Dietmar Kottisch

Der Totenflüsterer


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zog seine Jacke aus und eilte in sein Arbeitszimmer. Klara kam sofort hinterher. „Was ist los, Liebling? Willst du nichts zu essen haben?“

      „ Später. Ich bin sehr aufgeregt, ich hatte gestern Abend übers Radio eingespielt und Esthers Stimme klar und deutlich gehört, und längere Sätze als sonst.“

      „Und?“ fragte sie verwundert.

      „Es war das erste Dialogexperiment, verstehst du? Ich saß da und stellte meine Fragen und sie antwortete; so als würden wir uns gegenübersitzen, oder telefonieren,“ sagte er.

      „…und was weiter?“

      „Sie ist neunzehnhundertsechsundsechzig gestorben. Wann genau, muss ich noch herauskriegen. Sie sagte etwas über ihre Kinder, Heiner und Lore. Und dass sie sehr traurig ist.“

      Klara blieb eine Weile neben ihm sitzen, schien alles zu überdenken. Dann kehrte sie selbst zu den irdischen Bedürfnissen zurück.

      „Ich habe nichts Warmes gemacht, nur ein paar Sandwichs. Die kannst du ja hier nebenbei essen,“ schlug sie vor.

      Er nickte, und Klara brachte sie und seinen Tee.

      „Wenn du willst, kannst du hier bleiben. Es wird spannend.“

      „Nein, danke. Ich bin noch nicht so weit.“ Dann ging sie aus dem Arbeitszimmer.

      Er schaltete das Radio ein, hörte das schwache Rauschen zwischen den Sendern, stellte das Mikrophon zwischen Radio und Tonband, steuerte hoch aus, drückte auf Aufnahme und begrüßte seine Freunde, wollte mit Esther sprechen.

      > Esther grüßt dich….< kam es sofort singend aus dem Radio. Eine klare und sehr deutliche Stimme.

      „Esther, erzähl mir, in welchem Monat du gestorben bist und erzähl von deiner Traurigkeit,“ sprach er. Sekunden vergingen, das Rauschen und Wabern und andere Geräusche erfüllten den Raum, dann brach wieder ihre Stimme durch. >Esther .. gestorben elften April.. sehr traurig wegen meiner Kinder.<

      Sein Herzschlag setzte für Bruchteile von Sekunden aus. Selbst die Tasse Tee vibrierte, als er sie zum Munde führte.

      Elfter April neunzehnhundertsechsundsechzig, dieser Gedanke ergriff ihn sehr emotional. Und plötzlich wieder ihre Stimme: >Paul sehr aufgeregt….!< Sie empfing seine Gefühle.

      Gedanken bedeuten sprechen, sprechen!

      „Und was ist mit deinen Kindern?“ fragte er weiter.

      Die Antwort war erschütternd, Esthers Stimme schien ihn wie verzerrt zu erreichen. >Hammermörder<.

      Dann brach die Verbindung total ab. Paul spulte zurück, notierte die Daten und lehnte sich in seinem Sessel zurück, wartete, bis er sich entspannt hatte. Dann bat er Klara hereinzukommen.

      „Du bist blass,“ sagte sie und setzte sich. „Was ist los?“

      Die Sandwichs hatte er nicht angerührt, die Teekanne war noch voll.

      „Ich muss es dir nicht vorspielen, Schatz, ich sag es dir einfach. Esther Reschke ist am elfen April neunzehnhundertsechsundsechzig gestorben. Dann sagte sie wieder, wie traurig sie ist oder traurig war wegen ihrer Kinder. Ich fragte, was mit ihren Kindern sei. Und krieg` nur eine Antwort: Hammermörder.“

      Sie schaute ihn aus großen Augen an.

      Nach ein paar Minuten sagte er: „Es könnte bedeuten, dass jemand ihre Kinder mit einem Hammer ermordet hat. Oder was meinst du?“

      „Oder sie wurde mit einem Hammer ermordet, und ihre armen Kinder waren ohne Mutter.“

      „Ja, könnte auch sein.“

      In dem Moment reifte in ihm ein Entschluss. Er hatte Namen, Ort und Zeiten. Und es müsste mit dem Satan zugehen, wenn er nicht herausfinden würde, was damals passierte.

      „Das dürfte auch die Kollegen vom Interessenverband interessieren.“

      Am nächsten Tag hatten sie ja wieder ihr Treffen in Wiesbaden.

