Dietmar Kottisch

Der Totenflüsterer


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jetzt machen,?“ fragte er und ahnte es schon.

      „Können Sie noch eine Einspielung machen? Vielleicht höre ich Ute.. noch einmal..!“

      Paul nickte und sie gingen ins Arbeitszimmer. Es klang wie eine Rechtfertigung von Holänder: „Weil sie vorhin gesagt haben, >wenn wir weitermachen, könnten wir noch mehr erfahren<, ja?“

      Er setzte sich, und Paul stellte das Band wieder an. Er nahm seinen Kuli und seinen Block, drückte auf Aufnahme: „Liebe Freunde – hier ist wieder Paul und sein Gast Dietrich Holänder. Er möchte gerne noch einmal seine Frau hören, wäre das möglich?“ Dann ließ er das Band laufen.

      Holänder hatte seine Hände wie zum Gebet gefaltet und rieb vor Nervosität seine Daumen aneinander, während er auf die Spulen starrte. Paul schaute auf seinen Schreibtisch.

      Nach ein paar Minuten stoppte er das Band ab, spulte zurück, nahm seine Kopfhörer und drückte auf Play. Und dann konzentrierte er sich, schloss die Augen und hörte.

      Holänder zuckte zusammen, als ihm Paul zunickte. Es war etwas da! Nach ein paar Minuten nahm Paul die Kopfhörer ab: „Also, wir haben zwei Stimmen, aber hören Sie selbst.“

      Holänder beugte sich zu den Lautsprechern und hörte eine roboterhafte schnelle Stimme: >Uta – komm – raus - < und dann sofort hinterher diese weibliche Altstimme: > Dietrich – Grippe Virus<.

      Paul wollte immer wieder neue Beweise auf die Frage, woher die Stimmen kommen, und auf welche Weise sie Bezug auf die momentane Situation während der Einspielung nahmen. Zwar glaubte er fest an seine These, dass es die Toten sind, aber er wollte sich gegen die skeptischen Menschen mit festen Argumenten wappnen. Falls die Skeptiker überhaupt mit Gegenargumenten kamen und nicht einfach sagten, sie glauben es nicht.

      Gewiss, diese Stimmen waren teils abgehakt, verdreht, waren Wortfetzen, Fragmente, abgehakte Substantive, Konsonanten, schnelle oder langsame Vokale, manchmal singend, manchmal roboterhaft eisern, waren verdrehte Grammatik, scheinbar nicht zusammen hängend, es kamen Flüsterstimmen oder rufende Stimmen aufs Band, sprachen in Symbolen, und waren manchmal sehr deutlich. Klar, exakte Wissenschaften haben Fakten, Logik und Beweise nach Messungen als Grundlage. Weshalb aber bezweifeln sie die Ernsthaftigkeit der Stimmen? Sind die Stimmen etwa keine hörbaren Fakten? Wenn es irgendwelche Stimmen im Raum wären, die man zwar hören, aber nicht verifizieren könnte, und die manchmal nicht auf die momentane Situation eingehen würden, könnte man die Skepsis oder Ablehnung nachvollziehen. Aber die guten Stimmen sagten ihm im Hier und Jetzt, was Sache war, sie gaben sich zu erkennen, manchmal durch ein Codewort oder ein sonstiges Zeichen, sie melden sich mit ihren Namen und Erinnerungen, sie zeigen Gefühle und manchmal nicht ganz jugendfreie! Einige Botschaften waren klar in ihrer Aussage. Zum Beispiel die Stimme >Gedanken bedeuten sprechen-sprechen<. Die Stimme sagte zweifellos, dass unsere Gedanken sofort bei ihnen ankommen, bevor wir sie aussprechen, so als würden wir sie laut sagen.

      Alles im allem ein Phänomen mit vielen noch ungelösten Antworten. Und dann die Zeiten. Wenn schon hier die Zeit ein relativer Begriff und ein relatives Empfinden ist, dachte Paul, was verbirgt sich wohl in der anderen Dimension dahinter?

       7.

      Klara fand den Brief! Es war ein Sonntagmorgen. Sie hatten zusammen gefrühstückt. Paul hatte sich dann in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, Klara war ins Wohnzimmer gegangen, wo immer noch der geöffnete Koffer vom Dachboden lag.

      Sie hatte ihn gerade wieder schließen wollen, da fiel ihr jener >Silvia-Roman< in die Hände, den Sarah damals zuletzt gelesen hatte und der lange aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Sie hatte das Buch beim Hausverkauf zugeschlagen und in den Koffer gelegt, ohne darin zu blättern. Weshalb auch? Ein Blatt Papier lugte hervor und sie holte es heraus. Es lag zwischen den Seiten 178 und 179, also kurz vor dem Ende des Romans. Und plötzlich drang ein irrer Gedanke in ihr Bewusstsein: Seite 178 wäre der Todestag von Sarah, der 17.8.

