Carsten Wolff

Der Augenleser


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Hermann Hesse, die Märchen

      Rückkehr

      Hamburg: Helmut-Schmidt-Airport.

      Ich sitze in der Ankunftshalle des Flughafens. Meine Lebensgefährtin wird bald aus Afghanistan zurückkehren. Die rote Rose halte ich fest umschlossen in der linken Hand. Ein schlichter Willkommensgruß mitsamt den tausend Küssen, die über sie bereits bald niederregnen werden. Ich warte. Ich bin sehr früh hierhin gekommen.

      Häufig, jedenfalls geht es mir so, komme ich meistens viel zu früh, manchmal leider zu spät. Ja, die Zeit. Ein komisches Ding. Nicht greifbar und doch immer ein stiller Begleiter. Gibt es überhaupt die Zeit? Oder gibt es sie eigentlich nur auf Uhren? Im Augenblick weiß ich es nicht. Ihr Flugzeug ist auf der Informationstafel angekündigt. Lediglich als eine Zeile unter etlichen Zeilen. Nichts Festes, nur eine Zeile oder auch Ankündigung, die ständig vor meinen Augen auf und ab springt. Im Augenblick befinden sich darüber etliche weitere Reihen. Laufend verändern sich diese Reihen. Sie rücken einträchtig nach oben, manchmal werden sie auch wieder nach unten verschoben. Betrachtungsweise, so denke ich…….

      Ankunftspunkt im Airport. Ständig öffnen sich zwei Schiebetüren, die sich links von mir befinden, und geben den Blick auf die Halle und auf die ankommenden Passagiere frei. Wobei nur ein kleiner Teil der Halle dahinter zu erkennen ist. Der Rest bleibt im Verborgenen, außer ich würde vor den Türen hin und her laufen, um auch den letzten Winkel erfassen zu können. Ich sehe Ankommende, wie sie entweder am Transportband unruhig stehen und dort ihr Gepäck erwarten, währenddessen die einzelnen Stücke langsam aber regelmäßig ihre Schleifen ziehen. Die Umstehenden bilden eine feste Kette um das Band herum. Ständig drängelt sich jemand in diese Kette hinein. Manchmal taucht nur eine Hand auf, um sich bereits im nächsten Moment das erwartete Gepäckstück zu schnappen und wegzuziehen. Andere wiederum verhalten sich sehr ruhig, lassen von niemand Unruhe an sich herantragen, werfen zwischendurch ab und zu einen kurzen Blick auf das Band, um sich wiederum einer anderen Beschäftigung wie Handywischen, Telefonieren oder auch einem Nachbarn, vielleicht einer Zufallsbekanntschaft aus dem Flugzeug, zu widmen, bis, ja, bis dann auch das erwartete eigene Gepäckstück langsam vorbeizieht.

      Ganz anders hingegen stellt sich die Situation dar, wenn nur die Ankündigung auf der elektronischen Anzeige erscheint und sich das Band noch nicht in Bewegung gesetzt hat. Unruhige Geister unter den Passagieren laufen hin und her, so als könnten sie mit ihrer Bewegung den Vorgang der Ausgabe beschleunigen, wenigstens jedoch in Gang setzen. Immer wieder wird nach rechts oder links gehastet, bei Nachbarn gefragt oder auch laut gestöhnt: „Warum das heute gerade wieder so lange dauert?“, oder auch „Die schlafen sich wieder aus hier!“ und auch das eine oder andere verächtliche Wort oder Wunsch fällt. Das sind die typischen und ewigen Meckerer, die, wer sich häufig im Ausland auffällt, es, als eine typisch deutsche Eigenschaft beobachten und einordnen wird. Es sind dieselben Typen, denen es auch im Supermarkt um die Ecke nach dem Einkauf auf dem Band nicht schnell, geordnet und gesittet abläuft!

      Ich denke mir meinen Teil dabei, obgleich, sollte ich mich unter diese Menschen einordnen, ich mich irgendwo in der Mitte zwischen ruhig und hektisch wiederfinden würde. Aber wen interessiert es? Mich vordergründig augenblicklich auch nicht!

      Zeit „besitzt“ heutzutage niemand mehr, womit ich wieder bei der anfangs gestellten Frage bin: Zeit! Was ist das? Offensichtlich nichts Gegenständliches. Etwas, um das es sich kreisen lässt wie bei einem Gepäckband. Etwas, worüber es sich sprechen, aufregen, verzweifeln lohnt wie bei einer Uhr. Etwas, was stets vorhanden und es eigentlich wiederum nicht ist wie bei einem Tagesablauf zwischen dunkel und hell, Regen und Sonnenschein. Eine physikalische Größe, die körperlos und doch allgegenwärtig ist. Etwas, was „Alles und Jedes“ miteinander verknüpft, weil es inhärent wie ein Preisschild an der Ware Leben klebt.

      Gegenwärtig öffnet sich wieder die Schiebetür und bringt ein Gesicht und den Oberkörper eines Mannes zum Vorschein, hastig um sich blickend, um einen Angehörigen zu entdecken und zu grüßen, und um demjenigen noch schnell zuzurufen: „Ich komme gleich! Warte nur noch auf das Gepäck!“, als würde sein Abholer sich Das nicht denken können.

