Carsten Wolff

Der Augenleser


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      Als stille Erinnerung fahre ich fast täglich zum Flughafen hinaus. Ich beobachte die Ankommenden: Einheimische, Gäste, Berufspendler, Prominente……. Alles wirkt wie bunt gemischt und durchgequirlt. Diese zufällige Konstellation von Reisenden kann es nur einmal geben und wird nie wieder und auch nicht in ähnlicher Form zusammentreffen, außer, ja, außer die Zeit könnte auf diesem Augenblick zurückgedreht werden.

      Dieser stündlich neu formierte Strom an Menschen. Beim Anblick ihrer Augen fliegen an mir ihre Gedanken, Reflexionen, Grübeleien, Rückblicke, Einbildungen, Fantasien oder sogar Luftschlösser vorbei, sodass ich wie in einem aufgeschlagenen Buch darin lesen kann. Alles ist darin so einmalig wie zufällig zusammengestellt und deshalb einzigartig inspirierend. Wer diesen Ort wie ich besucht, wird ähnliche Erfahrungen sammeln und sich vermutlich darin wiederfinden können: als winziges Etwas, möglicherweise sogar als Winziges Ganzes. Es sind Erlebnisse oder Episoden, die das Leben schreibt und die uns miteinander verbinden, weil wir sie nachvollziehen können. Weil wir Ähnlichkeiten darin entdecken und eben teilweise uns selbst darin wiederfinden. Es ist der Spiegel der Seele bereitgestellt und er wird jedem vorgehalten, um darin dem Menschen genügend Raum an Gefühlsregungen zu bieten, obgleich es nur ein augenblickliches Rauschen des (Menschen) Stromes ist, der sich bereits im nächsten Augenblick wieder zu einer Unschärfe und nur zu Erinnerungen verrauscht hat und anschließend sich in der Stadt gänzlich auflösen wird.

      Jetzt kommt der Typ Businessmann. Souverän, lässig im Auftritt. Anzugträger und nur mit Handgepäck ausgestattet (dasselbe gilt auch für Frau!). Der Blick ist fest und zielgerichtet. Ein schnelles Telefonat, eine Whatsapp zur Info. So geht er durch das Gate und wendet sich dann schnellen Schrittes dem Ausgang zu. Und hier: Der Prominente mit dem aufmerksamkeitsfordernden, umherirrenden und fragenden Blick: „Erkennt man mich, obgleich oder weil ich mich hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt habe?“, mit betont lässigen Bewegungen dazu, die eher einem Schlendern gleichen und sowohl Aufmerksamkeit wie auch Distanz signalisieren sollen.

      In einer Vielzahl werden Tollpatsche, Ängstliche, Vielredner, Schweiger, Erkundiger, Hilfsbereite wie Ablehnende aus dem Gate gespült, um bereits im nächsten Augenblick wieder unsichtbar zu werden. Gesichter, die unscheinbar sind, blass, nichtssagend. Personen, die gläsern wirken, weil sie durch die anderen, bemerkenswerten sofort hindurchscheinen. Diese eben Geschilderten haben nichts zu erzählen und werden auch nichts zu erzählen haben. Sie bleiben in ihrer Oberflächlichkeit, Ignoranz oder auch nur Langweiligkeit gefangen, an deren nicht vorhandenen Kanten und Ecken nichts hängen bleiben kann. Oder noch viel unerträglicher, in deren Leere Erlebnisse verloren gehen, weil sie weiterhin nur Leere generieren können.

      Jetzt werden Gaukler, Hypochonder, Hyperventilierende, Kriminelle, Planlose heraus gespült. Wenige Farbtupfer in der grauen Masse, die darin wie verspritzter Tomatensaft wirken, einerseits auffällig wie gleichzeitig fremdartig. Auch diese kleine Gruppe hat nichts zu erzählen. Sie erzeugen direkt ein abwehrendes Stöhnen oder auch Bürde einer Aura, weil sie problembelastet nervend sind, sodass mein Blick hastig von diesen wegspringt.

       *

      Eine Wüstenfahrt

      Langsam, mit müdem Blick versehen, nähert sich ein etwa 30 Jähriger Mann dem Ausgang. Bedächtig an seinem Gepäck ziehend, so als gelte es eine spezielle schwere Fracht zu bewegen. Eine, die offensichtlich viel schwerer wiegt als sie sich durch das Wenige darstellt. Es ist das inhaltlich belastende Drumherum, was herausquellen will und nur durch die dünne Wandung des Gepäcks zurückgehalten wird. Unsere Augen treffen sich. Sofort bemerke ich, wie sie augenblicklich mit den letzten Erlebnissen angefüllt sind.

