Carsten Wolff

Der Augenleser


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zum Auto, die Schatten sind noch länger geworden, bald bricht die Nacht an, und auch ist eine Kühle eingezogen, sternklarer Himmel, müde bin ich, ich werde mich ausruhen und ein wenig schlafen, doch die Ohren bleiben offen, ich muss hören, wenn ein Auto kommt, bin ich schon einmal nachts in der Wüste gefahren?, zu gefährlich, die verletzte Hand habe ich an den Körper gezogen, wie dick die ist, irgendwann kommt das Morgenlicht auf und dann kommt das Glühen zurück, gottseidank habe ich ja noch Wasser, guck mal dort vorn die schöne Stadt, wieso habe ich die gestern nicht gesehen, die liegt doch dort unten am Fuß der Düne, ja, sehr schön und weiß schimmernd im Sonnenlicht, wenn ich erst einmal dort bin, dann kann ich auf die Wüste schauen, lieber Gott, vielen Dank, dass Du mir die schöne Stadt geschickt hast, ich weiß, auf Dich kann man sich verlassen, Meter für Meter gehe ich auf sie zu, verdammt!, ich laufe jetzt schon zwei Stunden und wieso kommt sie nicht näher, ich verfluche Dich schönste Stadt, oder bist Du gar keine Stadt, aaahhh, nur eine Luftspiegelung, wie komme ich zu meinem Auto zurück?, Fußspuren, ja, ich muss nur nach meinen Fußspuren schauen, jetzt habe ich kein Wasser mehr, egal, es kommt ja gleich Hilfe für mich, und wenn nicht?, wie lange kann ich ohne Wasser auskommen?, 10 oder 12 Stunden, ach es kommt ja gleich jemand vorbei, erst einmal esse ich den Rest der Banane, gut dass sie so reif ist, ist ja fast wie Trinken, mein Hals ist bereits ein wenig rau, noch der letzte Hügel und dann bin ich bei meinem Auto, oh, guck mal, da liegt ja noch eine Apfelsine im Sand, meine Rettung, wie ich Apfelsinen liebe oder eher Bananen?, ja Bananen, aber nun habe ich keine Stück mehr davon, ich werde später daran lutschen, wieder kommt ein leichter Wind auf, er wird mir ein Auto zuwehen, wie dunkel es auf einmal ist, ich fröstele, Gleichgültigkeit macht sich in mir breit, wieder Nacht, tief dunkle Nacht, ist das Schicksal nicht mit den Sternen verknüpft?, so sagt man doch, jetzt wird es richtig kalt, ich beginne zu frieren, meine Zähne klappern, ist es der Durst?, den habe ich gar nicht gespürt, ich muss mich schützen, so krieche ich auf die andere Seite, ja, hier ist es besser, ich habe ja noch die Apfelsine, mein Herr, möchten Sie nicht ein saftigsüßes Stückchen davon, herrlich, nein, besser erst morgen früh, meine Kehle schnürt sich langsam zu, oh, das kann nicht Gutes bedeuten, jetzt setzt der Durst ein, es sind schon 10 Stunden vergangen, ich lebe noch, noch mehr Durst, nur nicht daran denken, mein Hals scheint versteinert… und die Zunge, ist die aus Gips, rau, hart wie eine Feile, ich muss an der Apfelsine lutschen, ich wusste gar nicht, dass Apfelsinensaft brennen kann, etwas Linderung wird der Saft schon bringen, jetzt will die Gipszunge aus dem Mund quellen, ganz weit reiße ich den Mund auf, ich muss atmen können, gnadenlos glüht der Sand, jetzt sind schon mehr als 12 Stunden vergangen und ich lebe immer noch, scheiß Statistiken, ja, ihr habt keine Ahnung, seht, wie ich lebe, mein Hals ist jetzt komplett zugeschnürt, ja, ich sehe meine Zunge, lang und dick ist sie, ich werde mit der Apfelsine daran reiben, damit sie nicht noch länger wird, Speichel, was ist das, ich habe nur Gips oder Stein, ich muss erst einmal räuspern, kein Laut kommt heraus, ja, mein Herr, haben Sie sich schon einmal mit einem Steinhals und Gipszunge geräuspert?, haben sie im Museum die alten Figuren schon einmal räuspern hören?, Stille, nur Stille und ein leichtes Rauschen des Windes, nein, ich höre ein Motorengeräusch, schnell auf den Hügel, damit es nicht wieder an mir vorbeifährt, ich winke und winke, guck, das Auto bleibt stehen, und jetzt macht es eine Kehrtwendung… und , ja, es hat mich gesehen, ich rolle die Sanddüne hinab und rolle und rolle, Stillstand, ich liege….zwei Arme ziehen mich hoch und setzen mich auf, irgendetwas sagt der Mann, ich verstehe nichts, dann läuft er weg, kommt wieder zu mir und schüttet mir Wasser über den Kopf, ich öffne die Lippen und lasse es in mich hineinlaufen, was für ein herrlicher Geschmack, so schmeckt Leben, nach Wasser?, dann zerrt mich der Fremde zu seinem Auto, ich liege dort und träume… von einem riesigen See…, als ich wieder aufwache, liege ich in einer Klinik…. Und träume nicht mehr, ich weiß!

