Carsten Wolff

Der Augenleser


Скачать книгу

Menschen. Doch Schuld besaß auch wie immer niemand an dieser Situation, denn die Anordnung war „von oben“ gekommen und musste unbedingt ausgeführt werden. Verflucht seien diese wahnsinnigen, gefühlslosen Geister. Augenblicklich würde man sich einen ausgleichenden, friedvollen Geist, so wie es Jesus einmal gewesen ist, wünschen. Jedoch zu viel Zeit ist seitdem vergangen und diese Hoffnung in Vergessenheit geraten! Nur manchmal piepst eine schwache Mäusestimme von irgendwo auf, über die von allen Seiten gleichzeitig eingeschrien und die sofort zum Schweigen gebracht wird. Hoffnung vice versa Realität!

      Wie es Friedrich und Liselotte ergangen ist, wissen wir nicht und werden es auch nicht erfahren?

      Nur ein paar Zentimeter höher sind zwei weitere Namen eingeritzt worden. Diese sind 1939, also 25 Jahre später dazugekommen. Karl und Hermann sind dort zu lesen. Und wieder ist ein Kreis um die Namen eingekerbt worden. Und auch ein Zusatz steht dort zu lesen: „Hoffnung! Gibt es die?“ Vermutlich hatten die beiden ihre Einberufung erhalten und waren dann zu diesem Baum gelaufen, um sich auch dort zu verewigen. Möglicherweise waren es Freunde, vielleicht auch Brüder, die dieses Mal in den geschichtlichen Ofen des Krieges geworfen werden sollten. Möglicherweise waren es Kinder von Friedrich und Liselotte?

      Tatsächlich ließe sich sehr viel darüber spekulieren und konstruieren. Aber ganz ehrlich: Was würde es helfen?

      Und was mache ich? Ich hole ein kleines Messer aus der Tasche. Wie allein zieht die Klinge ihre Bewegung auf dem starken Stamm: „Hoffnung! Die gibt es immer! Denn wer diese aufgibt, gibt sich selbst auf!“

      Ich werde in ein paar Jahren wieder diesen Baum besuchen kommen und nachschauen gehen. Möglicherweise befinden sich die nächsten Namen und auch ein weiterer Spruch dort auf dem Stamm. Allerdings, so könnte ich mir genauso vorstellen, dass dieser Baum gefällt worden ist, um jegliche Schulddiskussion im Keim zu ersticken. Mal sehen, was ich dort vorfinden werde?

      Die Fischbrötchen in dem zentral gelegenen Imbiss sind berühmt, wie auch sehr begehrt. Man darf nicht zu spät kommen, um noch ein paar Leckereien erwerben zu können. Immer, wenn ich solch einschneidende Erlebnisse erlebe, fängt augenblicklich mein Magen wie ein Hund zu knurren an. Dieser Imbiss befindet sich in Schrittweite von dem Baum und mir. Und so lege ich die kurze Strecke zu Fuß zurück. Bereits etliche Meter zuvor kündigt sich der Betrieb durch den angenehmen Geruch an. Auch diesmal herrscht dort ein großes Treiben. Es gelingt mir, zwei unterschiedlich belegte Brötchen zu bekommen. Wie gesagt: sehr lecker und sehr empfehlenswert! Ein befriedeter Magen lenkt mich sofort von meinem Problem oder den Gedanken darüber ab. Ist er erst angefüllt, wandelt seine peristaltische Arbeit meine Gedanken in Wärme um und erzeugt sogleich angenehme Gefühle in mir.

      So laufe ich zum Strand, lege mich in die wärmende Sonne und beginne die Umgebung zu beobachten. Diverse Küstenvögel tummeln sich auf dem Sandboden. Hier und da schreit ein Vogel auf. Gerade jetzt kommt eine Möwe mit ihrem Fang angeflogen. Sie trägt eine lebende Scholle in ihrem gebogenen Schnabel, wobei sich der Fisch mit Körperschlägen befreien will. Nur unweit von mir landet die Möwe und legt die Scholle im Sand ab und hält sie mit einem ihrer Füße fest. Immer noch, versucht der Fisch sich mit seiner Schlagbewegung zu wehren. Aussichtslos! Ins Wasser kommt sie auf keinen Fall zurück.

      Die Möwe ist durch meinen Anblick ganz offensichtlich irritiert. Bin ich ein Feind für sie? Ständig schaut sie aufgeregt zu mir hinüber. Jetzt schleppt sie die Scholle ein paar Meter weiter weg von mir. Sicherheitsabstand! Und auch die anderen Möwen, denen man ansieht, dass sie Appetit auf den Fang bekommen haben, kreisen ständig über der Fängerin und auch über mir. Ihr Kri Kri ist laut und hektisch! Das Gezappel des Fisches scheint mittlerweile auch die Fängerin zu nerven, denn jetzt schlägt sie ihren Schnabel mehrfach in den Fisch hinein, bis dieser ruhig geworden ist. Ständig schaut sie dabei um sich, um Angriffe ihrer Artgenossen sofort unterbinden zu können. Misstrauisch steigt sie mit ihrem toten Fang auf und fliegt etwa 40 Meter weiter ins seichte Wasser schaukelt dort mit den Wellen. Was nun geschieht, kann ich nicht mehr beobachten. Zuvor habe ich versucht, etwas aus den Augen des Vogels zu lesen. Was ich vorfand, beschränkte sich auf natürliche, ungezwungene Wildheit. Ach, wie gern besäße ich einen Teil davon.

