Stefan G. Rohr

Das Kontingent


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bewahre!“ ruft Marta entsetzt. „Dich auch noch ins Unglück stürzen … nein! Und wenn ich Dich im Klo einsperren sollte, aber das würde ich schon zu verhindern wissen.“ Die alte Dame lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sie es ernst meint. Aber sie lächelt bereits wieder.

      „Ich gebe mich geschlagen“, sagt Julius schnell. „Dem Klo ziehe ich dann doch ein gutes Essen in Freiheit vor. Komm, ich lade Dich zu einer Portion Spaghetti di Mare bei Vito ein.“

      „Machen wir, aber nur unter einer Bedingung“, antwortet Marta. „Ich zahle!“

      Während sie zum Restaurant fahren, ist Marta wieder ganz still und nachdenklich. Sie mag es zwar sehr, ruhig im Auto zu sitzen und die schöne Stadt an sich vorbeiziehen zu lassen, doch ihre Gedanken lassen wenig Freude aufkommen. Sie schaut auf die großen alten Häuser aus den Zwanzigerjahren, die gepflegten Vorgärten und die großen Kastanien, die in dieser Gegend häufig rote Blüten tragen. Gerade hier, zwischen Altona, Ottensen und den sich gen Westen erstreckenden Elbvororten, ist der Unterschied zwischen den Armen und Reichen besonders deutlich erkennbar. Es ist fast wie eine Reise in eine andere Welt. Unerreichbar und mit kühler Schönheit.

      An vielen Stellen ist das Bild Altonas geprägt von Mietskasernen, klapprigen Wohnblöcken und ärmlichen Straßen, die sich nach und nach zu kleinen Ghettos wandeln. Hier lebt der Teil der Bevölkerung, der immer ärmer wird. Die geringen Mieten saugen förmlich die Armut an. Hier leben kleine Rentner, Sozialhilfeempfänger und ausländische Familien. Die Straßenbilder sind geprägt von langen Mänteln, verschiedenen Sprachen und den kopftuchtragenden Frauen.

      Wo sie jetzt aber fahren, nur einen Katzensprung von all dem entfernt, zwischen Elbstrand und der Osdorfer Landstraße, beginnt das Revier der Reichen. Villen, inmitten großer Gärten, mit alten Bäumen und hohen Zäunen, reihen sich schier ununterbrochen aneinander. Kaffeemühlen, so genannt, weil sie an die Form alter Kaffeemühlen erinnern, rote, meist quadratisch gebaute Backsteinhäuser mit weißen Fenstern und ausladenden Eingangstüren, stehen neben herrlichen mehrstöckigen Jugendstilvillen, stuckverziert, in strahlendem Weiß oder zartem Gelb, mit grünen Kupfertürmchen und breiten, geschwungenen Treppen hinauf zu ihren doppelflügeligen Eingangsportalen.

      Sie fahren durch eine Kastanienallee, an hohen weißen Mauern vorbei, hinter denen ausladende Appartementblöcke liegen. Weiße Paläste mit Penthäusern und gläsernen Terrassen. Sie fahren über kopfsteingepflasterte, schmale Straßen, vorbei am Derbyplatz, dann entlang des Jenischparks mit seinem kleinen Schlösschen, passieren Straßen mit klangvollen Namen, wie Baron-Vogt-Straße, Jürgensallee oder Parkstraße. Hier zu wohnen ist ein Privileg und für die Allgemeinheit unerschwinglich.

      Die Schulen dieser Gegend haben keine sozial unverträgliche Vermischung, kein Übergewicht der türkischen oder arabischen Sprache. Sie sind `sauber´, sie gehören den Erfolgreichen, erfreuen sich höchsten Spendenaufkommens und bleiben elitär, für andere unzugänglich. Die vielen Drogenprobleme der Kinder aus den umliegenden besten Häusern werden still und ohne Aufheben intern geregelt. Man kennt das seit Jahren und offiziell ist ein derartiges Thema nicht existent. Man hat hier keine Probleme und im Falle einer zu großen Auffälligkeit wird der Schüler dezent in ein adäquates Internat umgeschult.

      Marta und Julius erreichen das italienische Restaurant, welches rückwärtig zur Altonaer Kinderklinik liegt. Sie steigen aus und setzen sich an einen Tisch, der von einer großen blau-weißen Markise überdeckt ist. Sie werden jetzt bestellen und sich Mühe geben, eine Stunde nicht an all ihre Probleme zu denken.

      Während die beiden bei Antipasti und Spagetti di Mare sitzen, sind wir anderen fast in unmittelbarer Nähe. Der Altonaer Bahnhof liegt wenige Autominuten vom Restaurant entfernt und weder Marta, noch Julius ahnen, dass dort gerade etwas Aufregendes passiert.

