Carsten Wolff

Der Augenleser


Скачать книгу

Feier gewünscht habe, hat ihr SENDER ein großes Tamtam veranstaltet und sie für ihren heldenhaften Einsatz im Ausland und Kriegsgebiet medial herausgestellt. Sie war eine Person des öffentlichen Rechts. So surren die Kameras und ein Blitzlichtgewitter fällt auf uns herab.

      Um selbst privat zu bleiben, habe ich mir einen Backenbart stehen lassen und zusätzlich die größtmögliche dunkle Sonnenbrille herausgesucht. Dazu trage ich einen schwarzen Stetson, den ich zurzeit auf meinem dunklen Mantel auf dem Schoß ruhen lasse, zusammen mit der verwelkten roten Rose, die ich damals als Willkommensgruß bei ihrer Ankunft bei mir getragen habe. Zeit ihres Lebens hat sie nie rote Rosen geliebt, ja, sie lehnte sie sogar als spießig ab. Am Flughafen habe ich damals keine weiße Rose bekommen können, und so habe ich symbolisch als Zeichen für Liebe und Blut zu eben dieser Farbe gegriffen.

      Neben mir sitzen Freunde wie auch Bekannte. Eine Familie besaß meine Freundin schon lange nicht mehr. Der verfluchte Krebs hatte sie ihrer Eltern kurzfristig nacheinander beraubt. Häufig machte sie zynische Bemerkungen zu ihrer Gesundheit, die in mir immer aufs Neue Magenschmerzen wie auch Übelkeit hervorriefen. So sagte sie zu mir: „Wenn mich mein Job nicht tötet, wird es sicherlich der Krebs sein!“ Wenn sie so zu mir sprach, war ich sofort übel gelaunt. Dann antwortete ich ihr stets auf die gleiche Art: „Was für ein Unsinn, nicht an das Leben zu glauben!“, worauf sie wiederum konterte: „Bei meinem Job falle es schon sehr schwer, anders zu denken!“ Wütend beendete ich diese entsetzliche Diskussion: „Du lebst, liebst und nun Schluss damit!“ Zumeist wendete ich mich sofort von ihr ab. Obgleich, und das muss ich an dieser Stelle loswerden: Mehr als nur wenig Verständnis hatte ich für ihre Rhetorik.

      Allein im Jahr zuvor waren etliche Kollegen bei der Ausübung ihrer Arbeit entführt, erschossen und teilweise auf bestialische Weise ermordet worden. Häufiger habe ich deshalb von ihr verlangt, diesen Scheißjournalistenjob aufzugeben. Doch, wie sie stets betonte, übte der Nervenkitzel einen großen Reiz bei der Arbeit aus. Was sollte ich darauf antworten? Mir fiel dazu Fallschirmspringen, Paragliding, Boots- oder Autorennen ein, sparte mir in der Regel diese Bemerkung, denn was hätte ich außer einem milden Lächeln ernten können? Verhielten sich diese Tätigkeiten wie zwei linke Schuhe zueinander. Zu diesem Job musste man geboren oder aber verantwortungslos erzogen sein. Beides war sie nicht, war eher sogar wohlbehütet aufgewachsen. Dennoch hatte sie an diesen Scheißjob Gefallen gefunden. Innerlich war sie offensichtlich immer eine Spielerin gewesen!

      8 1/2 Minuten dauert das „Adagio und poco mosso“ aus Beethovens 5. Klavierkonzert in Es-Dur, welches augenblicklich aus den Lautsprechern der Anlage zu uns Trauernden hinüberschallt, währenddessen sich meine Hände in der Hutkrempe verkrallen und langsam Tränen aus meinen Augen quellen und ihren Weg über die Wangen meines versteinerten Gesichtsausdrucks zum Kinn finden, um letztlich auf den Stetson zu tropfen und um auch darin vergänglich nach einer Weile zu versickern.

      Eine Fliege oder Falter, genau kann ich es nicht erkennen, hat sich von irgendwo kommend gelöst und strebt jetzt flatternd einer Lampe nach oben zu, während die Klaviertöne tropfenartig aus den Lautsprechern klingen. Ihr Geist? Oder nur ein Zufall! Nein, ganz sicherlich strebt ihr Geist geradewegs dem Himmel zu. Würdevoll und majestätisch, wie man es von ihrem Charakter bei der aufopfernden Arbeit nicht anders erwarten darf. Stets war sie loyal zu ihrem SENDER und auch darauf bedacht, den Menschen in den Mittelpunkt der Reportagen zu belassen, dorthin „wohin er auch gehört und was erst Menschsein bedeutet!“, wie sie stets betonte. Humanismus stand für sie in vorderster Front (ein Ausdruck ihrer Tätigkeit).

      Allerdings gab sie bestimmend zu bedenken, nicht von einer falsch verstandenen Menschenliebe zu sprechen, in dem Sinne, dass, was wir Europäer darunter zu verstehen meinen, zumeist nicht mit dem übereinstimmt, worin sie sich beruflich bewegte: in Krisengebieten. Dies sei nicht eins zu eins übertragbar und häufig Auslöser für Krisen. Wie lange haben die Europäer gebraucht, um annähernd ähnliche humanistische Ziele zu definieren, und wie viel Blut musste in diesen Jahrhunderten fließen? Jeder Tropfen war zu viel. Und nun soll unser Verständnis in diesen Ländern in Windeseile von außen oktroyiert werden? Ein Wahnsinn, was da von Regierenden so veranstaltet wird!