      Stunden sind vergangen, ohne dass diese mir bewusst geworden sind. Es hätten auch Minuten oder Sekunden sein können. Mein Körper ist wie von der Zeit abgekoppelt und in einem Zustand der Trance oder auch Rausch der Gefühlslosigkeit verfangen. Alles um mich sehe, höre und rieche ich, jedoch diese sinnliche Wahrnehmung ist nicht wirklich greifbar. Der Geist ist blockiert. Langsam neigt sich der Tag dem Ende zu. Über dem ruhigen Wasser baut sich eine violette Farbe auf, die endlos erscheint, so als würde sie bis in die höchsten Spitzen des Himmels reichen wollen. Unerschöpflich weit.

      Dieses traumhafte Farbenspiel habe ich im Fischland häufig erlebt. Eigentlich habe ich jedes Mal erwartet, gleich müsse sich der Himmel über mir öffnen und eine Hand mit einem großen Pinsel erscheinen, der die Farben aus der Palette mit Rot beginnend über Violett bis zu einem Schwarz hin langsam und stetig verlaufen lässt. Das kann entweder nur aus übernatürlicher oder einer begnadeten Hand eines Landschaftsmalers stammen. Für einen durchschnittlichen Menschen, wie ich es bin, übersteigt dieses Farbenspiel die Vorstellungskraft. Es verzaubert und lässt eine Wehmut aufkommen, wenn man sich losreißen will. Das ist wohl die Trance, von der ich zuvor gesprochen habe, die mich augenblicklich umfängt.

      Als der Himmel seine tiefste Farbe erreicht hat, wache ich auf. Ich erhebe mich und laufe mit unsicheren Schritten vom Wasser weg und auf die Dorfstraße zu. Erst nach der steilen Kante beleuchten Laternen den Weg. Spärlich zwar, jedoch ausreichend, um den Weg zu finden. Spontan entscheide ich mich, die Nacht in Ahrenshoop zu verbringen. Wenn ich schon in der Aura der Ostsee mich wieder einmal verfangen habe, so wird mir diese auch Hinweise geben, wie ich weiterhin zu reagieren habe. Diese Natur ist gut, ehrlich, authentisch und mir immer ein guter Lehrer oder Ratgeber gewesen, zumal sie nicht von der Hektik getrieben ist. Diese Eigenschaft ist menschlich und zumeist selbst ersonnen, ohne Balance und nur durch planloses Handeln gekennzeichnet. Und plötzlich drückt der Zettel mit der Telefonnummer auch nicht mehr wie Alp auf mir. In der Nacht zieht noch einmal der wundervolle Tag an mir vorbei. Entlastet stehe ich am nächsten Morgen auf und fühle neue Kräfte in mir.

      »Sie scheinen gut geschlafen zu haben«, stellt die Bedienung am Frühstückstisch fest.

      »Und woran haben Sie das bemerkt?«, frage ich gut gelaunt.

      »Ihr freudiges Herz spiegelt sich in Ihrem Gesicht wieder!«

      »Sie haben recht«, antworte ich der jungen Dame, die mir gerade die Kaffeetasse füllt. »Ich habe eine Entscheidung getroffen. Die Atmosphäre in Ahrenshoop hat es mir ermöglicht und zugleich erleichtert.«

      »Hoffentlich eine Gute? Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sind Sie sehr zufrieden damit!«

      »Ja, sehr zufrieden sogar! Es liegt an den Kindern!«

      »An den Kindern?«, fragt sie nach. »Aber Sie sind doch allein, oder etwa nicht?«

      »Allein. Richtig! Ich meine es im übertragenen Sinn. Ich trage Kinder oder besser Kindergedanken in mir.«

      Sie schaut mich verunsichert und ungläubig an, als versuchte ich, augenblicklich ihr einen Bären aufbinden zu wollen.

      »Ich will es Ihnen erklären: Ich habe mich mit meinen Eltern häufiger gestritten, weil ich ihnen unterstellt habe, sie würden ihre eigenen Kinder, meinen Bruder und mich, nicht gut genug kennen. Immer unter dem Vorwand, so sprachen sie: „Wir seien noch zu klein, um zu verstehen!“, haben sie uns Dinge vorenthalten. Doch wir beide verstanden sehr gut sogar, manchmal sicherlich mit dem Herzen. Und wenn Mama bisweilen sehr verzweifelt war, konnten wir ihr einen Rat erteilen, sogar in ganz schwierigen Situationen. Verstehen Sie, das meine ich!«

      »Leider nein!«, sagt die junge Frau zu mir und schüttelt ihren Kopf dabei. »Bei uns zu Hause war das anders. Meine Eltern haben mich immer gefragt, was ich von diesem und jenem halten würde. Ich war immer mit einbezogen……«

      »Glauben Sie zumindest!«, unterbreche ich sie.

      »Nein, nein, das war so und ist auch heute noch so, wenn ich mit meinen Eltern spreche.«