Carsten Wolff

Der Augenleser


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gleichzeitig die Sonnenlanzen mit solcher Vehemenz in ein Gleißen übergingen, sodass ich meine Augen fest verschließen musste, nach meiner Brille tastete, die ich zuvor in der Brusttasche verstaut hatte, um der Blindheit zu entgehen, mich mit wiedergewonnenen Kräften langsam vom Boden abstützte, dabei die Skistöcke einerseits einsetzte wie andererseits die Holzwand der Hütte als Stütze benutze, bis ich wieder mit durchgedrückten Knien, noch schwankend aber dennoch in den aufrechten Stand gekommen war, wobei ich jetzt den komplett aufgerissenen und zugleich lebensrettenden blauen Himmel gewahr wurde, der mir die nahen wie auch fernen Bergzüge in ihrem glitzernden Farbenspiel wie auch gleichzeitig eine Richtung, talabwärts zur Rettung aufzeigte, sodass ich mit einer noch schwachen Bewegung die Skier in diese vorgegebene Richtung lenken konnte, und diese vorsichtig langsam talabwärts gleiten ließ, wobei mir stetig die Sonne auf den Rücken schien und in mir eine wohlige Wärme erzeugte, und tatsächlich befand ich mich noch sehr entkräftet nach etlichen Minuten auf der Landstraße wieder, die mir zu meiner Rechten das mir bekannte Gasthaus zeigte, in welches ich mich unverzüglich begab und unter großem Erstaunen vom Wirt gefragt wurde, ob ich eben aus dem Berg käme, ich kaum hörbar mit „Ja“ antwortete, und danach vor Erschöpfung hinstürzte, und nach gefühlten zwei Tagen Schlaf in einem Bett des Gasthofes aufwachte und dem Erfrieren noch einmal Entkommen war …………………………….

      Mittlerweile war der sportliche etwa dreißigjährige Mann „Hänschen“ an mir vorbeigelaufen und auf den Ausgang zu dem Taxistand zugestrebt. Wie zum Abschied trafen sich ein weiteres Mal einige zufällige Blicke, um anschließend in der Vergessenheit zu versickern. Gute Fahrt, mein unbekannter Freund!

       *

      Nastasia I

      Eine Stimme mit einem etwas zu dunklen Timbre meldet sich am Handy.

      »Ja, bitte!«

      Hastig drücke ich als Anrufer die Trenntaste. Zum Schutz habe ich zuvor mein Handy auf „unbekannt“ geschaltet. Dann lasse ich ein paar Minuten verstreichen und drücke danach auf die Taste Wahlwiederholung. Wieder meldet sich am anderen Ende dieselbe Stimme.

      »Ja, bitte!«

      Unverzüglich trenne ich die Verbindung ein zweites Mal. Beim dritten Versuch, diesmal mit allem Mut, spreche ich, nachdem sich die Stimme wieder mit „Ja, bitte!“ gemeldet hat, hastig ins Telefon:

      »Morgen, 13.00 Uhr auf dem Platz!«, und sofort und ohne eine Antwort abzuwarten, lege ich auf.

      Als ich auf meinen Platz zugehe, sehe ich bereits dort die junge Dame. Völlig in Schwarz gekleidet sitzt sie dort. Ihre kurz geschnittenen, dunklen Haare lassen den schlanken, weißen Hals wie Schwanenhaft erscheinen, ebenso dünn wie biegsam. Auf dem Kopf trägt sie ein Hütchen, welches offensichtlich mit Klammern im Haar befestigt ist und nach vorn hin in einen netzartigen Gesichtsschleier endet. Von der Seite her kann ich nunmehr ihre erhöhten Wangenknochen, die etwas ins Rötliche angehaucht scheinen, und ihre kirschrot geschminkten Lippen, die augenblicklich besonders eindrucksvoll in dieser hellen Flughafenbeleuchtung hervortreten, erfassen. Ihr leichter Mantel ist geöffnet und gibt den Blick auf einen sehr feinmaschigen, schwarzen Pullover mit einem kleinen Halsansatz, den fallenden Rock und die schwarzen Strümpfe frei. Signal leuchtend rot, farblich ähnlich ihrem Mund nachgestaltet, schmücken ihre langen Handschuhe, die bis zur Hälfte ihrer Unterarme reichen. Die Beine überschlagen sitzt sie in einer straffen Haltung wie eine Statue dort. Keine Regung geht augenblicklich von ihr aus. Stumm und still sitzt sie dort, und es ist für einen Beobachter nicht festzustellen, ob sie jemanden erwartet oder ihrem Körper nur keine Entspannung gestattet. Kurz halte ich in meiner Bewegung inne, und lasse meinen Blick an ihrer Erscheinung entlang gleiten. Aus der Entfernung schätze ich sie auf Mitte zwanzig ein, welches sich später auch in etwa bewahrheiten wird. Wie ich befinde, stellt sie eine sehr ungewöhnliche wie gleichfalls herausfordernde Persönlichkeit dar, die die übrigen Anwesenden in der Halle wie ein hell leuchtender Kristallleuchter überstrahlt, und die eher auf einem Empfang zu vermuten wäre als dort in dieser Ankunftshalle. Als ich nähertrete, wendet sich ihr Kopf mir zu und ihre Augen senden ein messerscharfes Signal aus, welches sofort schneidend auf mir lastet und ich keineswegs zu deuten vermag. So verweilen wir Auge in Auge für einen längeren Moment, bis eine Geste ihres einen Handschuhs mich zu setzen auffordert. Weiter betrachte ich sie stillschweigend, gefangen von dieser starken Persönlichkeit, währenddessen von ihrer Seite keinerlei Regung ausgeht.

