Anita Florian

Die Ungeliebten


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ihrem schlanken Körper. Sie blickte Franzine vom oberen Rand neugierig an und zog laut die Luft durch ihre Nase ein. Sie erklärte ihr noch das Nötigste, gab ihr die Schlüssel für Tür und Schrank und hielt ihre kalte Hand für einen frostigen Handschlag entgegen. Franzine, die ihr begeistert die Hand gab, glaubte fast eine kalte Fischflosse zu drücken. Die steife Sekretärin entfernte sich rasch, mit lauten Stöckelschuhengeklapper stolzierte sie zur Tür hinaus. Franzine sah ihr nur kurz nach und hoffte, dass sie ihr nicht häufig begegnen würde, denn ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts, was an einen fröhlichen Menschen erinnern würde Nun war es endlich geschafft. Dass sie an Weihnachten im Einsatz sein würde, störte sie nicht. Auch die vereinbarten, manchmal bis zu zwölf Stunden langen Arbeitstage, konnten ihr nicht das Geringste anhaben.

      Eine Woche vor Arbeitsbeginn durchlebte sie schlaflose Nächte, konnte nur ein paar Bissen hinunterkriegen und konnte vor Aufregung keinen klaren Gedanken fassen. Geldscheine flatterten vor ihren träumenden Augen verlockend zu und riefen: Nimm es! Nimm es! Es gehört dir! „Ja, bald werde ich euch holen, “ sagte sie manchmal verträumt vor sich hin, „ihr entkommt mir nicht, ich erhasche alle von euch, wartet noch, nur noch eine kleine Weile.“

      Im Glücksrausch gefangen, schmiedete sie Pläne, was sie mit dem verdienten Geld alles anstellen würde; Neue modische Kleider kaufen, neuen Hausrat anschaffen, schöne Bettdecken aussuchen in denen man sich müde rekeln konnte, echten Goldschmuck anlegen, der ihre Figur und ihr schmales Gesicht noch besser zur Geltung brachte… all das würde nun Wirklichkeit werden.

      Während diesen Anfangsfreuden und Aufregungen vergaß sie dabei völlig ihre Tochter. Der Tag des Arbeitseintrittes rückte immer näher und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sich ein neues, drückendes Problem vor ihr auftat. Man konnte doch unmöglich ein fünfjähriges Kind tagelang, ohne Aufsicht, in der Wohnung allein zurücklassen! Was würde aus ihrer Erziehung werden? Wer würde sie versorgen? Wer würde sie an sich drücken, wenn sie traurig oder verletzt ihre Mutter herbeisehnen würde? Wenn sie krank und wimmernd im Bett läge und nach ihrer Mutter schreiend im Fieber geschüttelt, niemand vorfände? Sie wuchs rasch heran, war schon erstaunlich entwickelt für ihr Alter, aber gerade in dieser Phase würde sie ihre Mutter mehr denn je brauchen. Ein Problem, das unlösbar zu sein schien. Ihre Mutterrolle wurde ihr mit einem Mal schmerzlich bewusst, die unangenehmen Tatsachen, die das Leben so mit sich bringt, standen wie eine steinerne Mauer vor ihr und hinderte sie nach vorne zu blicken. Plötzlich durchkreuzte ihre eigene Tochter ihre Pläne und Träume, war mit einem Schlag ein Störfaktor der ihr im Wege stand, es schien beinahe unmöglich dieses schwere Problem das sich nun auftat, zu lösen. Bernadette hatte sie völlig verdrängt, sie vergaß vollends ihr eigenes Fleisch und Blut. Wie konnte sie nur unentwegt an sich selbst denken? Was nun? Ich darf doch mein Kind nicht vernachlässigen, dachte sie in Bitterkeit eingehüllt, es ist doch mein innigster Wunsch, dass es uns an Nichts fehlen sollte. Verzweifelt hockte sie auf den alten Sessel, den Kopf in die Hände gestützt, den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet und machte sich Gedanken über ihre ausweglose Situation. Es würde nicht klappen! Alles aus! Wie soll es weitergehen? Was soll mit dem Kind geschehen? Guter Rat war teuer. Das Kind war nun mal da und Franzine begann sich allmählich ihrer Unsensibilität zu schämen. Sie schämte sich ihrer Gedanken und ihrer Gier nach selbstverdientem Geld. Doch dies, war sie überzeugt, ist das Normalste der Welt, irgendjemand musste doch für den Unterhalt aufkommen, das hatte sie sich immer erträumt, und jetzt kurz vor der Erfüllung schien alles zu zerplatzen, sich ins Nichts zu verlieren. Ihr blieb kein Ausweg, eine Lösung musste gefunden werden, und zwar rasch. Ignazia wäre hier hilfreich zur Seite gestanden, aber sie befand sich mit Roman am andern Ende der Erdkugel und war unerreichbar.

      In diesen zwei Wochen, in denen sie nun hier lebten, reichte nicht aus, um die Nachbarn besser kennen zu lernen. Einige kannte sie flüchtig, andere hatte sie noch nicht einmal gesehen. Jemanden als Ersatzeltern auszusuchen kam also nicht in Frage. Bernadette fremden Menschen anzuvertrauen war kein erfreulicher Gedanke, zumal viele Menschen ringsherum mehr als in bescheidenen Verhältnissen lebten und selbst mit reichlich Kindersegen ausgestattet waren. Bernadette war es nicht gewöhnt mit mehreren Kindern zusammen zu leben, bei fremden Menschen und bei fremden Kindern hatte sie Angst.

