Nina Hutzfeldt

Im Schatten der Lady Cumberland


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Arbeit ist sehr schwer«, sagte die fremde Stimme. Ein rundlicher Mann mit einem silbernen Kranz auf dem Kopf blickte die beiden Geschwister an. »Wie alt bist du denn?« Als Henry nicht antwortete, hob er eine Augenbraue.

      »Wir sind beide vierzehn. Wir sind Zwillinge.« Emma hatte ihre Hand hinter dem Rücken verschränkt. »Henry redet nicht gerne«, fügte sie noch hinzu.

      »Na gut. Ich bin George. Ich werde Henry nachher mitnehmen. Wir werden den Wildtieren Heu in die Futterkrippen legen, die glatten Wege mit Sand bestreuen. Und mal sehen, was noch so anfällt.«

      »Das ist gut. Henry kann hart arbeiten.«

      Cady und Catherine traten in die Küche. »Guten Morgen. Oh, ihr seid pünktlich.« Catherine musterte die Geschwister.

      »Natürlich.«

      »Frühstückt doch erstmal etwas. Mr. Harrisson wird sicher gleich kommen.« Marjoire tat Kakao in die Becher, selbstgemachte Brötchen auf den Tisch und löffelte Honig und Marmelade in kleine Behälter. »Lasst es euch schmecken. Der Tag wird anstrengend genug.«

      Henry aß drei und Emma ein Brötchen. Sie hatte seit langem nicht mehr so etwas Gutes gegessen.

      »Guten Morgen. Heute ist ein aufregender Tag. Wir müssen alles für das Wochenende vorbereiten, wir bekommen Gäste. Ein paar Offiziere der RAF werden mit ihren Familien zu Besuch kommen. Lord Cumberland hat viel Geld in Waffen und Teile für die Flieger investiert.«

      »Ich werde mich um das Rondell kümmern und in der Stadt die Lebensmittel einkaufen«, sagte George und setze seine Mütze auf. Dann warf er Henry eine zu. »Hier. Setz die auf. An der Garderobe ist eine Jacke für dich. Zieh sie an, es ist kalt draußen.« Henry nickte und tat, wie ihm geheißen.

      »Gut. Henry wäre mit Arbeit versorgt. Marjoire wird sich um die Karte für das Essen kümmern. Ich werde sie den Herrschaften heute Abend geben. Catherine wird Emma die Bücherei zeigen, die Bücher müssen abgestaubt werden. Danach sollte sie die Gästezimmer herrichten. Wir haben dafür nur noch heute Zeit. Catherine geht ihrer täglichen Arbeit nach.«

      Mr. Harrisson klatschte in die Hände. »Dann mal los. Cady, du kommst mit mir. Wir decken für das Frühstück auf. Cady stellte Teller, Tassen und Eierbecher auf ein Tablett, um alles nach oben zu bringen. Als Mr. Harrisson mit Cady in den Wohnbereich verschwand, stand Emma auf. Sie ließ sich von Catherine alles zeigen. Das junge Mädchen bekam einen großen Eimer, in den sie ein wenig Seife tat, einen Schwamm und einen Lappen. Zusätzlich hatte sie sich einen Staubwedel unter den Arm geklemmt.

      »Emma, es wird schon alles werden.Wenn du irgendetwas brauchst, dann komm zu mir.« Marjoire strich Emma über den Kopf wie eine Mutter. Schüchtern wendete Emma sich ab und folgte Catherine durch das Labyrinth von Korridoren, bis sie zu einer hohen Tür kamen, die von der Decke bis zum Boden reichte. Die Klinke hing schwer in der Verankerung und Catherine hatte Mühe sie zu öffnen.

      »Ab und zu klemmt die Tür. Dann musst du die Klinke mit Gewalt herunterdrücken. George soll sie nachher nochmal überprüfen. Wir wollen ja nicht, dass morgen einer der Gäste die Klinke in der Hand hält.«

      »Ist George auch so etwas wie ein Hauswart?«, fragte Emma und trat mit Catherine in einen großen, hell erleuchteten Raum.

      »So etwas Ähnliches. Eigentlich ist er Mädchen für alles«, lächelte Catherine. Der Raum war zum Bersten gefüllt mit Büchern. So viele Bücher hatte Emma noch nie zuvor gesehen. Die Regale waren so hoch wie die Tür und die Fenster. Kleine Treppen führten die Buchliebhaber hinauf in ein weiteres Stockwerk. Es gab insgesamt drei Etagen.

      »Du gehst mit dem Staubwedel über die Bücher und an den Regalen entlang. Wenn sich Spinnweben in den Ecken gebildet haben, machst du sie mit einem Tuch weg. In einer Stunde sehe ich wieder nach dir.«

      »Wie? Du gehst weg?« Emma bekam weiche Knie.

      »Ja, ich muss die Betten der Herrschaften ausschütteln, die Vorhänge waschen und die Böden reinigen. Wenn ich fertig bin, werde ich dir helfen. Fang am besten oben an und arbeite dich nach unten durch. Bis nachher.« Catherine verabschiedete sich und Emma blieb allein zurück.

