Dietmar Kottisch

Der Totenflüsterer


Скачать книгу

als Paul und Klara in ihrem BMW auf die Autobahn A66 Richtung Wiesbaden fuhren. Kurz hinter Hattersheim kamen sie wegen eines Unfalls in einen Stau, der sie eine halbe Stunde Zeit kostete. Dann wechselten sie auf die Bundesstrasse 42 und fuhren direkt nach Eltville. Da sich die Autofahrer erst wieder an diese winterliche Witterung gewöhnen mussten und wegen des Staus, brauchten sie über 2 Stunden. Paul hatte am Tage zuvor die <Rheingauer Gazette> angerufen und sich erkundigt, ob sie einen Blick in ein paar ältere Ausgaben werfen könnten. Natürlich, kein Problem, sagte die Frau am Telefon. Die >Rheingauer Gazette< war das Blatt in dieser Gegend. Davon versprach er sich die meisten Informationen. Gegen zwölf Uhr kamen sie an und fuhren gleich auf den Parkplatz der Zeitung und gingen in die Redaktion. Natürlich wollte die ältere Dame, Frau Weil, wissen, weshalb man sich für Esther Reschke interessiere.

      Sie sei eine weit entfernte Verwandte, log Paul. Sie kämen erst jetzt aus den Staaten zurück und wollten Näheres wissen.

      „Ich bin über zwanzig Jahre bei der <Gazette>,“ sagte Frau Weil, die eine Brille mit dicken Gläsern trug, „..und ich kann mich an dieses Drama damals erinnern. Es ist mittlerweile vierzehn Jahre her.“

      Paul nickte. „Dann möchten wir uns die damaligen Ausgaben einmal ansehen,“ drängte er. Frau Weil erhob sich und ging voran. „Kommen Sie, gehen wir ins Archiv.“

      Das Archiv lag im Keller. Der Raum war gelb getüncht, eine Neonröhre an der Decke spendete genügend Licht, um lesen zu können. Sie hatte bereits fünf Zeitungen vom April 1966 herausgesucht und sie auf den Tisch gelegt. „Damit Sie nicht elendig lang suchen müssen, Herr Klein.“

      Paul bedankte sich, er und Klara nahmen Platz, und Frau Weil ließ sie allein. Der Aufreißer vom elften April begann mit der Schlagzeile >Hammermörder erst 14 Jahre alt<.

      Paul fühlte, wie sein Herz heftig schlug, als er das Gesicht von Esther vor sich sah. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, die Frau zu sehen, die schon lange tot war und trotzdem seit vier Jahren zu ihm sprach. Sie hatte ein schmales Gesicht, kurze schwarze Haare, dunkle, ausdrucksvolle Augen und einen sinnlichen Mund. Ihr Blick wirkte reserviert. Unwillkürlich schaute er zur Decke, als wolle er sagen: „Jetzt kenn ich dich besser, Esther“. Seine Hände zitterten so sehr, dass es Klara auffiel. „Ist schon komisch, was Paul?“ flüsterte sie, und Paul nickte nur. Und beide saßen da und starrten auf den Bericht.

       Eltville, 11.April 1966. Hammermörder erst 14 Jahre alt.

       Am Abend des 10. Aprils 1966 ereignete sich hier in Eltville eine Familientragödie. Der arbeitlose Kraftfahrer Wilhelm R. (39), der durch seinen übermäßigen Alkoholkonsum erst seinen Führerschein und dann seine Arbeit verloren hatte, misshandelte über Jahre seine ganze Familie. Seine Frau E.(32) musste ihren Lohn als Verkäuferin abliefern, damit er sich seinen Schnaps besorgen konnte. Im Rausch verprügelte er sie bei jeder Kleinigkeit. Seinen Sohn H.(14) und seine Tochter L.(10) misshandelte er ebenso.

       Als sich an jenem Abend seine Frau E. weigerte, ihm Geld zu geben, weil sie Lebensmittel einkaufen musste, schlug er sie so hart ins Gesicht, dass sie mit dem Kopf an eine Tischkante stürzte und ohnmächtig liegen blieb. Er nahm ihr das Geld ab und ging in seine Kneipe. Sein Sohn H. rief den Notarzt an, der die Frau sofort ins St.Josefs-Hospital in Wiesbaden einliefern ließ. Dort verstarb sie am frühen Morgen des elften April. Als der Vater nach Hause kam und sich volltrunken ins Bett legte, erschlug ihn sein Sohn mit einem Hammer.

      Dann sahen sie das Foto eines Mannes. Darunter: „Wilhelm R.(39)“.

      Er hatte ein schmales Gesicht, dunkle Augen, glatte, nach hinten gekämmte Haare, eine gerade Nase und enge, zusammen gepresste Lippen.