      Das große Grübeln setzte ein, sie zermarterte sich das Gehirn, kam aber zu keinem Resultat das sich verwirklichen ließe. Nach dem Grübeln kam der Ärger. Der Ärger auf sich selbst und auch auf Bernadette, die keine Ahnung hatte, was ihre Mutter gerade durchmachte. Mitleid und Zorn wechselten sich ab, sie begann zu weinen, wandte sich ab, wenn ihre Tochter auf sie zukam, sie trösten, oder ihre Arme um sie schlingen wollte. Verwundert musste sie bestürzt feststellen, dass ihre Mutter dies nicht wünschte, oft auswich, wenn sie sich ihr nähern wollte. Tränen rannen über Bernadettes Gesicht und sie glaubte, dass die alleinige Schuld auf ihr lastete, mit ansehen musste, dass ihre Mutter immer tiefer in Depressionen versank. Dann, wie ein Paukenschlag, kam ihr die rettende Idee. Warum ist sie nicht schon früher draufgekommen? Ein Lächeln huschte einen Augenblick über Franzines Gesicht.

      ***

      Ihre Schwester Dorothea drang ihr mit einem mal ins Bewusstsein. Fast hatte sie schon aufgehört an sie zu denken. Irgendwo hatte Franzine ihre Adresse versteckt die sie heimlich von einem Briefumschlag abriss als Dorothea noch vor Jahren zahlreiche Briefe an ihre Mutter schrieb. Was anfangs als eine Teenagerspinnerei abgetan wurde, entwickelte sich immer mehr zu einem Drama das die Schwestern eisern und konsequent durchhielten. Seit nahezu acht Jahren existierte kein Kontakt mehr zwischen den Geschwistern, nur vage Lebenszeichen vernahm Franzine von ihrer Schwester als die Briefe an ihre Mutter aus Italien ankamen. Lesen durfte Franzine diese Briefe zwar nie, verspürte aber so gut wie keine Sehnsucht nach Dorothea und war deswegen nicht besonders traurig. Dorothea verließ gleich nach der Schule das Elternhaus und wollte ihr Glück in Italien versuchen. Der Abschied verlief kühl, Mutter Freya vergoss ein paar Tränen, Vater Eduard klopfte ihr sanft auf die Schultern, Franzine aber verzog keine Miene und reichte ihrer Schwester nicht einmal die Hand als Dorothea mit einem roten Koffer in der Hand über die Türschwelle trat und lächelnd zum Abschied winkte. Eduard hielt sich aus der Geschichte raus, die Beschwichtigungsversuche beider Elternteile fruchteten jedoch nicht. Dorothea schien es geschafft zu haben, eine Anstellung in einem kleinen Hotel war schnell gefunden. Bald darauf erlag Eduard einem Herzanfall, er starb noch beim Transport im Rettungswagen auf den Weg ins Krankenhaus. Das Begräbnis fand an einem kühlen, windigen Herbsttag statt, Freyas Sorge ob Dorothea der Trauerzeremonie beiwohnen wollte, ließ ihr keine Ruhe. Doch sie kam. Aus einem nagelneuen Ford P4 steigend, elegant in schwarz gekleidet, auf den Kopf einen schwarzen Hut mit breiter Krempe der ihre Augen und beinahe das halbe Gesicht bedeckte, schritt sie langsam auf ihre Mutter zu die mit Franzine weinend zwischen von einigen Verwandten gestützt stand.

      Freya sank fast zu Boden als der Sarg hinuntergelassen wurde und ein Trompetenbläser eines von Eduards Lieblingsliedern die Elisabeth Serenade mit voller Hingabe blies. Danach gab es keine christliche Ansprache, kein Lied wurde gesungen und kein Gebet wurde gesprochen. Sein letzter Wunsch wurde also respektiert. Die beiden Schwestern ignorierten auch einander als sie ihre Mutter stützten, Franzine hakte sich an der einen Seite ein und Dorothea umfasste Freyas Arm an der anderen. Neugierde packte Franzine und richtete den Kopf verstohlen auf, wendete kurz den Blick zur Seite um einen kurzen Moment in Dorotheas Gesicht sehen zu können. Doch ihre Schwester stand mit gesenktem Kopf vor dem Grab, schneuzte sich leise, ihre weite Hutkrempe ließ keinen Blickkontakt auf ihre Augen zu. Was sie zu sehen bekam war neben Freyas verweinten Gesicht nur ihre Nasenspitze die sie des öfteren abtupfte. Beim Leichenschmaus, das in einem nahe gelegenen Gasthaus stattfand, war Dorothea bereits verschwunden. Franzine hatte nicht die geringste Lust sich nach ihrer Schwester zu erkundigen. Freya brach es das Herz, doch Franzine schien es nicht zu bemerken.

      Kurz nach Franzines Hochzeit mit Ferry fanden ein paar Bauarbeiter die Leiche Freyas erhängt an einem der Pfosten in einem Rohbau von einem gerade entstehenden Wohnhauses. Der Schock überwältigte nicht nur die beiden Schwestern, die gesamte ortsansässigen Bewohner konnten sich kaum von den Schrecken erholen. Die Schwestern, inzwischen erwachsene, verheiratete Frauen traten sich auch diesmal nicht unter die Augen als bei der Beerdigung der Sarg langsam in die Grube gelassen wurde und der Schulchor das Lied ‚Du gabst o Herr’ nach Julius Anton von Poseck anhuben und das Schluchzen der Trauernden immer lauter zu vernehmen war. Die Menschenmenge