnell wieder einen Job suchen und alles, was zu regeln ist, hinter Dich bringen.“

      „Leichter gesagt, als getan.“ seufzt Julius nachdenklich. „Wenn es der Job allein wäre. Aber die Schulden, die jetzt da sind, auch noch die Kosten für die Bestattung. Auf die Schnelle ist all das nicht einmal einfach so zu regeln.“ Und nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: „Ich bin völlig ratlos und ich habe Angst, Marta.“

      „Ich habe leider keine Mittel, mit denen ich Dir helfen könnte.“ gibt Marta schweren Herzens zu. „Die letzten Piselotten auf meinem Sparbuch sind höchstens ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aber ich werde sie Dir gerne geben. Vielleicht helfen diese Dir wenigstens, die ersten Hürden zu nehmen“

      Julius schüttelt vehement den Kopf. „Das wirst Du schön bleiben lassen. Deinen Notgroschen