Nina Hutzfeldt

Im Schatten der Lady Cumberland


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Marathon gelaufen. Als die Kellnerin mit einem weiteren Bier an den Tisch kam und ihr erklärte, dass es von dem jungen Mann drei Tische hinter ihr kam, ging ihr das Herz auf. Lara hatte immer geglaubt, dass es so etwas Romantisches nur im Kino gab. Und jetzt geschah es wirklich

      , vor ihren Augen. Ein Bier, das ihr ein junger Mann spendierte. Auf dem Untersetzer stand eine Handynummer. Natürlich schrieb Lara ihm sofort eine SMS, obwohl Christin und Janet ihr davon abrieten. Seine Kumpels verschwanden und auch Christin und Janet machten sich auf den Heimweg, schließlich mussten sie morgen wieder arbeiten. Aber Lara wäre jetzt noch nicht in der Lage gewesen zu schlafen. Sie sah Marcel noch auf seinem Platz sitzen, so schüchtern und nett lächelnd, dass sie schließlich ihr Herz in die Hand nahm, auf ihn zu ging und es vor ihn auf den Tisch legte. Von da an waren sie ein Paar.

      Doch die Zeit hatte vieles verändert. Vor fünf Monaten, kurz vor Weihnachten – Lara hatte einen Adventskalender gebastelt und alle Geschenke für den Heiligen Abend gekauft – kam Marcel zu ihr. Sie lächelte und freute sich, denn sie mochte Überraschungen und Marcel konnte Überraschungen weiß Gott wie gut für sich behalten, gestalten und verschenken. Aber er sprach mit monotoner Stimme und da wusste Lara, dass etwas nicht stimme. Sie legte den Kopf schief, so wie Marcel es immer gemocht hatte, und wartete. Das Sprechen fiel ihm schwer, immer wieder musste er den Kloß im Hals herunterschlucken. Es war, als würde ein Sprinter immer wieder über seine eigenen Beine stolpern.

      »Was ist denn los?«, hatte Lara gefragt und ihm behutsam eine Hand aufs Bein gelegt. Er nahm ihre Hand in die seine und zog sie an sich heran. Sie schliefen miteinander.

      Als Lara aufwachte, war das Bett neben ihr leer. Nach dem Sex mussten sie eingeschlafen sein, denn die Sonne begann schon aufzugehen und sich dem neuen Tag entgegenzustrecken. Wie ein Fischer sein Netz warf sie ihre Strahlen über die eisige Oberfläche der Ostsee und ließ sie in die Tiefe gleiten.

      Lara sprang auf und suchte Marcel, doch es war, als hätte er nie existiert.

      Verschwommen erinnerte sie sich daran, dass er gesagt hatte, sie klammere zu stark und er brauche eine Auszeit. Mit dem Versprechen, sie in den nächsten Tagen anzurufen, hatte sie ihn gehen lassen. Das war gestern gewesen, nachdem er ein letztes Mal mit ihr geschlafen hatte.

      War das eine Art Abschiedsgeschenk gewesen?

      Auf einen Anruf wartete Lara bis heute. Innerlich wusste sie, dass die Beziehung keine Chance mehr hatte und dass Marcel sich nie mehr bei ihr melden würde. Aber die Hoffnung hält die Menschen am Leben. Ohne Hoffnung kein Überleben. Sie hatte ihn noch nicht aus ihrer Freundesliste bei Facebook entfernt, denn das würde die Trennung so real machen und ihr wie ein Strick um den Hals die Luft abschnüren. Aber die vielen Bilder, die er postete, von Partynächten mit fremden Mädchen in seinen Armen, raubten ihr den Schlaf. Vielleicht war es gar nicht die Kälte, die sie nicht schlafen ließ, sondern der andauernde Schmerz?

      Mit weißer Bluse und schwarzer Hose verließ sie das Haus. Die Aprilstürme waren in diesem Jahr besonders stark und Lara hatte Mühe, ihre Haare zu bändigen.

      »Bringst du mir ein Brötchen vom Bäcker mit?«, plapperte Christin fröhlich ins Handy, als Lara auf dem Weg zur Arbeit war. Auf ihrem Arbeitsweg gab es einen kleiner Bäcker mit den leckersten Brötchen der Stadt. Es war ein Familienbetrieb. Jeden Morgen stand die Tochter im Laden, was bedeutete, dass man immer zehn Minuten mehr einplanen musste, denn sie redete wie ein Wasserfall. Meistens über Belangloses, aber montags erzählte sie von ihren spannenden Wochenendtrips, bei denen man gar nicht anders konnte, als gebannt zuzuhören.

