Erich Hübener

Drei Lästerschwestern auf Borkum


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wie möglich zum Ausgang. Rebekka musste unwillkürlich an eine Herde von Kühen denken, die aus dem Stall ins Freie drängten. Dabei war auch die Frau mit dem weißen Strohhut. Aber vergeblich hielt sie nach dem blonden Haarschopf Ausschau. Während der Kapitän und seine Mannschaft noch damit beschäftigt waren die Fähre ordnungsgemäß zu vertäuen, betrachte Rebekka die illustre Gesellschaft, die sich auf dem Anleger versammelt hatte: Mehrere Taxen warteten auf die Kunden die es besonders eilig hatten, ein pferdebespannter Planwagen sowie eine Ponykutsche warteten ebenfalls auf ihre Gäste und rechts und links standen Frauen und Kinder mit Handwagen. Sie hielten Pappschilder hoch, auf denen die Namen der Gäste standen: Fam. Berger, Fam. Rote und so weiter.

      Als Rebekka sich den wartenden Passagieren anschließen wollte, wurde sie urplötzlich gestoppt. Einer der Trageriemen ihres Rucksacks hatte sich am eisernen Geländer verhakt. Im gleichen Moment wurde sie von hinten mehr oder weniger angerempelt. Als sie sich umdrehte, stand er da, ihr großer blonder Hüne. Ihre Blicke trafen sich für Bruchteile einer Sekunde. Rebekka wurde es heiß und kalt zugleich. Er war wirklich eine stattliche Erscheinung. Und er sah tatsächlich gut aus – verdammt gut.

      „Verzeihung“, sagte er, „ich wollte Sie nicht …“

      „Nein, nein, es war meine Schuld. Der Riemen meines Rucksacks hat sich am Geländer verhakt“, stotterte sie und versuchte gleichzeitig den Trageriemen vom Geländer zu lösen. Als sie es endlich geschafft hatte, war er schon wieder verschwunden. Wohin? Nach rechts oder nach links? Die Treppe hinauf oder die andere hinunter? Auf jeden Fall war er wieder mal verschwunden, bevor Rebekka Zeit gehabt hatte ihn näher zu betrachten. Aber auch in dem Gewimmel von Menschen auf dem Anleger konnte sie ihn nicht entdecken. Sie gab es auf. Wahrscheinlich sollte es nicht sein.

      Die Inselbahn erinnerte Rebekka an die Modelleisenbahn ihres Vaters, mit der sie als Kind allerdings nie hatte spielen dürfen. Nur ein bisschen größer, dachte Rebekka, aber traumhaft schön.

      Die „Kuhherde“ löste sich ziemlich schnell auf, nachdem die Bediensteten die Schranke der Fähre geöffnet hatten. Gäste und Gastgeber fanden sich schnell. Es gab großen Jubel und man fiel sich in die Arme. Viele schienen Stammgäste zu sein. Die Mehrheit strömte allerdings zur Bahn. Rebekka war eine der Letzten die einstiegen. Aber es dauerte noch eine ganze Weile bis der Zug ruckelte und sich dann langsam in Bewegung setzte. Man hatte anscheinend Zeit. Oder man nahm sie sich. Vielleicht sollte ich das als Erstes lernen, dachte Rebekka, sich Zeit nehmen. Sechs Wochen Zeit lagen vor ihr. Was hatte Maren gesagt „Sieh es doch einfach mal positiv“.

      Die Bahn zuckelte durch die Dünenlandschaft. Fehlt nur noch das Schild „Blumen pflücken während der Fahrt verboten“ dachte Rebekka. Na gut, etwas schneller als ein Fußgänger war man schon. Aber mit dem Fahrrad hätte man durchaus nebenher fahren können.

      Doch schon nach wenigen Minuten hielt die Bahn an einem Übergang. Kinder mit einem Handwagen und einem Schild „Familie Schneider“ standen an den Gleisen. Familie Schneider bestand aus vier Personen: zwei Kindern einschließlich Vater und Mutter. Als sie ausgestiegen waren begrüßte man sich innig und ausgiebig während ein Arbeiter der Bahn die Koffer aus dem Gepäckwagen hob. Der Lokführer sah dem Treiben aus dem Seitenfenster gelassen zu. Als er den Eindruck hatte, dass alles erledigt war, gab die Lok einen Pfeifton ab und die Bahn setzte sich erneut in Bewegung. Noch zwei Mal legte die Bahn einen solchen Zwischenstopp ein, bevor man den Bahnhof Borkum erreichte. Auch hier wurde man erwartet. Schilder mit Namen wurden hochgehalten, manche der Wartenden riefen: „Huhu! hier her!“

      Und dann erblickte Rebekka in dem Schilderwald einen jungen Mann der eine Tafel mit der Aufschrift „Dünenhaus II“ hochhielt. Als sie auf ihn zuging, sagte er „Da“ und zeigte mit der freien Hand auf die andere Straßenseite. Dort stand ein Kleinbus mit der gleichen Aufschrift. Rebekka ging hinüber und sah, dass die Frau mit dem weißen Sonnenhut schon in dem Bus saß. Also offensichtlich eine Leidensgefährtin. „Ach, Sie auch?“, sagte sie und reichte Rebekka die Hand, „wir kennen uns doch von der Fähre, vom Klo“, ergänzte sie und kicherte.