      Und da sie selbst diese Mechanismen ablehnte, war es immer ihr Anliegen berichtend wie auch aufklärend darüber tätig zu sein. Eine Herkulesaufgabe und zu schwer für sie, wie sich jetzt bewahrheitet hat. Warnungen hat es von etlichen Freunden gegeben, zwischen uns hat es zumeist zu Streit geführt, aber darauf hat sie nicht gehört (hören wollen!). Offensichtlich verhielt es sich so, einige mögen es Schicksal nennen, zu denen ich nicht gehöre, dass Ihr Anliegen ihr nunmehr zum Verhängnis geworden ist! Dass Geist und Körper getrennt sind, ist langläufig bekannt. Ihr Geist als Falter hat sich uns, zumindest mir, noch einmal gezeigt und wollte uns allen aufzeigen, dass trotz ihres Todes ihr Einsatz für die Menschen sich gelohnt habe. Hoffentlich haben es auch andere so verstanden, und vor allem ihr SENDER auch (was ich allerdings bezweifeln möchte!). Was für eine weitsichtige und kluge Frau war sie: meine Lebensgefährtin Anne!

      Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, auch in meinem Kopf, prasseln nunmehr mehrere Reden von Menschen ihres SENDERs über uns ein und zugleich fängt auch wieder das Surren und Blitzen der Kameras an. Ihr Geist ist unbemerkt von diesen entschwunden. Sie hasste solche Zeremonien, wenn sie selbst Teil der Feier für einen verstorbenen Kollegen war, wie sie immer wieder betont hatte, und mir auch aufgegeben hatte, mich dagegen zu sträuben. „Wie ich das hasse!“, hatte sie mir gestanden, es muss etwa zwei Jahre zurückliegen, und drückte bekräftigend meine Hand dazu. Die Reden wollen meinem Gefühl nach kein Ende finden wie ihr Leben in diesen Schönrednern und Schwaflern. Wen wollen diese damit gefallen, außer sich selbst und dem SENDER. Vermutlich ist es „politisch korrekt“ so zu sprechen.

      Endlich ist wieder Stille eingetreten. Die Kollegen lehnen sich selbstgefällig zurück und wir erwarten den nächsten Auftritt eines japanischen Baritons, der mehrere Haiku stimmlich interpretiert (es sind traditionelle japanische Gedichte, die im Deutschen dreizeilig geschrieben aber nicht intoniert werden!). Eine sehr eigenwillige spezielle Interpretation, die sich in mir mit ihren letzten Bildern vereinigen und die sich momentan in meinem Kopf festklammern. Für eine Ewigkeit!

      Jetzt spüre ich den Arm eines Freundes, der eigentlich zu fest zupackt, um mich aus meiner Tablettentrance ins Jetzt zurückzuholen, währenddessen die Totenglocke leise zu schlagen anfängt. Gezogen stehe ich auf und bewege mich zu ihr, zu ihrem Sarg. Als letzten Abschied küsse ich das nur dünne Holz des Sarges, verbeuge mich ausgiebig lange vor ihr, und wende mich dann schwerfällig ab und laufe auf den Ausgang zu. Unterdessen verweilt „Ihr Geist“ in mir. Vor der Tür beginnt das befreiende Drücken von Armen und Händen von Freunden, die sich in Vielzahl um mich scharen. Und doch fühle ich es kaum. Einzig den einsetzenden Nieselregen bemerke ich, der diesen tristen Tag beschließt. Und während der SENDER zu einer Feier geladen hat, wende ich mich ab und laufe mit nur wenigen Freunden zu einem bereitstehenden Auto. Mein Abschied endet nicht hier und heute. Mein Abschied ist die nunmehr einsetzende Erinnerung an sie.

      Auf den Weg zum Wagen nehme ich aus dem Augenwinkel eine schlanke Person in einem beigefarbenen Mantel neben einer Zypresse wahr. Ich stutze und halte kurz inne. Habe ich diese Person nicht schon einmal gesehen? War nicht der ältere Herr auf dem Flughafen, der seine Tochter erwartete, entsprechend gekleidet? Oder eine weitere fremde Person? Noch einmal schaue ich in diese Richtung. Nichts außer dem Baum befindet sich dort. War es eine Sinnestäuschung? Eine Fehlleistung meines überstrapazierten Hirns? Oder doch Realität. Jetzt zieht mich der Arm des Freundes fort.

      »Sag mal«, so spreche ich ihn mit schwacher Stimme an, »hast Du dort auch eine Person in einem hellen Mantel gesehen?«

      Zuerst ernte ich einen seltsamen Blick und anschließend ein lang gezogenes „Neiiiin, ich habe nichts bemerkt!“

      »Geh bitte dorthin und schau kurz einmal nach!«, bitte ich ihn. Kopfschüttelnd kommt er wieder zurück. Wie seltsam! Sollte ich mich doch getäuscht haben?

      Eine Woche später findet in aller Abgeschiedenheit die Urnenbeisetzung statt. Nun bin ich mit meiner Trauer allein. Nunmehr bin ich mit meiner Erinnerung allein!

       *