      Emma befolgte Catherines Rat und ging schwerfällig die Stufen hinauf. Dann fing sie an, den Staubwedel über die Buchrücken zu balancieren. Ab und zu blieb sie stehen, wenn ihr ein interessanter Buchtitel in die Augen sprang. Dann zog sie das Buch behutsam heraus und las ein Stück, um es sogleich zurück ins Regal zu schieben. Schnell hatte sie das oberste Stockwerk abgearbeitet. »Hoffentlich habe ich alles richtig gemacht«, dachte sie und stieg mit zittrigen Knien die Stufen hinab. Dort ging es weiter. Sie begann damit, die Spinnweben im hinteren Teil des Raumes zu entfernen, und schon bald wurde die große Tür geöffnet. Emma blickte sich um, froh, dass Catherine zurück war. Doch es war nicht Catherine. Soweit sie erkennen konnte, war es ein Junge. Höchstwahrscheinlich ein paar Jahre älter als sie. Er trug ein Hemd mit aufgeknöpften Ärmeln. Seine Haare waren dunkelblond. Er schaute sich um und Emma verkroch sich in eine Ecke. Was hatten Mr. Harrisson und Marjoire gesagt? »Unsichtbar sein.«

      Der Junge ging zum Fenster. Jetzt war er genau unter ihr und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken. Wer war er? Marjoire hatte erzählt, dass der Lord und die Lady einen Sohn hatten. Emma beugte sich über das Geländer, um ihn beobachten zu können, und erschrak, als er plötzlich den Kopf hob. Schnell trat sie zurück und hätte beinahe den Eimer umgestoßen. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie Angst hatte, es könnte ihr aus der Brust springen. Er hatte sie bestimmt nicht gesehen, denn ohne ein Wort und einen weiteren Blick verschwand er wieder. Emma beruhigte ihre Atmung und arbeitete dann weiter. Catherine kam zurück, als Emma fast fertig war.

      »Wahnsinn. Du bist ja schon fast fertig.« Zur Kontrolle fuhr Catherine mit dem Zeigefinger über die Regale. »Toll. Dann komm mal mit, ich zeige dir die Gästezimmer, die du bitte säuberst. Also Staub wischen, Fenster putzen, Fußböden reinigen und die Betten frisch beziehen. Das Bettzeug findest du im Schrank. Ich zeige dir alles. So wie es aussieht, ist es wohl sehr hoher Besuch. Hoffentlich sind ein paar nette Männer dabei. Was fürs Auge, weißt du.« Catherine lächelte, als sie das sagte. »Ich hoffe, ich bringe dich nicht in Verlegenheit«, fügte die eingefleischte Dienstmagd hinzu, als sie Emmas schüchternen Blick sah. »Weißt du, ich arbeite sehr gerne hier. Die Herrschaften bekomme ich nur selten zu Gesicht. Am Wochenende, wenn Besuch da ist, muss ich im Service mithelfen. Aber sonst bin ich zufrieden, dass ich putzen darf. Ich habe Zeit für mich.« Sie nahm frische Bettwäsche aus dem Schrank. »Woher kommt ihr eigentlich?«

      »Ursprünglich kommen wir aus South Dakota. Henry und ich wurden von unserer Mutter weggeschickt. Sie wollte ein besseres Leben für uns.« Emma half Catherine, das Laken über die Matratze zu heften. »Und dein Bruder? Ich finde, er ist sehr ruhig. Kann er nicht sprechen?«

      »Henry kann eigentlich sehr gut sprechen. Doch seit dem Vorfall spricht er kaum noch ein Wort.«

      »Welchem Vorfall?« Catherine zog die Stirn kraus.

      »Na ja, unsere Mutter. Sie hat uns nicht weggeschickt, sondern sie wurde auf offener Straße erschossen, weil sie jemanden eines Überfalls beschuldigt hatte.« Emma schwieg. Es war ihr herausgerutscht. Eigentlich hatten sich die Geschwister geschworen, nichts zu erzählen. Doch es war irgendwie so passiert. »Aber bitte sag zu niemandem etwas.«

      Catherine war so erschrocken über die Neuigkeit, die sie soeben erfahren hatte, dass ihr die Stimme versagte. Sie schüttelte nur den Kopf.

      Am Abend wussten alle über Emma und Henry Bescheid. Es war, als hätte Emma selbst die Zündschnur angezündet und sie an Catherine weitergereicht. Als Emma unterdessen in ihr Zimmer kam, sah sie Henry unter seiner Decke. Er hatte ein Auge geöffnet.

      »Wie war dein Tag?«, fragte sie erschöpft. Vorsichtig streifte sich Emma die Schuhe von den Füßen. Sie schmerzten. So schwer hatte sie noch nie zuvor gearbeitet. Henry drehte den Kopf.

      »Es tut mir leid, Henry. Ich wollte es nicht sagen, es ist mir einfach so herausgerutscht.« Emma wollte Henry über die Wange streichen, doch er hob den Arm und wehrte sie ab. »Bitte. Es tut mir leid«, seufzte sie und krabbelte unter ihre eigene Decke.