Dietmar Kottisch

Der Totenflüsterer


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mit seinen Offenbarungen wäre vielleicht auch durch eine andere Gelegenheit gelesen, und der Brief wäre auch gefunden worden, oder auch nicht.

      Paul spürte dennoch Schuldgefühle.

      Er stand auf und ging auf die Terrasse, atmete die frische, kalte Luft draußen. Das Thermometer zeigte plus vier Grad.

      Die Beschäftigung mit den Stimmen kann das Leben verändern, dachte er. Sollten wir Sarah einmal darauf ansprechen? Was sie wohl antworten würde? Er behielt den Gedanken für sich, er würde es einspielen, aber Klara nichts davon erzählen. Sie war jetzt verwundet worden.

      So langsam wurde ihm bewusst, weshalb Klara so entsetzliche Gedanken hatte, wenn es um ihre Schwester ging. Sie hatte ihm vor Jahren erzählt, wie innig die beiden waren, ein Herz und eine Seele, sie hatten keine Freundinnen, sie hatten nur sich. Sie hatten alles von außen kommende abgeschirmt, lebten wie ein einem Kokon, teilten fast alle Gedanken, fast alle Gefühle. Im Grunde genommen waren sie nicht auf das Leben vorbereitet, auf den notwendigen Kontakt mit anderen Menschen außerhalb ihrer Wohnung. Dieses ganze Verhalten wurde von den Eltern gesteuert. Auch sie hatten keine Freunde, mit denen sie sich ab und zu trafen, sie hatten keinen Kontakt zur Gemeinde. Lediglich der sonntägliche Kirchgang befreite sie aus der Enge der Familie. Aber auch da kam es zu keinen Freundschaften oder Bekanntschaften. Der Pfarrer versuchte es, wurde aber diplomatisch abgewiesen. Nur die Geburtstage waren die Ausnahmen. Es war eine zurückgezogene, fast scheue Familie.

      Am nächsten Abend begann er mit den Einspielungen. Er vergewisserte sich, daß Klara nicht in der Nähe war; sie bekam eine leichte Grippe und war nach oben ins Schlafzimmer gegangen; scheinbar hatte Holänder mit seinen Grippebazillen um sich geworfen und sie hatte ein paar eingefangen. Er brühte sich einen leichten Oolong Tee auf und versuchte, seine Alltagsgedanken über die Geschäfte abzuschalten.

      Er holte seinen Block hervor und schaltete das Gerät ein. Er notierte Datum und Uhrzeit und sprach ins Mikro. „Vierundzwanzigster Oktober neunzehnhundertachtzig, einundzwanzig Uhr…sechs. Ich begrüße Esther. Ich würde gerne Sarah, die Schwester von Klara Schuster sprechen.“

      Er blieb immer noch bei der Mikrophonmethode, dachte dann aber, vielleicht würde er bald zur Radiomethode umsteigen. Damit soll es wesentlich bessere Einspielungen geben.

      Er ließ das Band fünf Minuten laufen. Während dieser Zeitspanne saß er bequem angelehnt und blickte nach draußen in die Dunkelheit. Die fünf Minuten waren vorbei. Er stoppte, notierte die Bandlaufnummer und spulte zum Ausgang zurück. Dann setzte er die Kopfhörer auf und konzentrierte sich. Dann kam das bekannte Rauschen von der Akustik des Arbeitszimmers, zwischendurch ein seltsames Knacken, bis er die erste Stimme hörte. Es war eine tiefe Männerstimme >Gute Tee mein Freund< - - - - - dann >Tag Paule< - - - - dann eine ihm bekannte Stimme >Esther wartet hier lange schon Tag und Nacht< . Noch schlug sein Herz ruhig, noch war seine Atmung gleichmäßig. Wieder langes Rauschen – und plötzlich schreckte er hoch! Sie war es, diese Jungmädchenstimme wie hin gehauchte Rufe aus dem Ende eines Tunnels.

      < Schwanger mein Kind .. > dann eine kurze Pause, dann <Sarah Paul Klara>. Wieder eine Pause, dann < Radio besser is….Radio>. Die letzte Aussage kam von Esther.

      Er überlegte: typisch für die Paranormalität ist die scheinbar verkehrte Satzgliederung, die wir nicht gewohnt sind. Sie sagt, dass sie schwanger war, vielleicht ist es so zu übersetzen: „es ist mein Kind, ich bin schwanger“. Dann nennt sie unsere Namen, vielleicht als Codewort, dass es diese Sarah Schuster ist, die Schwester von Klara, die spricht.

      Später fiel ihm ein, dass er Minuten vor der Einspielung ja den Gedanken hatte, mit dem Radio zu experimentieren, um bessere Stimmen zu bekommen. Und, es war wieder einmal das andere Phänomen, dass Gedanken bereits reflektiert, beantwortet werden, bevor man sie aussprach.

