Carsten Wolff

Der Augenleser


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wiesen, von denen ich nicht wissen konnte, ob sie mich weiter nach oben oder unten brächten, tief in die Ungewissheit hinein, obgleich, so sagte ich mir, sollten diese Linien nur abwärts gerichtet sein, ich irgendwann aus der Höhe hinab im Tal ankommen müsste, was mir augenblicklich noch zeitlich zu früh erschien, war ich doch noch keine lange Zeit unterwegs, denn ich fühlte mich auf der Höhe wohl, jedenfalls nicht unwohl, denn das Gefühl der Furcht war mir gänzlich entwichen und auf keinen Fall mit einem zeitlichen Zustand verbunden, und dennoch zog ich es in die Betrachtung ein, dass diese Empfindung trügen konnte, in dem die Höhe zu hoch und unbeherrschbar für einen Einzelnen zu werden vermochte, die gefühlte Grenzenlosigkeit plötzlich zu einer strikten Verengung, einem Nadelöhr ähnlich, führen konnte, welches mit Überschätzung der eigenen Möglichkeiten oder Kräfte sehr gut beschrieben werden kann, gegenwärtig sich das Wetter bemerkbar schwieriger gestaltete, die momentan noch zarten Flocken zu größeren und undurchdringlicheren auswuchsen, gleichzeitig die Temperatur absackte und eher an eine große Kältekammer erinnerte, die schon bald auch die letzten Wärmetropfen aus dem Körper ziehen wollte, sodass der unbedingte Wille und Glaube an sich selbst, das Vertrauen an die ungebrochene physische Stärke, sich alsbald zu Übermut wandeln sollte, denn diese voluminösen weißen Flocken flogen mir direkt ins Gesicht, sie klopften wie kleine Klatschen auf meine Haut, schmolzen anfangs noch, um alsbald eine gefrorene Schicht wie eine Panzerung auszubilden, gegen die sich meine Lider kaum noch, und wenn nur kurz, zu öffnen vermochten, obgleich selbst das Sehen nicht mehr bewirken konnte, da sich die Landschaft in dieses allgemeine Weiß zu einer Blendung der Augen mittlerweile gewandelt hatte, und damit ein weiteres Anrennen unmöglich gemacht hatte, es nur zu dem vernünftigen Entschluss in mir führen konnte, nunmehr abwärts gleiten zu müssen, in der Hoffnung, nicht zu einer tödlichen Eisfigur zu erstarren, welche das pulsierende Blut endgültig zum Erliegen bringt, wobei die Erinnerung in mir Kindheitserlebnisse an Hitze wie auch Kälte hochspülte, beispielsweise wie ich als Kind mit anderen Kindern zusammen mit unseren Schlitten die sanften Anhöhen runter gesaust sind, wir uns das eine oder andere Mal dabei überschlagen haben, lachend wieder aufrappelten, auch wenn wieder einmal so richtig wehgetan hatte, wir dabei alles Leiden und Wut herausgeschrien haben, so als wollten wir mit diesen animalischen Lauten, die Schmach auf der Stelle vergessen oder auch verjagen wollen, und doch, was half dieses Schmerzgeschrei?, nichts, denn erst als der kalte Schnee die Glieder taub gemacht hatte, war das Befinden wieder in eine Balance geraten, zu einer Harmonie zurückgekehrt, sodass das Vergnügen des Rodelns über das Missgeschick dominierte und zugleich in den Hintergrund gedrängt worden war, ja, dann hatte ich mit den anderen zusammen meine Gewissheit zurückgefunden, den Hügel abermals erfolgreich bezwingen zu können, wobei wir, so erinnere ich mich augenblicklich, häufig die Zeit vergaßen, und gleichzeitig damit Signale des Körpers missachteten, welcher sich aus natürlichen, lebenserhaltenen Gründen bei mir wie den Freunden gemeldet hatte, in der Weise, dass einige Glieder des Körpers abzusterben drohten, leicht bläulich mit einem Touch ins Schwarze waren die Hände und Fußzehen bereits angelaufen, sodass unsere Mütter diese nur mit viel Reiben und auch duldsamer, milder Ofenwärme wieder aus der fortgeschrittenen Klammheit in das Gefühl zurückholen konnten, wobei diese sogenannte mütterliche Pflicht unter ständigem Schimpfen und Vorwürfen erledigt wurde, weil sie, wenn das Lebenskribbeln nicht schnell genug zurückkommen wollte, in ein ängstliches Geheul ausbrach, weil sie ebenfalls aus der Erfahrung wusste, sollten die Zehen bereits annähernd abgestorben sein, unbedingt die Hilfe eines Doktors vonnöten war, schlimmstenfalls sogar der Verlust eines oder mehrerer Glieder drohte und damit zu einer Verstümmelung führen würde, die ein unbedarftes Leben unverzüglich zunichte gemacht hätte, nur aus einem kindlichen Übermut oder auch Leichtsinn heraus, und wie sie dann bei ihrer Hilfe immer wieder klagte, die Zukunft oder die Karriere bereits in den jungen Jahren ein Ende gefunden hätte, sodann von ihrem eigenen Reden getrieben, die Glieder wieder und wieder massierte, drückte und küsste, zwischendurch es auch die eine oder andere Ohrfeige vor Glück setzte, weil es ihr wieder einmal gelungen war, und sich die bereits abgestorben geglaubten Glieder mit einem heftigen Kribbeln und einschießender Hitze bemerkbar gemacht und damit ins Leben zurückgemeldet hatten, und zwar so rasend, dass diese Lebensschmerzen wild wie warnend zugleich waren, und damit mir, dem Kind, eine letzte Warnung geschickt hatten, indem die Grenze zum Absterben erreicht worden war sowie mir wie den anderen Freunden mit eben diesen Schmerzen eine Erfahrung oder Lektion für das ganze Leben erteilt hatte, so etwas nicht noch einmal auszureizen, keinesfalls die Grenze zu überschreiten, und das hatte Mutter, weil sie diese Erfahrung bereits seit langem verinnerlicht hatte, und sie sie mit ihren großen Gefühlen wie Heulen und Schlägen mir damals zu verdeutlichen versucht hatte, wusste, denn das Leben setzt sich aus vielen Einzelerlebnissen zusammen, die prägend für das weitere Erwachsenwerden und von unbedingter Notwendigkeit sind, ja, sein müssen, damit nicht weitere Torheiten begangen würden, die auch als Selbstschutz zu verstehen sind, nicht das Leben aufs Spiel setzen zu wollen, da es in unserem Entwurf ausgeschlossen ist, dem gläubigen Menschen aus der Kirchenlehre bekannt, dass, wer Selbstmordgedanken in sich trüge, aus der Glaubensgemeinde unverzüglich ausgestoßen und wie ein Fremdkörper mit Schande und als Warnung für gleichdenkende belegt würde, und dieser ebenfalls kein Grab in der Gemeinde fände, sondern achtlos irgendwo vor den Toren der Stadt und nicht mehr auffindbar eingescharrt würde, sowie ebenfalls die komplette Familie als die eines Selbstmörders, eines unverzeihlichen Vorgangs, zur Schande geraten würde…….