      „Ich werde es den Freunden morgen vorspielen.“

      Klara nickte. „Das mit dem Hammermörder ist schon ein Hammer, Paul.“

      Sie waren alle bis auf Jochen, den Arzt aus Büdingen, vorhanden, er hatte Dienst als Notarzt. Paul erzählte von seinen Einspielungen, die Mitglieder kannten Esther von seinen Erzählungen her, wie auch er andere Verstorbene von den Erzählungen kannte. Es waren sozusagen unsichtbare Mitglieder in dem Verein. Er brühte sich einen Tee auf, andere hantierten an der Kaffeemaschine herum. Es dauerte eine Weile, bis sie alle auf ihren Plätzen saßen, jeder eine Tasse und seine Unterlagen vor sich.

      „Beginnen wir mit Neuigkeiten,“ leitete Paul diese zwanglose Sitzung ein. „Zunächst die Sache mit meiner kleinen verstorbenen Schwägerin Sarah.“

      Alle nickten und schauten erwartungsvoll zu Paul.

      „Meine Frau hat ihr Tagebuch gefunden – und darin wird dieser Äppli erwähnt.

      Insofern sind diese Fakten als Anscheinsbeweis zu sehen. Aber es kommt noch doller. Einige Tage später findet sie einen Brief ihrer Schwester an diesen besagten Äppli, der mit richtigem Namen Roland heißt oder hieß, den Nachnamen kennen wir nicht. Diesen Brief hat Sarah nie abgeschickt. Die Gründe möchte ich nicht nennen.

      Nun zu den zweiten Neuigkeiten. Ihr wisst, dass Esther Reschke meine Kontaktperson ist und dass sie aus Eltville am Rhein stammt.“

      Die Kowalski hat auch einmal in Eltville gewohnt, fiel es Paul ein.

      „Das war bis dato alles, was ich wusste. Jetzt habe ich auch über das Radio eingespielt. Und ich muss sagen, der Erfolg ist enorm. Jetzt weiß ich, wann diese Esther gestorben ist, nämlich am elften April neunzehnhundertsechsundsechzig. Und dann sagte sie etwas über ihre Kinder…. und dann hörte ich das Wort Hammermörder.“

      In diesem Augenblick bekam Irmgard Kowalski einen Schwächeanfall. Sie wurde blass, rieb sich die Stirn, stammelte: „Mir ist so komisch…verflixt.. mein Kreislauf…was ist das?“ Dann kippte sie zur Seite und konnte gerade noch von Dieter Schelling aufgefangen werden. Er legte sie sachte auf den Boden. Die anderen sprangen von ihren Stühlen auf. „Verdammt, der Doktor muss ausgerechnet heute nicht da sein…“ rief Reinhard Drechsler, lief zur Spüle, hielt ein Taschentuch unter kaltes Wasser und legte es der Frau auf die Stirn.

      „Die Beine hoch,“ rief Paul,

      „..und, den Kopf flach halten,“ rief Franziska.

      „..ich hab keine Ahnung..“ sagte Dieter, und gab der armen Irmgard in Erinnerung an irgendeine Kinoszene ein paar Ohrfeigen. In den nächsten Sekunden schlug sie wieder die Augen auf.

      „Ich sag`s ja, mit Gewalt geht alles….“

      Dann erhob sie sich leicht benommen und nahm auf ihrem Stuhl wieder Platz. Vier Augenpaare starrten sie an. „Was war denn?“

      Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“

      Nach einer Weile fragte Paul: „Kann es sein, dass es mit dem eben Genannten zusammenhängt?“

      Sie verdrehte die Augen, überlegte.

      „Du hast doch mal in Eltville gewohnt, soviel ich weiß…“

      Sie atmete schwer. Dann nahm sie das nasse Taschentuch von der Stirn.

      „Jetzt erinnere ich mich.“ Sie drückte das Taschentuch in ihrer Hand.

      „Es war ein Tag bevor wir aus Eltville nach Bad Homburg zogen, im April sechsundsechzig. Ein Drama! Mein Mann und ich hatten alle Hände voll zu tun mit unserem Umzug, deswegen weiß ich nicht mehr, was damals passierte.“

      „Und du hast dich auch später nicht mehr dafür interessiert?“

      „Nein. Der Umzug, die neue Stelle meines Mannes, und das alles waren für mich wichtiger. Außerdem kannte ich die Leute nicht persönlich, also vergaß ich das Ganze.“