Carsten Wolff

Der Augenleser


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über Einbrüche, Überfälle, Betrügereien in der Zeitung lesen können. Das muss man akzeptieren!«

      »Und finden Sie das gut?«, hakt der Holsteiner nach.

      »Nein! Akzeptanz der Zustände oder auch Angst bestimmen die Handlungsweise! Hören Sie, meine Mutter hat mir die Verhältnisse, wie sie bei Ihnen offensichtlich noch immer herrschen, geschildert. Sie erzählte, niemand hat seine Haustür abgeschlossen, man hat sich gegenseitig besucht, geholfen, das Kind für ein paar Stunden abgegeben und so weiter. Ist vorbei seit den 70 er-Jahren. Sicherheitsschlüssel, spezielle Riegel, Kamerasysteme sind fast überall installiert.«

      »Das ist doch furchtbar!«, ruft mein Nachbar aus.

      »Mehr als das! Wirkt aber beruhigend. Hören Sie: Meine Nachbarin haben sie wegen ihrer Leichtgläubigkeit bereits zweimal ausgeraubt….«

      »Ach, wie das?«, ruft er entsetzt aus.

      »Mein sorgloser Herr! Das ging ganz einfach. Da hat eine jüngere Frau bei ihr geklingelt und zu ihr gesagt, dass sie sehr dringend auf Toilette müsse, weil sie schwanger sei. Und was macht meine Nachbarin? Sie ist übrigens 84 Jahre alt und wohnt allein, öffnet ihre Wohnungstür, lässt die Frau eintreten, die auch sofort auf die Toilette rennt. Als sie wieder herauskommt, bittet sie noch um ein Glas Wasser und die beiden Frauen gehen in die Küche. Dort lenkt sie die alte Dame mit irgendwelchem Gefasel über ihre angebliche Schwangerschaft ab. Irgendwie hat die Lügnerin es geschafft, dass die Haustür nicht verschlossen ist. Also, während die beiden sich in der Küche befinden, verschafft sich ihr Komplize Zutritt zur Wohnung und klaut ihr den Schmuck, der sich im Schlafzimmer in Schatullen befindet. Da lag auch noch etwas Bargeld, wenig zwar, nur ein paar Euro und schwupp war auch das weg und der Komplize wieder aus der Wohnung raus. Das Ganze hat höchstens 1- 2 Minuten gedauert. Unglaublich! Aber diese Klauer wissen, wo die Leute ihre Sachen aufbewahren. Meine Nachbarin hat das erst ein oder zwei Tage später bemerkt, als sie ausgehen und ihre Uhr umbinden sowie einen Ring überstreifen wollte. Und da sie sich nicht sicher war, hat sie erst einmal in der ganzen Wohnung gesucht. Und dann hat sie den Verlust realisiert und ist zur Polizei gelaufen. Und was meinen Sie, was man ihr dort gesagt hat?«, frage ich meinen Holsteiner Nachbarn.

      »Ich weiß es nicht?«

      »Ach, liebe Frau«, hat man zu ihr gesagt, »passen Sie besser auf Ihre Sachen auf. Das passiert in Hamburg diverse Male am Tag. Wir, die Polizei, geben immer Warnungen heraus, aber die liest ja keiner, offensichtlich!«

      »Also hatte eigentlich die alte Dame noch Schuld daran, das wollen Sie mir andeuten«, antwortet der Fremde.

      »Genauso ist es. Besser aufpassen? Wie soll das gehen? Solche Strolche sind doch Profis. Die besitzen eine sehr gute Menschenkenntnis!«

      »Verrückt, diese Welt. Und Sie sprachen vorhin von einem zweiten Mal?«

      »Hat sich ganz ähnlich abgespielt. Wieder eine solche Mitleidsnummer! Na ja, als mir das meine Nachbarin gestanden hat, dabei wollte sie mir nicht in die Augen sehen, habe ich zu ihr gesagt: „Sie werden aber auch nicht schlau daraus!“ Da hat sie nur still genickt und war weiterhin sehr kleinlaut. Aber wissen Sie, was sie mir gestern erst gesagt hat. Darauf werden Sie nicht kommen?«

      »Was denn?«

      »Nun könne ihr nichts mehr passieren, nun besitze sie keine wertvollen Gegenstände mehr!«

      »Galgenhumor!«

      »Genau das habe ich Ihr darauf geantwortet und mit dem Kopf geschüttelt. Ein Rat: Hängen Sie ein Schild an Ihre Tür: Ich bin zweimal überfallen und ausgeraubt worden. Ich besitze jetzt nichts Wertvolles mehr!«

      »Wenn es denn hilft! Oh, da kommen meine Kinder! Tschüs!«, und sofort springt er auf und läuft den beiden winkend und freudestrahlend entgegen.