      Fredo hat es in der Bahnhofsvorhalle besonders eilig und geht unserem kleinen Männer-Trupp dominant voran. Willi versucht mit aller Macht unverdächtig auszusehen. Künstlich schlendert an der Seite von Ruprecht und fällt dabei so auf, dass er sich auch gleich ein Schild mit der Aufschrift `Taschendieb´ vor seine Brust hätte halten können. Fritz ist unsicher, ihm ist die Sache sichtlich unangenehm. So schwitzt er gerade noch mehr, als sonst. Fredo aber geht unverblümt an den Informationsschalter. Dort erkundigt er sich nach dem Ort, wo die Schließfächer für die Gepäckaufbewahrung zu finden sind. Ich sehe, wie ihm mit dem Finger die Richtung gezeigt wird. Fredo nickt der jungen Frau im Schalter einen kurzen Dank zu und deutet uns anderen mit dem Kopf dorthin, wo die Schließfächer sein sollen.

      Kurz darauf nähern wir uns dem Bereich und zögern gleich wieder. Ruprecht gebietet, kurz noch einmal zusammen zu kommen und möchte etwas erklären.

      „Also, ich denke, es ist nicht unbedingt förderlich, wenn wir uns jetzt zu fünft vor die Schließfächer begeben und blöd wie Ochsen dreinschauen.“ Er sieht uns reihum an und prüft unser Einverständnis. „Ich schlage vor, dass Fredo und ich zu zweit an die Schränke gehen und erst einmal schauen, ob es hier überhaupt ein Fach mit dieser Nummer gibt. Sollte es kein Fach geben, dann kommen wir ohne weitere Anzeichen einfach wieder zu Euch zurück. Ihr könnt ja eine Rauchen und Euch über das Wetter unterhalten.“

      Er schaut wieder in unsere Runde. Kein Widerspruch.

      „Sollte es diese Nummer tatsächlich hier geben, wird sich Fredo unauffällig so hinstellen, dass ich kurz den Schlüssel probieren kann. Passt dieser nicht, brechen wir ab und kommen ebenfalls wieder sofort zu Euch zurück.“

      Nach einer kleinen Pause fragt er: „Ist das so klar? Oder gibt es noch Fragen?“

      Wir schütteln alle verneinend den Kopf. Unsere Anspannung aber wächst sekündlich und ich spüre, wie mir der Schweiß unter meinem Hemd den Rücken herunterläuft. Willi ist knallrot bis blau im Gesicht und ich habe für eine kleine Sekunde Angst, dass er uns jetzt hier umfällt.

      Ruprecht wendet sich noch kurz an Willi: „Und Du mein Freund, komme bloß nicht auf den Gedanken Deine Lippen zu spitzen und herum zu pfeifen. Pfeifen ist noch verdächtiger, als sich ständig umzusehen.“ Er schaut noch kurz in unsere Gesichter. „Bleibt alle ganz locker – wir machen das schon!“

      Dann geht er mit Fredo schlendernd zu den Fächern. Während sie näherkommen, schauen sie schon nach den erkennbaren Schließfachnummern und schlagen dann einen Haken nach links, um gleich wieder rechts hinter der ersten Reihe zu verschwinden. Meine Spannung wächst noch einmal und ich zittere, so dass ich meine Hände in die Hosentasche stecke. Ich will mit meinen drei bei mir stehenden Freunden ein lockeres Thema anfangen, mir fällt aber keines ein. Schließlich rede ich tatsächlich über das Wetter:

      „Sicher wird es in den nächsten Stunden trocken bleiben.“ vermute ich und lasse dabei die Schließfächer nicht aus den Augen.

      „Naja, man kann ja nie wissen. Könnte auch regnen.“ erwidert Fritz.

      „Ich glaube aber, dass es sonnig bleiben wird.“ sage ich wieder.

      „Oder es regnet.“ auch Willi beteiligt sich.

      „Jaaah …. oder eben das.“ Ich bin mir vollkommen bewusst, dass wir uns absolut bescheuert verhalten und hoffe, dass uns niemand belauscht.

      Aber wer sollte sich schon für uns hier interessieren. Die Menschen um uns herum huschen und eilen entweder von den Zügen heraus auf die Straßen, oder eben herein, um ihre Bahnen nicht zu verpassen. Es ist geschäftig und teilweise hektisch. An den vollsten Stellen stehen Männer, die die `Penner-Zeitung´ verkaufen, an verschiedenen Ecken sitzen Obdachlose, die mit einem Pappschild am Boden um ein Almosen bitten. Ein einzelner Bettler humpelt an einem krummen Gehstock langsam durch den Bahnhof. Er hält einen leeren Plastikbecher vor sich, solch einen, den es in den Kaffeeautomaten gibt. Zitternd, stumm und irgendwie penetrant hält er diesen den vorbeihuschenden Passanten hin. Aber nur selten fällt dort etwas für ihn ab.

      Ich drehe mich kurz um und sehe, wie zwei Polizisten auf ihrem Streifengang in unsere Richtung kommen. Einer von ihnen trägt eine Maschinenpistole vor dem Bauch. Beide haben Schusswesten an, tragen an ihren Koppeln gut gesicherte Pistolen, und ihre weißen Mützen signalisieren etwas Hoheitliches. Ich werde nervös, denn mit zwei Polizisten möchte ich