      Zeitlos, zeitviel, zeitgleich, zugleich, ungleich, unbekannt, mitGepäck, ohneGepäck, mitMantel, ohneHut, ohneLangehose, imKleid, zuFuss, gefahren, gehüpftwiegesprungen, Gepäckband, getragen, Sperre, Zollbeamte, Polizei….. durch die Schiebetür und fast wieder zuhause, Geschafft! Puuuuuuuuhhhhhhhhhhh!

      Auch auf unserer Seite, der sogenannten Abholerseite, spielen sich ähnliche Szenen ab. Ein ständiges Kommen und Gehen beherrscht den Raum. Doch! Hier kommt eine weitere Variante ins Spiel. Wir befinden uns in einer Halle mit Geschäften, Bistros, Zeitungsläden, Wechselstuben und sogar Ruhezonen. Auch hier schwirren die Menschen unsortiert umher. Jeder interessiert sich für Vieles oder für fast Nichts, ja, einige zelebrieren dieses Gefühl. Es scheint, falsch: Wir haben auf unserer Seite mehr Zeit. Wir befinden uns in der Halle mitZeit im Gegensatz zu der anderen Halle ohneZeit. Wie sonderbar! Die Zeit ist getrennt nur durch eine dünne und zerbrechliche Glasschiebetür. Und diese trägt offensichtlich ihren Namen zu Recht: Schiebetür. Denn ihre Tätigkeit liegt darin, die Zeit hin und her zu schieben, je nachdem Wer sich Wo und auf welcher Seite befindet.

      „Meine Damen und Herren! Was möchten Sie? MitZeit oder ohneZeit. Hier bekommen Sie Ihren Wunsch erfüllt. Kommen Sie, kommen Sie! Hier wird Ihr Wunsch erfüllt. Treten Sie näher!“ In etwa so nehme ich ihr fröhliches, geräuschvolles Schieben wahr.

      Über uns im ersten Stockwerk befindet sich eine weitere Halle. Die Abflughalle. Dort steht auf einem Schild, zu lesen: Abflug! Danke! Vielleicht beim nächsten Mal. Heute befinde ich mich in der Ankunftshalle und beobachte die Ankunftstafel und die Personen um mich herum.

      Jetzt im Moment rollen fünf Passagiere ihre Koffer durch die Schiebetür: Der Vater, die Mutter, vielleicht eine Freundin und zuletzt folgen zwei Kinder. Sie steuern direkt auf mich zu und biegen dann mit einem Schwenk im nächsten Augenblick an mir vorbei. Gut so. Ich habe nicht auf sie gewartet. Ich erwarte meine Freundin mit meiner Rose in der Hand. Sie wird bald da sein.

      Immer wieder öffnet sich die Schiebetür und schüttet Menschen aus, wobei es farblich sehr bunt zugeht. Aus allen Herrenländern und von allen Kontinenten kommen die Passagiere: von Ozeanien über Europa und weiter bis hin nach Amerika. Ein Netz aus Spinnenweben stellen die Flugbahnen der Jets dar. Wobei diese nicht nur in einer Ebene angelegt sind, sondern in Kanälen von unterschiedlichen Höhen verlaufen. Ein Blick auf diese sehr gewöhnungsbedürftige Darstellung zeigt dieses nahezu undurchschaubare Geflecht an. Unverständlich für die unwissenden Passagiere, jedoch wohlgeordnet für die Spezialisten, die Fluglotsen, die tagein und tagaus vor ihren Bildschirmen diesem rätselhaften, mehrfarbigen Wirrwarr vor ihren Augen flackern sehen und jederzeit eingreifen wie auch steuern können, ja, sogar müssen. Und obgleich jeder Handgriff und Wort immer nur einen physikalischen Impuls auslöst, wird es dennoch auf der Empfängerseite in der Kanzel eindeutig verstanden. Und die Passagiere? Die wissen zumeist nichts von diesen Hintergrundvorgängen, vertrauen den Fluggesellschaften wie Piloten und ergeben sich ohnmächtig diesen Mechanismen.

      Dunkelhäutige Menschen, teilweise mit sehr exotischen, grellbunten Farben gekleidet, treten sichtbar hervor, währenddessen die europäischen Fluggäste vor diesen wie Steine am Strand in die Unsichtbarkeit zurücktreten. Und auch die Sprachen sind so vielfältig wie bunte Glaskugeln in einem Kinderspiel. Bei jedem Anblick und Lauten ist der Vielfalt nahezu keine Grenze gesetzt. Wie auch? Die Natur gibt den Takt vor und die Menschen interpretieren ihn unterschiedlich, bevor sie ihn aufnehmen. Sie fühlen sich offensichtlich sehr wohl darin, jedenfalls kann ich es ihren an Zufriedenheit anmutenden Gesichtern entnehmen. Auch beim Gang, überhaupt der Körpersprache treten große Unterschiede hervor. Scheinen einige Gruppen über eine tänzerische Leichtigkeit zu verfügen, indem sie sich federnd leicht bewegen, drängt sich bei anderen eine Schwere und Schlaffheit verbunden mit gekrümmten Rücken hervor. Fast scheint es, als würde die sogenannte Alte Welt Europa unter der Last der Neuen nicht nur die Schwere spüren,