      Esthers Worte liefen wie ein Spruchband vor seinem inneren Auge ab:

      <Esther sehr traurig…lieber Paul>

      <Meine Kinder Heiner und Lore…traurig…>

      <Hammermörder>

      „Ihr Sohn Heiner hat also ihren Mann getötet…,“ flüsterte Klara.

      „Mir ist kotzübel…. Ich muss hier raus…..!“

      Er stand auf und ging die Treppe hoch. Frau Weil sah ihn. „Sie möchten nach draußen, Herr Klein?“

      „Ja, bitte. Ich muss nur etwas frische Luft schnappen.“ Seine Worte waren mehr ein Krächzen. „Schlimm, so was, nicht wahr?“

      „Grausam!“

      „Ich kann mich gut daran erinnern.“

      Paul wollte nicht mit ihr reden und eilte zum Ausgang. Draußen blieb er stehen und atmete einmal tief durch. Die kalte Winterluft tat ihm gut. Fünf Minuten später kam Klara nach. Sie standen nebeneinander da und schauten auf die Durchgangsstrasse und auf den Verkehr. „Es ist, als wären Esther und ihre Kinder unsere Freunde….,“ sagte sie und steckte die Hände in die Manteltaschen. Sie sind es…irgendwie, dachte Paul.

      „Ich könnte jetzt eine Zigarette gebrauchen.“

      Paul hatte vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört. In kritischen Momenten seines Lebens überkam ihn die Lust, aber immer blieb er hart gegen sich selber, denn die Zeiten der Entwöhnung waren auf Kosten seiner Nerven zu teuer erkauft.

      Klara hatte nie geraucht.

      Nach ein paar Minuten gingen sie wieder hinein. Frau Weil beobachtete sie neugierig. Arme Verwandte, sagte ihr Blick.

      In der übernächsten Ausgabe kam die Fortsetzung der Tragödie.

       Der 14jährige Heiner R. erzählte den Kripobeamten, unter welchen grausamen Bedingungen er, seine Schwester Lore und seine Mutter leben mussten. Der Vater Wilhelm R. habe seine Schwester jeden Tag verprügelt und noch andere Dinge mit ihr angestellt. Näheres wollte der Junge, der noch unter Schock stand, nicht sagen. Er selber habe bereits gezittert, wenn er seinen Vater nur im Hausflur hörte. Die Szene an diesem Abend war für die Kinder alltäglich. Wenn der Vater herumbrüllte und herumtobte, verkrochen sie sich und mussten zusehen, wie er ihre Mutter drangsalierte. Nachdem sie mit dem Kopf gegen eine Tischkante gestürzt war und regungslos liegen blieb, nachdem der Vater Wilhelm ihr das Geld aus der Tasche genommen hatte und nach draußen gegangen war, rief der Junge einen Notarzt an, der mit seiner Mutter sofort ins Krankenhaus fuhr. Die Nummer dieses Notarztes hatte der Junge immer parat!

       In dieser Nacht muss in ihm die ohnmächtige Wut so mächtig geworden sein, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah, als den Vater zu töten. Als er sah, wie der Mann betrunken in die Wohnung torkelte und sich gleich ins Bett warf, holte er aus der Werkzeugkiste einen Stielhammer. Dann ging er ins eheliche Schlafzimmer und zertrümmerte seinem Vater mit 20 Schlägen den Kopf. Einem Reporter gelang es, Fotos der Polizei in die Hände zu bekommen.

       Heiner R. wurde in die „Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters Rheinhöhe“ in Eltville-Erbach gebracht. Um seine Schwester Lore kümmerte sich zunächst das Jugendamt.

      Auf einem Foto war das zerschmetterte Gesicht eines Mannes zu sehen, die demolierte Kinnlade, der offene Mund ohne Zähne, einige lagen auf dem Bett, viel Blut, geschwollene, weit aufgerissene Augen, kaputte Nase.

      Klara und Paul erschauderten.

      „Heiner müsste heute ….achtundzwanzig sein, und Lore vierundzwanzig,“ flüsterte Klara und faltete ihre Hände und stützte ihr Kinn darauf.

      „Was müssen diese Menschen durchgemacht haben in ihrem Leben,“ stöhnte Paul. „Lass uns gehen. Lass uns einen Tee trinken.“

      „Frag, ob du von den Artikeln eine Fotokopie machen kannst.“

      „Warum?“

      „Überleg doch mal, Paul. Für deine Unterlagen, für Wiesbaden, für die Beweise deiner These, dass die Stimmen identisch sind mit einer wirklichen Person.“

      Er rieb sich die Stirne. „Natürlich, du hast Recht.“

      Sie