       Ich habe Durst, unendlich viel Durst……..

       mitten in 100.000 Quadratkilometern Wüste überschlug sich plötzlich mein Landcruiser, bin ich eingeschlafen oder nur trunken vom gelbglühenden Sand, der wie die Ewigkeit hier schon verharrt, von der Sonne, die mir die Augen sticht, ach, was rede ich da, benebelt von der Hitze eines Backofens, jetzt warte ich auf den Knall, irgendetwas muss passieren, doch nichts!!!, so hänge ich kopfüber in meinem Gurt, meinem Lebensgurt, doch was bedeutet es im Augenblick?, nur etwas Winziges in dieser riesigen Sandkiste, ein Sandkorn vielleicht, mein Herr, möchten Sie ein Sandkorn?, nur exklusiv für Sie?, was höre ich?, Sie wollen es nicht?, aber ich sagte eben, es ist nicht irgendein Sandkorn, nein, es ist Ihr Sandkorn, nein, Sie wollen es immer noch nicht, weil es hier so viel davon gibt!, täuschen Sie sich nicht, mein Herr, bedenken Sie, es ist besser nur ein Sandkorn zu besitzen als diese verdammt heiße Wüste!, immer noch ist kein Knall erfolgt, es ist eigentlich nur Stille um mich, freie Stille, exklusive Stille, fast wie das Sandkorn, welches ich Ihnen angeboten habe, jetzt lasse ich meinen Blick schweifen und dann an mir hinab gleiten, nein, nicht hinab, es muss heißen hinaufziehen, denn ich hänge ja kopfüber im Auto, immer noch kein Knall, so taste ich mich langsam herum, kopfüber, nein, das ist keine gute Lage, wir Menschen wissen schon, warum wir auf unseren Beinen stehen wollen und nicht auf dem Kopf, meine rechte Hand scheint ein wenig taub zu sein, mein Rücken auch, fast ohne Leben….., was brauche ich zum Leben?, Wasser, wo ist mein Wasser, eben war es doch noch seitlich am Auto in einem Tank, ein Riss und… der Sand hat seinen Durst gestillt und mein Wasser getrunken, nur noch ein wenig feuchter Dampf scheint an der Stelle zu sein, ich hoffe, Herr Sand, Sie haben es sich schmecken lassen!, ja, wundervolles, klares Wasser, benommen krieche ich aus dem Wagen, wie komisch so ein Auto kopfüber aussieht, fast wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt und mit den Beinen strampelt, ja, ein Rad scheint sich noch zu drehen, ein Käferrad, haha, wie lustig ist ein Käferrad, träume ich schon?, verdammt, wie heiß der Sand ist, glühend heiß, und jetzt ohne Wasser werde ich nur einige Stunden überleben, Leben, eine Nichtigkeit, wie oft habe ich bereits Stunden vergeudet, und nun sollen sie auf einmal wichtig sein, diese nichtigen Stunden, nein Ihr Stunden, ganz so einfach werde ich es euch nicht machen, nein, ich werde jede Stunde in meine Hand nehmen, Schicksalsstunden, ich bin meine Schicksalsstunde und nicht Ihr seid es, oh guck mal, da vorn liegt ja meine Wasserflasche, schnell hin und ab in den Schatten, ich sehe, wie sich bereits das Blech der Flasche ausbeulen will, Sand bist Du so gierig, Du hast bereits mein Wasser getrunken, sei still, jetzt bin ich am Zuge, und da, da liegen noch einige Bananen, still Dir den Magen damit, nicht mein Wasser, jetzt will ich mit der rechten Hand nach der Flasche greifen, doch, sie bewegt sich nicht, angeschwollen, bewegt sie sich nicht, wie soll das auch gehen?, versuchen Sie einmal mit einer angeschwollenen Hand nach etwas zu greifen, mein Herr, schwierig, ach, sagen Sie, Sie haben ja noch die linke Hand, wunderbar, dass wir Menschen zwei Hände haben, ah, ist die Flasche heiß, wer kommt auch auf die Idee, eine Metallwasserflasche mitzunehmen, wenn er in die Wüste fährt?, sie ist noch halbvoll, das wird für die nächsten Stunden reichen, Stunden?, sonst kommen doch immer so viele Autos hier entlang, wieso ist denn jetzt nichts zu sehen, ich muss den nächsten Hügel erreichen, von dort kann ich die Autos sehen, wie mühsam der Weg ist, mit dem Auto geht alles so leicht, aber nur, wenn es richtig herum steht, puuuuh geschafft!, jetzt wird gleich eins vorbeikommen, noch nicht, sei nicht so ungeduldig, sind doch erst ein paar Minuten vergangen, was habe ich vorhin über das Sandkorn gesagt, exklusiv?, ja exklusiv wie ein Auto, aber mein Herr, sie wollten das Sandkorn nicht schätzen, also bekommen Sie auch jetzt kein Auto, ja, jetzt haben Sie verstanden, ich muss zurück zu meinem Wagen, ich muss einen Notruf absetzen, so kann mich niemand finden, ich sehe ja selbst wie ein Sandkorn aus, haha, jetzt wird bald ein Auto kommen und mich abholen, geschafft, oh, ich spüre Durst, ich muss erst einmal trinken, haha, in ein zwei Stunden, da brauch ich nicht mit Wasser sparsam umgehen, noch ein Schluck, und noch einen großen, aufpassen und noch etwas übrig lassen, man weiß ja nie, kann erst in drei Stunden die Hilfe kommen, hallooooo!, ich winke mit dem linken Arm, da ist doch bereits die Hilfe, ich sehe ganz deutlich den kleinen Punkt in einiger Entfernung vorbeiziehen, eingehüllt in einer Sandwolke, halloooo!, jetzt ist er weg, nein, der hat mich gesehen und hat eben gewendet, na klar gewendet, ich werde ihm entgegenlaufen und winken, wo bleibt der denn?, ich schwitze vor Anstrengung, noch einen Schluck Wasser vielleicht?, jetzt sind die Schatten bereits länger geworden, und das Auto?, hat es sich verfahren, na, ich werde mit dem Fahrer sprechen, wie man so in der Wüste fährt, ist bestimmt Anfänger, der Fahrer, ich kann hier nicht sitzen