      »Sie sind pünktlich«, bemerkt sie ohne ein Lächeln.

      »13.00 Uhr, wie verabredet. Meine Erziehung will es so«, erwidere ich.

      Augenblicklich bemerke ich ihr Parfüm. Holzig, zurückhaltend nachdrücklich zugleich.

      »Mein Name ist Nastasia Reiss. Aber vermutlich sagt er Ihnen nichts!«

      »Nein! Ihr Name nicht und auch Sie nicht! Obgleich Ihre Erscheinung sehr ausstrahlend und dominant provokativ ist!«

      »So, ist sie das?«, erwidert sie spöttisch lächelnd.

      »Aber halten wir uns nicht mit Plattitüden auf. Eine Frage: Sprechen Sie russisch?«, so fährt sie fort.

      »Nein! Sollte ich es?«, antworte ich ein wenig verlegen, schließlich scheint sie, mit der Frage etwas bezwecken wollen.

      »Ihre Verlobte sprach sehr gut russisch. Erstaunlich für eine Deutsche?«

      »Wie? Russisch? Das wusste ich nicht!«, antworte ich und wie ein Messer sticht ihre Aussage in meinen Körper hinein. Gleichzeitig sende ich einen sehr irritierenden Blick zu ihr hinüber.

      »Sie scheinen überhaupt sehr wenig zu wissen, mein Herr!«

      Jetzt verschlägt es mir vollends die Sprache. Neben mir sitzt eine Unbekannte, die sich als Nastasia Reiss vorgestellt hat, ich nicht einmal weiß, ob es stimmt, und erzählt mir etwas über meine „Verlobte“, wie sie es ausdrückt, und damit offensichtlich auch etwas über mich. Was soll das bedeuten? Diese Frau verbleibt so rätselhaft, wie sie es bereits durch ihren Zettel dokumentiert hat. Dazu liegt ihr extrovertiertes Auftreten auf einer Linie. Mysteriös, kalt und verführerisch betörend zugleich.

      »Ihre Verlobte und ich sind sehr gute Freundinnen gewesen. Am Tag ihrer Ankunft stand ich hier in der Halle und befand mich nicht weit von Ihnen entfernt. Sie haben mich damals nicht wahrgenommen. Nur einmal haben sich unsere Augen flüchtig getroffen, obgleich mein Blick auf Ihnen ständig heftete.«

      »Aber….«, sofort wird mir das Wort abgeschnitten.

      »Ich wollte den Mann meiner Freundin ganz genau betrachten. Ich verstand selbstverständlich Ihre Unkonzentriertheit damals, schließlich sind Sie zur leidvollen Begrüßung Ihrer Verlobten erschienen und trugen eine rote Rose in der Hand. Rote Rosen, die Ihre Verlobte nicht ausstehen konnte!«

      »Woher wissen Sie das!«, frage ich sie entsetzt.

      »Sie hat es mir erzählt. Ich sagte eingangs schon: Sie wissen sehr wenig!«

      »Sie können sich vorstellen, dass Sie mich mehr als verlegen machen. Im Gegensatz zu mir, scheinen Sie sehr gut unterrichtet zu sein. Bitte, so fahren Sie doch fort. Ach, nur eins: Sehr betroffen scheint Sie der Tod meiner und Ihrer Freundin nicht gemacht zu haben?«, stottere ich heraus.

      »Mein Beileid nochmals! Was wissen Sie davon, wie ich trauere?«

      »Nichts. Wir kennen uns erst seit ein paar Minuten. Wie Sie bereits vorhin sagten, aber lassen wir das!«

      »Trauern ist eine sehr spezielle, innere Gefühlsangelegenheit, auf die jeder Mensch anders reagiert, mein Herr. Sie trauern auf Ihre Weise und ich auf meine! Und wie Sie eben richtig betonten: Wir sitzen erst seit einigen Minuten nebeneinander. Von Kennen kann keine Rede sein. Ich stamme aus Sankt Petersburg und dort bin ich Ihrer Verlobten das erste Mal begegnet.«

      »Ich wusste nicht einmal, dass meine Freundin jemals in Russland war? Sehr merkwürdig!«

      »Sie scheinen wirklich sehr, ich drücke es nochmals so aus, unbedarft zu sein!«