      und genau diese Gedanken führte ich…… und konnte ich aus seinen Augen lesen, während er durch die bekannte Schiebetür der Ankunftshalle tritt und sich unsere Augen für einen Augenblick begegnen und verbinden, während er mit seinen Koffern auf dem Gepäckwagen nachdenklich allein in einem gemächlichen Trott vor sich herschiebt, orientierungslos und irgendwie unentschlossen, zu welcher Seite er hin hinaustreten möchte, jedoch wohlwissend, dass er allein die Heimfahrt antreten wird, und nicht, wie die meisten anderen von ihren Angehörigen oder Verwandten abgeholt und freudig in die Arme geschlossen werden,…..

       als die Ski sich durch das unendliche Weiß furchten ohne Richtung oder Orientierung, als ich plötzlich einen Schatten gewahr wurde, irrational und nicht wie von dieser Welt, eine Sinnestäuschung oder Sinnesverführung, möglicherweise war es bereits der Übertritt in dieses andere, schönere Leben, welches augenblicklich der Schatten andeutete, obgleich mir bekannt ist, das Schatten und das göttliche Reich nichts gemein haben, obgleich sie sich einander bedingen, denn wie sollte gut und böse unterschieden werden, wenn nicht durch diese Gegensätzlichkeit, und war es nicht so, dass im Alten Testament der Teufel als ein Engel beschrieben wird, der das Himmelreich verlässt, um das Schattenreich in der Tiefe der Erde zu begründen und zugleich hinübergleiten zu wollen, jedoch auch ein weiterer Blick und Wischer über die Augen ließ den Schatten nicht verschwinden, ein wenig skeptisch lenkte ich meine gleitenden Skier auf diesen Schatten zu, der sich mit jedem Meter vergrößerte und letztlich zu einer Hütte auswuchs, die in der augenblicklichen Situation wie von göttlicher Hand genau dorthin verpflanzt worden war, hilfespendend gebaut für ausweglose Verirrte wie mich, um dort Unterschlupf wie auch Schutz finden zu können, bis sich das Wetter oder besser Unwetter zum Schönen hin gewandelt hatte, ja, tatsächlich stand dort ein fester Schutzbau aus massiven Bohlen gebaut und mit einem Dach versehen, welches mit Steinen beschwert war und einen Überhang zur vorderen Seite hin auswies, sodass sich dort der Wind fangen und für einen Augenblick verweilen konnte, bis dieser von der nächsten Bö ergriffen und mit Wucht zur Seite geschoben wurde, und all das spürte ich in diesem Moment, dass nur durch eine Ruhepause ein Einhalt vor dem Schneegestöber gewährt würde, also ein Eindringen in das Innere der Hütte lebensnotwendig war, um sich dort bei gemäßigten Temperaturen und vor allem gegen den heftigen, eisigen Wind wie auch die dicken Flocken ein Zeitfenster zum Abwarten auf besseres Wetter, welches in den Schweizer Alpen schlagartig wechseln und überfallartig einfallen konnte, gewährt würde, ja, wenn es nur die Möglichkeit gegeben hätte, mir einen Zutritt in das Innere der Hütte verschaffen zu können, der mir grausamerweise augenblicklich verwehrt wurde, obgleich sich eine Tür anhand von Ritzen sichtbar abzeichnete, die sich keinen Millimeter bewegen ließ, weil sie offensichtlich vereist oder zugefroren, trotz aller heftigen Schläge und Tritte meinerseits widerstand, die, wie mir erschien, den Widerstand des Holzes sogar eher zu steigern schienen, keinesfalls aber schwächten, und nicht einen Millimeter nachgeben wollte, sodass ich nach etlichen verzweifelten Versuchen kraftlos geworden aufgeben musste, währenddessen, je wohin ich mich