       *

      Eben hat sich die Schiebetür geöffnet und hat einen Urlauberschwall durchgelassen. Darunter befinden sich auch die Kinder des Herrn aus der Nähe von Husum, dessen Namen ich nicht einmal weiß. Ist eigentlich auch unwichtig, wir werden uns vermutlich nicht noch einmal begegnen. Jetzt dreht er sich mir noch einmal zu und winkt und zeigt stolz auf seine Hochzeitler in spe oder nicht spe? Wer weiß es schon? Ich nicke ihm freundlich zu, währenddessen er seine Kinder umarmt hat und sie mit sich zum Ausgang zieht. Ich schau mir die beiden an. Vom Lande, das stimmt! Typisch langweilig angezogen, mit irgendwelchen Urlaubsmarkenshirts versehen. Billigplagiate, in denen häufig auch Strass verarbeitet ist, deren Steine unlogisch, ungeordnet vor sich hinglänzen und vermutlich auch bald abfallen werden. Dazu kommen einheitliche Shorts in blau, um eventuell aus der Unsichtbarkeit hervorzutreten oder um sich nicht zu verlieren. Ist bei Koffern auch üblich. Irgendwelche Slipper klappern an ihren Füßen. Und braun gebrannt wie die Brathähnchen sind sie beide außerdem übereinstimmend. Vermutlich zeigten beide zuvor bereits diese ungesunde Hautfarbe, oder wie ich es einmal von „fachkundiger“ Seite gehört habe, dass es angeraten sei, sich vor dem Sonnenurlaub im Studio aus Schutzgründen vorbräunen zu lassen. Aha! Sie ist von kräftiger Statur, nicht schwabbelig, eher speckig, jedenfalls weisen ihre Oberarme einen beträchtlichen Umfang aus, was ich von meiner Position gut erkennen kann. Zusätzlich steht sie auf unerschütterlichen Beinen, die sie, wie ich vermute, für ihre Arbeit dringend benötigt. Ihr Mann besitzt ebenso eine kräftige Figur, denn er schiebt bereits in seinen jungen Jahren eine sogenannte Bierkugel vor sich her. Nicht so beträchtlich im Umfang aber bereits groß genug, dass das T-Shirt in der Lendenregion nicht mehr abschließt und bereits an die Dehngrenze gestoßen ist. Dazu kommen obsolete Frisuren: Die Haare sind passend blondiert und mit einer Krause versehen, die mich ein wenig an die achtziger Jahre erinnern lassen. Lässig hochgeschoben tragen beide ihre Sonnenbrillen in das Haar gesteckt. Ein passendes Paar, wie ich meine, welches nach ländlich geprägter Meinung gesund wirkt. Typ: Wirtsleute!

      Ich lasse meine Augen auf ihnen verweilen, um einen Blick von ihnen zu erhaschen, was mir leider nicht gelingt, zu beschäftigt sind die beiden. Ich hätte gern mehr erfahren und etwas aus ihren Augen herausgelesen. Auf der anderen Seite habe ich bereits sehr viel aus ihren örtlichen Zuständen von ihrem Vater erfahren. Wahrscheinlich wäre auch nicht sehr viel mehr dazugekommen. Wie auch? Manchmal schäme ich mich, wenn ich in ein solch vorurteilsvolles Denken verfalle. In diesem Falle nicht. Ich befinde die beiden für uninteressant, die mir nichts Wissenswertes zu berichten hätten, ansonsten hätte mir ihr stolzer Vater ganz sicherlich davon erzählt, so redselig, wie er noch vor kurzen neben mir gesessen hat.

       *

      Etwas lustlos geworden streife ich erst einmal durch die lange Ankunftshalle. Ich betrachte hier und da einige Auslagen, betrete das Zeitungsgeschäft, blättere ebenso lustfrei in einigen Boulevardzeitungen herum, wobei ich sofort auf die bloßen Busen und Hintern von einigen sogenannten Sternchen stoße, die zur Wahl des Monats zur Abstimmung für die Leserschaft bereitgestellt sind. Darüber hinaus kommentieren die bunten Blätter fast einhellig ihre Meinung zu den üblichen Trennungen von Prominenten, zeigen es bildhaft an, indem sie einen Trennungsschnitt durch ein veraltetes, gemeinsames Bild mittels Photoshop eher schlecht verändert haben, die offensichtlich so wichtig sind, dass sie sich gut vermarkten lassen, obgleich ich, was natürlich nichts zu bedeuten hat, die meisten Namen der Promis nicht einmal kenne, beziehungsweise nun zum ersten Male von diesen lese! Wie gesagt: Ich bin kein Maßstab für sogenannte wichtige Personen. Ich denke mir dabei: Wenn diese Geschichten auf der ersten Seite zu sehen sind, also irgendwie bewegend sein müssen, jedenfalls aus der Perspektive der Redaktionen und nicht aus der Sicht der Leserschaft, dann entsteht bei mir sogleich die Frage und auch Sorge: Was ist wirklich wichtig? Wichtig sind (für mich!) Familie, Freunde, Gesundheit, friedliches Zusammenleben, Perspektiven für die Zukunft, geregeltes und vernünftiges Einkommen. Weitere Wichtigkeiten: Vernunftgesteuerte Politik(er), leider ist das eine illusionäre Wunschvorstellung, wir Bürger werden schon lange nicht mehr gefragt, so abgehoben sind Gewählten mittlerweile. Zusätzlich beruhige ich mich in der Regel damit, dass mein Geist offensichtlich andere Prioritäten setzt oder mit dem zunehmenden Alter von Ü-30 bereits an Unschärfe zunimmt. Wie sagte unser erfahrender Professor immer zu uns jungen Studenten: Älter werden zeigt sich darin, dass jemand das Interesse