Carsten Wolff

Der Augenleser


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es ja „mein“ Platz. Furcht einflößend kann ich die junge Dame, die darauf platzgenommen hat, erst einmal anschauen. Zu meiner Enttäuschung nimmt sie mich nicht wahr. Ja, sie respektiert mich nicht einmal! Vertieft und gebeugt in ihr Handy glotzend, ist alles um sie herum Luft. Vermutlich könnte ich ihr sogar die Sitzbank mit meinem Platz wegziehen, sie würde weiterhin in dieser Position verharren! Besäße ich ihre Handynummer, würde ich ihr jetzt einen fiesen Post zuschicken! Aber so schwänzel ich um die Bank herum, auch um sie abzulenken oder verwirren, jedenfalls mit dem Ziel, meinen Platz kurzfristig zu erlangen.

      Endlich wird der Platz neben ihr leer. Ich habe mir zuvor schon eine Taktik überlegt, um sie zu verscheuchen. Und die setze ich sofort um. Ganz überlegt fange ich an zu niesen. Einmal, zweimal! Nichts bewegt sich neben mir. Nicht einmal ein Blick! Also noch einmal von vorn. Und diesmal viel lauter. Nichts! Und jetzt mit voller Wucht in Ihre Richtung, worauf ich gleich ein „Entschuldigung!“ nachfolgen lasse. Langsam bewegt sich diese Frau, rückt etwa 20 cm von mir ab, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Doch ich lasse nicht locker. Also noch einmal: So laut es nur geht: Haaaadschiiiii! Etliche Nebenstehende drehen sich um. Einer wünscht Gesundheit, worauf ich mich bedanke (endlich mal jemand mit Benehmen!). Doch was macht die Frau neben mir. Selenruhig zieht sie ein Tempo aus ihrer Tasche hervor, wobei sie weiterhin nur auf ihr Handy schaut, und reicht es mir zu.

      »Danke!«, antworte ich artig. »Bei dem Wetter ist es auch kein Wunder, eine Erkältung zu haben. Fast die ganze Stadt ist zurzeit erkältet!«

      Doch jetzt kommt es:

      »Meinen Platz, auf den Sie es abgezielt haben, bekommen Sie nicht. Sie sind ja gar nicht erkältet! Sie besitzen keine Erziehung!«, bemerkt die junge Dame schroff.

      Hoppla! Das hat mich so richtig unerwartet getroffen. Ich erröte wie glühendes Eisen und… mach mich schnell aus ihren Augen. Nur weg von Ihr, aus ihren Augen und von meinem Platz, den ich aus der Entfernung nochmals mit meinen Augen streichele. Hinter einem Pfeiler bleibe ich erst einmal beobachtend stehen. Mit was für Leuten man es manchmal zu tun bekommt? Unzufrieden laufe ich umher, setzte mich schließlich in ein Café, von dem ich auch Ihr Verhalten versteckt beobachten kann. Ständig bewegt mich die Sorge um meinen Platz, tröste mich nach dem zweiten Kaffee damit, dass dieser augenblicklich für mich warmgehalten wird. Solange diese Person dort sitzt, kann niemand anderer dort Platz nehmen. Auch wenn ich mich mittlerweile beruhigt habe, nimmt doch nur ein Wort in meinem Kopf einen festen Platz ein: unverschämt! Von dieser herzlosen Person! Man sollte augenblicklich einen Dienst beauftragen, der meinen Platz ständig freihält. Wer könnte das erledigen? Nochmals, um eines klarzustellen: In solch eine peinliche Situation möchte ich in der nächsten Zeit nicht mehr verwickelt werden. Basta!

      Jetzt geht ein Ruck durch ihren Körper. Steht sie auf? Tatsächlich, sie erhebt sich, zieht eine Schleife und bewegt sich geradezu auf meinen Platz im Café zu. Selbstverständlich tue ich so, als würde ich sie nicht bemerken, in dem ich belanglos in der Bestellkarte blättere, sie dennoch im Blick behalte. Was plant sie? Plant sie überhaupt etwas oder ist ihr Kommen nur ein Zufall? Wer will bei dieser abgebrühten Person daran glauben wollen? Ich jedenfalls nicht! Und tatsächlich schiebt sie sich dicht an meinem Platz vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und doch geht eine kaum wahrnehmbare Bewegung durch ihre rechte Hand. Und schon ist sie weg! Puuuh, jetzt kann ich erst einmal tief ausatmen. Unverzüglich geht mein Blick in Richtung meines Platzes auf die Bank. Mein Platz ist frei. Sofort rufe ich nach dem Kellner, entscheide mich, nicht zu warten, sondern lege entsprechendes Kleingeld auf den Tisch. Dabei fällt mein Blick auf einen zusammengefalteten Zettel. Der hat doch eben hier noch nicht gelegen? Hastig greife ich zu und laufe schnurstracks zu meinem Platz, damit dieser nicht wieder besetzt werden kann. Geschafft! Erst einmal Sitzen und wieder eingewöhnen. Jetzt fällt mir auf, ich halte immer noch den Zettel in meiner Hand. Langsam falte ich dieses hastig aus einem Kalender gerissene Blatt auseinander. In dicker Schrift steht dort eine Handynummer notiert und ein Smiley ist danebengesetzt worden.