      Noch einmal schaut der müde Mann sich um, ein zweites Mal treffen sich unsere Augen, die sagen: Ich weiß! Dann dreht er vor mir eine kleine Schleife, wendet sich ab und geht auf den Taxenstand zu.

       *

      Zwischendurch, wenn ich dort erwartungsvoll auf (m)einer Bank sitze und auf die nächsten Gäste warte, geschieht in der Regel wenig. Doch manchmal…..

      »Ist neben Ihnen der Platz frei?«, werde ich von einem gesetzten Herrn angesprochen.

      »Bitte nehmen Sie doch Platz«, antworte ich freundlich und lasse meinen Blick über ihn gleiten. Etwa 55 Jahre alt, gepflegt, von schlanker Gestalt, nördlicher blasser Typ, so ist mein erster oberflächlicher Eindruck.

      »Es ist immer wieder spannend, wenn man seine Kinder erwartet«, so fährt er fort. »Die waren auf Gran Canaria und kommen jetzt zurück. Es muss ein toller Urlaub gewesen sein, haben sie mir jedenfalls geschrieben!«

      »Ich war ein paar Mal auf Lanzarote. Der teilweise dunkle, vulkanische Sand ist gewöhnungsbedürftig. Aber sonst? Sehr angenehmes Klima! Nicht zu heiß im Sommer«, antworte ich höflich unverbindlich.

      »Ich bin sehr früh dran. Der Flieger soll erst in circa 40 Minuten landen. Aber man weiß ja nie. Wir kommen aus Schleswig-Holstein. Da muss man rechtzeitig losfahren.«

      So redselig, der Herr, so denke ich. Ist ja eigentlich nicht die nordische Art. Da verhält man sich eher mundfaul, wie man zu sagen pflegt. Sicherlich liegt es an der Anspannung, dass ihm die Wörter so leicht entgleiten.

      »War eigentlich so etwas wie eine Hochzeitsreise von den beiden!«, meldet er sich wieder zu Wort.

      »Ach ja? „Eigentlich so etwas“. Was bedeutet das?«

      »Sie wollten sich in Ruhe aussprechen, wann und wie die Hochzeit vonstattengehen soll. Wissen Sie, bei uns auf dem Lande ist das immer eine große Angelegenheit. Da werden dann Gott und die Welt eingeladen. Und wenn dann die Tante Emma 5. Grades vergessen worden ist. Oh, oh!«

      »Dann ist offensichtlich Ärger vorprogrammiert. Das meinen Sie wohl damit!«

      »Genauso verhält es sich. Die vielen Angehörigen unter einen Hut zu kriegen, das ist wirklich nicht einfach. Dem einen passt es so nicht, der nächste hat, daran etwas auszusetzen. Und so geht das in einer Tour.«

      »Mein Herr! Ich kenne Ihre Familie natürlich nicht. Ich versuche mich, gerade in die Lage hineinzuversetzen. Also: Wenn ich mir vorstelle, zu heiraten und es verhält sich derartig kompliziert, ich denke, ich würde nach Dänemark fahren und mich dort vermählen. Das klappt ohne großes Aufgebot. Und dann könnte man als Ehepaar eine schöne Feier veranstalten. Wer kommt, kommt! Und wer sich auf den Schlips getreten fühlt? Dann ist es eben so!«

      »Nein, nein, so geht das nicht bei uns. In diesem Fall hätten sie das ganze Dorf gegen sich aufgebracht!«

      »Na ja, die werden sich irgendwann auch wieder abregen!«

      »Mein Herr, man merkt, dass Sie aus einer Großstadt kommen, jedenfalls vermute ich es Ihrem Reden nach. In unserem Dorf in der Nähe von Husum ist seit Generationen jeder mit jedem verwandt. Und wenn sie eine Person davon ausschließen, schließen sie das ganze Dorf aus. So verhält es sich bei uns. Wir sind insgesamt eine große Familie«, antwortet er mir in seiner ruhigen Art.

      »Und die jungen Leute rebellieren nicht dagegen?«, frage ich interessiert nach.

      »Das kommt immer mal wieder vor. Legt sich aber wieder mit dem Älterwerden. Viele Junge sind deswegen weggezogen und kommen dann ab und an zu Besuch. Leider!«, sprich er etwas wehmütig und fährt dann fort.

      »Deshalb ist unser Dorf mittlerweile überaltert. Wissen Sie, ich bin jetzt 55 Jahre alt und gehöre zu den jüngeren Menschen. Verrückt nicht wahr?«

      »Sehr gewöhnungsbedürftig zumindest würde ich sagen. Hier in Hamburg ist so etwas kaum vorstellbar. Da wohnen die Leute seit Jahren Tür an Tür und kennen sich kaum. Mal wird ein Wort gewechselt, wenn man sich zufällig am Briefkasten trifft, oder man grüßt sich…. Und das war es auch schon. Glauben sie nicht, dass jemand seinen Nachbarn um Milch, Zucker oder Ähnliches bittet. Kommt nicht mehr vor, seitdem die Geschäfte bis nachts geöffnet haben. Und wenn wir für ein paar Tage in den Urlaub fahren, erfährt es niemand im Haus. Einbruchsgefahr wissen sie. Und glauben Sie nicht, dass jemand dem Nachbarn den Wohnungsschlüssel