      „Ja“, sagte Rebekka, „Sie hatten übrigens Recht, die Klotür klemmt tatsächlich.“

      „Und das Klopapier war auch alle, nicht?“

      „Richtig“, antwortete Rebekka und fügte hinzu, „die Frau auf der Fähre meinte, dass das Klopapier rollenweise gestohlen würde.“

      „Ich war’s nicht“, beteuerte der Strohhut und beide lachten.

      In dem Moment erschien eine weitere Frau an der Bustür. Sie war groß, schlank, hatte kurzgeschnittenes graumeliertes Haar und ein etwas kantiges Gesicht. Sie war – auf den ersten Blick – wohl die älteste der drei.

      „Grüß Gott“, sagte sie, „ist hier noch was frei?“

      Die Frau mit dem Sonnenhut rückte zur Seite und sagte „Klar! Für Leidensgenossinnen haben wir immer Platz.“

      Man beäugte sich. Der Fahrer kam, verstaute das Schild im Kofferraum und fuhr los ohne ein Wort zu sagen. Rebekka bemerkte allerdings, dass er sie im Rückspiegel beobachtete. Sie beschloss es zu ignorieren und sah aus dem Fenster. Die Fahrt endete jedoch schon nach wenigen Minuten vor einem außerhalb des Ortes gelegenen Gebäudekomplex. Als die drei ausgestiegen waren, öffnete der Fahrer den Kofferraum und reichte Rebekka ihren Rucksack. Die anderen mussten ihren Trolley selbst herausnehmen. Auf dem Weg zum Eingang sagte die ältere „Mädchen, pass auf, der steht auf dich.“

      Rebekka drehte sich halb herum und antwortete „So einer hat mir gerade noch gefehlt, nein danke.“

      Die gläserne Eingangstür öffnete sich automatisch. „Das ist ja wie in einem Hotel“, stellte Rebekka erstaunt fest.

      „Das ist ein Hotel“, ergänzte die Frau mit dem Sonnenhut, „dachten Sie etwa hier seien Gitter vor den Fenstern?“

      „Und in der Ecke stehen Männer in weißen Kitteln und mit Jacken, die man nur hinten zumacht?“ ergänzte die dritte grinsend.

      „Nein, nein“, fuhr der `Strohhut´ fort, „so schlimm wird es nun auch wieder nicht. Wir sollen uns hier ja erholen, damit wir hinterher wieder fit sind fürs Arbeitsleben.“

      „Oder auch nicht“, ergänzte die ältere, „aber eins steht fest, umsonst schickt man uns hier nicht für sechs Wochen auf die Insel. Die Berufsgenossenschaft und die Rentenversicherung erwarten schon, dass am Ende etwas Positives für sie dabei herausspringt.“

      Im Foyer kam ihnen eine kleine, etwas füllige Frau entgegen und sagte: „Moin, schön dass Sie da sind. Jetzt sind wir wohl vollzählig.“

      Sie gab jeder die Hand und nannte die Namen: „Frau Rebekka Engler, Frau Erika Schwarz und Sie sind dann wohl Frau Maria Stürmer, herzlich willkommen. Ich bin Frau Nanninga und zuständig für alles Organisatorische in diesem Haus. Ich gebe Ihnen jetzt erst einmal Ihre Zimmerschlüssel. Frau Engler die 38, Frau Schwarz die 37 und Frau Stürmer die 36, das ist im Bettenhaus im dritten Stock am Ende des Ganges. Sie können den Aufzug nehmen oder die Treppe. Ihr großes Gepäck haben wir Ihnen bereits auf das Zimmer bringen lassen. Wir hoffen, dass Sie sich bei uns wohlfühlen werden. Um 17 Uhr bitten wir Sie in den Speisesaal zu kommen“, sie zeigte nach links, „zur offiziellen Begrüßung. In Ihrem Zimmer finden Sie eine Informationsmappe. Schau‘n Sie nach Möglichkeit vorher mal da rein, dann erübrigen sich viele Fragen schon von selbst. Also dann, bis gleich im Speisesaal.“

      Die drei nickten und waren sich sofort einig, dass sie den Lift benutzen würden und nicht die Treppe. Als der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte sagte Frau Stürmer „Sind wir hier auf Borkum oder in Indien?“

      Die anderen beiden sahen sie fragend an?

      „Na“, sagte sie, „die Chefin hat doch gesagt, wir wohnen am Ende des Ganges.“

      Es dauerte einen Augenblick bis die anderen zwei reagierten, aber dann lachten sie über den unfreiwilligen Witz der „Chefin“.

      „Was haben Sie gesagt?“, fragte Frau Schwarz, „die Chefin? Für mich sieht sie aus wie eine Kröte, mit den vorstehenden Augen“