      Eine Telefonnummer? Was bedeutet das? Wessen Telefonnummer soll das sein? Ruhig! Erst einmal die Nerven bewahren und nachdenken. Wenigstens sitze ich auf meinem Platz und den kann mir erst einmal keiner wegnehmen. Der wird mich beruhigen und klare Gedanken bringen.

      »Aaahhh!«, muss ich laut und unbemerkt ausgerufen haben.

      »Ist Ihnen nicht gut?«, höre ich eine besorgte Stimme neben mir.

      »Doch, doch! Alles gut!«

      *

      Wo bleiben eigentlich die klaren Gedanken nach all den Geschehnissen der letzten Wochen? Offensichtlich bin ich nicht nur angeschlagen, sondern verwirrt. Nach einer Weile: Ich werde jetzt erst einmal ein paar Tage wegfahren und Urlaub machen, um auf andere Gedanken zu kommen. Doch leichter gesagt als getan. Zwar bin ich mit dem Auto an die Ostseeküste über Rostock nach Fischland-Darß gefahren und tummele mich mittlerweile unter den normalen Urlaubern. Doch dass es mir Spaß macht, kann ich nicht ausdrücklich sagen. Ja, ich laufe in Ahrenshoop durch die Galerien, besuche das Kunstmuseum Ahrenshoop, welches für mich einen schönen Anblick bietet und nur wenig entfernt von der Steilküste am „Weg zum Hohen Ufer“ liegt. Sehr bewegend wie zugleich auch beruhigend, denn auch diesmal liegt die Ostsee wie ein Spiegel vor mir.

      Jedes Mal entdecke ich irgendwelche Kleinigkeiten, an denen vermutlich viele Besucher blind vorbeischlendern. In eine Föhre haben vor langer Zeit, genauer 1914, zwei Menschen ihre Namen eingeritzt und einen eierförmigen Kreis, vielleicht besaß die Figur früher einmal die Andeutung eines Herzens, die aufgrund des Wachstums nunmehr verloren gegangen ist, drum herum geritzt. Auch die Namen sind mitgewachsen, dennoch gut zu lesen. Friedrich und Liselotte stehen dort. Aber, was ich viel immanenter empfinde: Sie haben das Wort „Hoffnung“ daruntergeschrieben.

      Hoffnung! Eigentlich ein simples Wort, bestehend aus nur acht Buchstaben, jedoch mit einer großen Wucht an Bedeutung ausgestattet. Ich habe meine Hoffnung mit meiner Freundin verloren. Wir hatten eine gemeinsame Zukunft geplant und daran geglaubt. Und dennoch lebt eine neue Hoffnung in mir weiter!

      Seit geraumer Zeit herrschen zumindest in Europa relativ friedliche Zeiten, jedenfalls tobt kein großer Krieg! Wie jedoch hat es sich mit Friedrich und Liselotte verhalten?, geht mir durch den Kopf. 1914 war ein schwieriges Jahr und zugleich ein Schicksalsjahr für das Deutsche Reich. Und natürlich möchte ich auch nicht die anderen Länder vergessen.

      Wieder einmal hatten zuvor die europäischen Mächte mit ihren sogenannten Waffenhufen gescharrt und letztlich diese auch in Bewegung gesetzt. Und am Geschirr dieser Pferde hingen wie zuvor auch die Lafetten und Geschütze. Hinter diesen liefen „blindwütig“ gehorsam junge Männer, im Glauben für eine gute Sache tätig zu sein.

      Ja, ich habe etliche Bilder aus dieser Zeit betrachten können, auf denen große „Verabschiedungsfeiern“ abgebildet sind, auf denen Schulklassen, Familien, allesamt mit Fahnen wedelnd und Blumen grüßend aufgestellt sind. Zumeist sind diese Karten mit martialischen Sprüchen übertitelt wie in etwa „Bald werdet ihr die Sieger bekränzen! Oder „Vorwärts mit Gott!“ Oder „Siegreich kommen wir zurück!“ oder….. Glorie wie Siegesgewissheit spricht aus den Gesichtern der jungen wie alten Soldaten und aus ihren Augen bricht eine Zuversicht, Begeisterung und Stolz hervor, die sicher viel zu berichten hätten.

      Nur Jahre später vermittelten diese Bilder ganz andere Werte und von Würde war darauf nichts mehr zu entdecken. Zerlumpte, gebrochene und verwilderte Gestalten auf Krücken, denen die Beine abgeschossen waren, etliche, die Augenbinden trugen, weil sie erblindet waren, waren zurückgekommen. Oftmals gab es nur noch alte Bilder Trauer beflort als Erinnerung im Haus, weil die Männer und Kinder erschossen oder mit Giftgas getötet worden waren. Der einstige Stolz war dem Elend gewichen. Und noch etwas fällt auf: Diese Jünglinge von siebzehn bis Anfang zwanzig sahen wie ihre eigenen Väter aus. Gealtert in ein paar Kriegsjahren um eine Generation.

      Und diesmal, bei ihrer schmachvollen Rückkehr standen nicht die Stadthonoratioren im Vordergrund, sondern die wenigen und trauernden Angehörigen, die wie immer die Überreste ihrer Soldaten nach Hause schleifen durften. Die Honoratioren hatten sich hinter ihre festen Mauern zurückgezogen und lebten dort in ihrer Scheinwelt weiter