      Sie entfaltete es, las die oberste Zeile. In dem Moment schoss ihr Adrenalinspiegel hoch und ihr Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. Mit zitternden Händen starrte sie auf die Buchstaben „Lieber Roland, lieber Äppli“. Eine Gefühlsmischung aus Freude und Angst überfiel sie, aber der Schock sollte nicht lange auf sich warten lassen.

      Es war ein rosa Blatt Papier, eine typische Briefunterlage für junge Mädchen. Das Datum stand oben rechts, es war der 13. August 1961, also kurz vor ihrem Tod! Roland hieß er also, dachte Klara. Sie las die typisch nach links gerichteten Buchstaben langsam und erwartungsvoll. Sie bemerkte plötzlich, wie die Schrift ein wenig aus der Art schlug, so als habe Sarah damals beim Schreiben gezittert. Sie wollte den Brief wahrscheinlich noch abschicken.

      „Lieber Roland, lieber Äppli.

      Kein Mensch außer dir darf diesen Brief lesen, niemand!

      Ich bin aufgeregt, ich zittere am ganzen Leib.

      Du erinnerst dich noch bestimmt an den letzten Tag in der Scheune?

      Ich war gestern bei einem Arzt, nicht bei unserem Hausarzt…..“

      Sie begann etwas zu ahnen, und bevor sie weiter las, bevor die Ahnung zur Wirklichkeit wurde, senkte sie den Brief und lehnte sich zurück.

      In dem Moment kam Paul ins Wohnzimmer. Er setzte sich zu ihr und sah sie an. „Was ist? Du bist so blass, was ist los?“ Dann bemerkte er den Brief in ihrer Hand, nahm ihn und begann zu lesen. Klara schaute ihm ins Gesicht, wollte seine Reaktion sehen. Dann sah sie, wie seine Augen schmal wurden, dann sah sie, wie er den Kopf schüttelte, dann schaute er hoch.

      „Sie war schwanger, ja?“

      Sie zog ihm den Brief aus der Hand und las ihn laut vor.

      „Ich bin seit Wochen über meine Tage… lieber Roland, lieber Äppli. Der Arzt…der hat mich untersucht und der hat gesagt, dass ich schwanger bin, du wirst Vater!“

      “Ich will nichts mehr von deinen Stimmen hören. Das ist grausam, Paul, das ist….. ich kann nicht mehr, das halt ich nicht mehr aus. Das muss ich nicht wissen, so etwas muss ich nicht wissen. Das.. das …ist ihr Leben gewesen, nicht meines, meine kleine Schwester war schwanger… Paul…!“

      Tränen schossen aus ihren Augen. „Sarah war schwanger, Sarah war mit vierzehn Jahren schwanger. Das gibt es nicht, Paul.“

      Er konnte nichts anderes tun als dazusitzen und zuzuschauen, wie seine Frau litt. Er fühlte, dass es jetzt nicht ratsam wäre, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten.

      „Sie hat es für sich behalten, sie hat es mir nicht gesagt, sie hat… sie musste alleine damit fertig werden, oh Paul. Dieser.. dieser Äppli hat es auch nicht gewusst, sie hat den Brief nicht abgeschickt.“ Sie schaute ihn verzweifelt an.

      „Wenn ich mich mit diesen Stimmen nicht befasst hätte, wüsste ich so etwas nicht, hätte vielleicht nie den Koffer aufgemacht, hätte ihn vielleicht irgendwann verbrannt, „ weinte sie und setzte sich wieder neben ihn auf die Couch. Er atmete tief ein und schaute sie von der Seite an. Sie wischte ihre Tränen mit ihren Fingern ab, das Schluchzen wurde weniger, und bald atmete sie wieder normal.

      Dann legte er seinen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. „Tut mir Leid, aber das habe ich nicht gewollt, Schatz. Wirklich, tut mir sehr Leid.“

      „Du kannst ja nichts dafür. Ich hab immer gedacht, wir haben keine Geheimnisse voreinander, weißt du, Sarah und ich.“

      „Aber sie hat ein Recht, dieses Geheimnis für sich zu behalten. Vergiss bitte nicht, jeder Mensch hat ein Recht auf eine intime Sphäre.“

      Sie nickte.

      „Und außerdem kannst du nicht wissen, ob sie es dir immer noch sagen wollte, kam aber nicht mehr dazu….“

      „Es ist, als erlebe ich diese Zeit jetzt noch einmal. Es tut weh.“

      „Das glaub ich dir. Und mir tut es weh, dass ich dir nicht helfen kann.“

      Es dauerte eine ganze Weile, bis sie den