      Und dann fiel ihm noch etwas ein, was er gerne wissen wollte.

      „Sarah, kannst du etwas über deinen Onkel Eckhard sagen?“

      Es dauerte wieder Minuten, bis die Antwort hereinbrach.

      > Beine ..breit … ekelhafter Eckhard……<

      Zwei Tage später meldete sich Dietrich Holänder bei Paul im Geschäft.

      „Hallo Herr Klein, ich teile Ihnen nur mit, dass ich es selbst versucht habe. Anfangs war gar nichts auf dem Band, aber zwei Tage später habe ich wirklich Stimmen bekommen. Es war zwar nicht Ute, aber diese Stimmen sagten…>wir grüßen dich Prof..<. oder >..Kontakt für dich<, schnelle, helle Stimmen. Ich werde weiter forschen, bis ich auch meine Ute hören kann. Dass es möglich ist, haben Sie mir bewiesen.“

      „Wunderbar, Professor. Jemand wie Sie können wir gut gebrauchen, wenn Sie verstehen, wie ich das meine….“ sagte Paul. Er hörte ein leises „hab verstanden.“

       8.

      Paul hatte gestern Abend, am 30. Oktober1980, wieder die Stimme seiner „Freundin“ Esther Reschke gehört. Diesmal hatte er es mit der Radiomethode versucht, und das Ergebnis war wesentlich besser, die Stimme deutlicher, die Mitteilungen etwas länger. Wie von anderen behauptet, bekommen die Freunde dadurch mehr Energie, Schwingungen und Frequenzen, um sich zu manifestieren. Er ging auf die Mittelwelle in die Nähe der Sender Moskau und Wien bei 1480 kHz in ein so genanntes Weißes Rauschen. Er begrüßte seine jenseitigen Freunde wie üblich, hörte plötzlich eine laute Männerstimme >Radar<, und dann brach die Stimme von Esther durch: >Esther grüßt Paul.<

      Er wollte herausfinden, wer diese Frau aus Eltville ist, wann sie gelebt hatte, wann sie gestorben ist und andere Dinge von ihr, denn schließlich bot sie sich als seine Kontaktperson an, und schließlich sprach er mit einer Toten! Er hatte zwar auf seine Fragen nach der Zeit vorher wütende Stimmen gehört, gab sich aber nicht zufrieden damit.

      „Esther, kannst du mir sagen, wann du gelebt hast, und wann du gestorben bist. Ich möchte es gerne wissen.“

      Dann brach ihre Stimme durch. >Esther grüßt lieben Paul…sechsundsechzig…neunzehn…<

      „Heißt das, dass du neunzehnhundertsechsundsechzig gelebt hast?“ fragte er.

      >Tot in sechsundsechzig ja, neunzehnhundert… Esther sehr traurig…lieber Paul…<

      „Du bist also neunzehnhundertsechsundsechzig gestorben, Esther?“

      >Ja…stimmt…<

      Pauls Herz schlug schneller. Das war ein Dialogexperiment, eine sofortige direkte Antwort auf seine Frage. Er fühlte, wie sein Blut in Wallung geriet, er schaute immer wieder auf das Tonbandgerät, ob es auch wirklich lief und alles aufnahm. Das war wahnsinnig wichtig. „Warum bist du traurig, Esther?“ fragte er weiter.

      >Meine Kinder…Heiner und Lore… traurig, so traurig…..<

      Dann brach die Verbindung ab. Er spulte zurück und hörte sich alles noch einmal an, so als könne er immer noch nicht begreifen, was er soeben erlebt hatte. Es war ihm, als habe er mit einer Esther >telefoniert<!

      Der Tee war kalt geworden. Er stand auf und ging auf die Toilette. Er schaute in den Spiegel und sah sein leicht erstauntes, fragendes Gesicht. Er würde nach Eltville fahren und im Einwohnermeldeamt versuchen herauszukriegen, was mit Esther war. Er stellte sich eine imaginäre Situation vor, wie er mit der Sachbearbeiterin sprach.

      „Ich möchte gerne wissen, wo die verstorbene Esther Reschke gewohnt hatte...“

      „Und warum möchten Sie das wissen? Es gibt schließlich so etwas wie einen Datenschutz, mein Herr.“

      „Ich habe mit ihr gesprochen, aber nicht viel erfahren.“

      „Sie haben mit ihr gesprochen? Mit einer verstorbenen Esther Reschke?“

      „Ja.“

      „Na dann ist ja alles o.k.!“

      Er ging nach oben ins Bett. Klara schlief tief und fest. Er würde morgen