      »Ja, kann ich machen, dann komme ich aber später.« Lara hielt ihren Regenschirm fester, denn der Wind kroch wie ein Angreifer vorbei, der ihn nutzlos machen wollte. »Ach, das macht nichts. Frau Schnick kommt heute sowieso etwas später.«

      »Das blöde Aprilwetter«, fluchte Lara und versuchte, ihren umgeklappten Schirm zu bändigen. Jetzt war es doch passiert. Der April machte einfach, was er will. »Ich muss auflegen.«

      Beim Bäcker herrschte reges Treiben. Annika stand hinter der Theke, tat ein Brötchen nach dem anderen in die Tüten und kassierte ab. Heute sagte sie nur, was gesagt werden musste. »Guten Morgen was kann ich für Sie tun? - Der Nächste bitte.« Alles total normal, bis Lara in ihr Blickfeld trat. »Huhu, Lara, wie geht es dir? Das Übliche?«

      Die Menschen in der Schlange folgten Annikas Blick und starrten die junge Friseurin an.

      Prompt fing die Bäckereifachverkäuferin an, ihr den neuesten Tratsch zu erzählen. »Endlich ein bekanntes Gesicht. Ich konnte heute morgen noch gar nicht richtig aus mir herauskommen. Irgendwie schlägt den Menschen das Wetter wohl tief in die Magengrube.« Zögerlich lächelte Annika. Ihr zotteliges Haar hing wie ein Vogelnest auf ihrem Kopf, während sie mit einer Zange die zwei größten Schokocroissants aus der Theke nahm. »Hast du das gehört? Ein Siebzehnjähriger wurde freigelassen, weil ein anderer Junge den Mord an dem jungen Mädchen gestanden hat.«

      »Ja, ich weiß. Das habe ich in den Nachrichten gehört.« Lara warf einen prüfenden Blick auf die Wanduhr über der Tür mit der Aufschrift »Privat«.

      »Ist das nicht unmöglich, dass sie den jungen Mann erst wie einen Schwerverbrecher in Gewahrsam genommen und ihn dann mit einer kleinen Entschädigung entlassen haben? Ich meine, wo leben wir denn hier? Er hat Morddrohungen bekommen, sein Name und der seiner Familie sind in den Schmutz gezogen worden. Also ich finde, das ist eine absolute Frechheit.«

      »Ja, stimmt.« Lara wippte auf den Fußballen auf und ab, um Annika zu signalisieren, dass sie eigentlich gar keine Zeit hatte, doch das junge Mädel bemerkte es nicht und schmiss weiterhin mit Nachrichten um sich.

      »Und weißt du, dass die Queen ihr sechzigjähriges Thronjubiläum hat? Ist das nicht aufregend? Ich habe mir schon Urlaub genommen, um auf die Grüne Insel zu fliegen. Dort werde ich mir die Adeligen mit eigenen Augen ansehen. Bestimmt kommen auch Prinzen aus fernen Ländern … Oh, ich bin ja so aufgeregt.« Annika klatschte in die Hände.

      »Das ist ja schön. Mach dann mal schön viele Fotos. Wie viel schulde ich dir?« Sie klaubte das Portemonnaie aus der Tasche und ließ zwei Zwei-Euro-Stücke in Annikas Hand fallen.

      »Wenn ich wiederkomme, müssen wir uns unbedingt zum Kaffee oder von mir aus auch zum Tee treffen, damit ich dir in aller Ruhe die Fotos zeigen kann.«

      »Ja, das machen wir.« Schnell eilte Lara mit zwei Tüten in der Hand hinaus. Eine gefüllt mit Croissants, die andere mit Tratsch.

      Kapitel 2

      Als Lara patschnass im Laden ankam, stand Christin schon hinter dem Stuhl und ließ ihren Kamm durch das Silberhaar einer alten Dame gleiten.

      Der Salon war rot gestrichen, hatte helle Deckenleuchten und dunkelbraune Möbel. Frau Schnick liebte es, den Laden zu schmücken. Sie tat alles dafür, dass die Leute auf den Gehwegen stehenblieben und in das Schaufenster blickten. Es sollte den Passanten den Atem rauben, sie unwiderstehlich in den Salon ziehen, damit sie sich dort einen neuen, bezahlbaren Haarschnitt gönnten. Lara ging in den Aufenthaltsraum, legte die Brötchentüte auf den Tisch und nahm sich ein Handtuch. Vorsichtig tupfte sie sich die regennasse Stirn trocken.

      »Guten Morgen, ihr Hübschen«, rief Frau Schnick und trat in den Salon. »Hattet ihr ein schönes Wochenende?« Lara konnte ihre Schuhe auf dem blank polierten Laminat klappern hören. »Oh. Hallo, Lara. Ist deine Kundin noch gar nicht da?« Frau Schnick legte den Kopf schief.

      »Nein, sie muss immer mit dem Bus fahren. Und da die heute doch streiken.« Lara zuckte mit den Schultern.

      »Wirklich? Davon habe ich gar nichts mitbekommen.«

      »Das hat Verdi auch kurzfristig festgelegt.«

      »Ach so.« Frau Schnick rümpfte die Nase, als hätte jemand einen stinkenden Pups gelassen. »Und sonst. Wie geht es dir?« Sie ordnete ihre kurzen blonden Haare mit den braunen Strähnen.

      »Ganz gut.« Was war mit ihrer Chefin los? Frau Schnick hatte sich noch nie um das Privatleben ihrer Mitarbeiter geschert.

      »Ich