André Schaberick

Der Tod ist mein Freund


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ein Abtauchen in seine Traumwelt. Sicher würde er dort wieder ganz viel erleben. Die Chance, eine spannende Geschichte zu erleben war im Zustand des Komas wesentlich größer, als wenn er nur ganz normal schlafen würde.

      „Herr Doktor, träumt man eigentlich viel, wenn man im Koma liegt?“

      „Im künstlichen Koma sind nahezu alle Funktionen des Gehirns abgeschaltet. Bisher hat noch niemand darüber berichtet, viel geträumt zu haben. Es ist natürlich möglich, dass du etwas träumst, aber ich nehme an, dass du dich anschließend nicht mehr daran erinnern wirst. Aber auch das möchte ich nicht ausschließen. Natürlich ist auch dies bei jedem Menschen anders. Bei dir könnte es beispielsweise geschehen, dass du ganz viel träumst. Zu wünschen wäre es. In diesem Falle wünsche ich dir, dass es nur schöne Träume sind und keine Gruselgeschichten.“

      „Mein Brain lässt sich bestimmt was Cooles einfallen. Bisher hat es das immer, wenn ich etwas länger geschlafen habe.“

      „In diesem Fall merk dir gut, was du geträumt hast. Anschließend kannst du uns davon berichten.“

      „Mal sehen, ob die Träume jugendfrei sind, dann kann ich sie erzählen. Alles andere werde ich nicht verraten.“

      Samuel war davon überzeugt, viel zu träumen, schließlich hatte er seine Zauberkekse in der Schublade. Einen wollte er sich vor dem langen Winterschlaf noch einverleiben, obwohl er dies absolut nicht durfte. Aber wer sollte das schon merken? Und wegen eines Kekses würde er bestimmt nicht so schnell auf die Toilette müssen.

      Samuel war sich jedoch nicht der Gefahr bewusst, auf die er sich einlassen würde, wenn er sich kurz vor der Narkotisierung noch einen Keks in den Mund schieben würde. Vom Verschlucken mal ganz abgesehen wäre ein Erbrechen durchaus möglich. Und wenn der Keks an seinem anderen Ende ankommen würde, wäre es auch noch möglich, dass er Durchfall davon bekommen könnte. Oder andere Dinge, die er sich jetzt im Moment gar nicht vorstellen konnte.

      Reizende Bekanntschaft

      Samuel saß auf einem leeren Weinfass und schaute dabei zu, wie der Gaukler mit drei Keulen gleichzeitig jonglierte und das einfache Volk unterhielt. Doch wo war er? Er konnte sich weder daran erinnern, wie er hier hergekommen noch wann dies gewesen war. Er konnte sich eigentlich an gar nichts erinnern. Er war einfach nur da. Und er wollte sich auch an gar nichts erinnern.

      Der Fußboden war mit handgefertigten Pflastersteinen bedeckt, zwischen denen der Schlamm waberte. Es hatte gerade geregnet.

      Hier und da befand sich eine Pfütze, in einigen besonders großen spielten Kinder mit selbstgebauten Booten. Sie schubsten sie von einem Ufer zum anderen und erfanden Geschichten. An einer Pfütze stritten die Kinder miteinander, wahrscheinlich wurden sie sich nicht einig, wer der Gute und wer der Böse war. Ihre Art und Weise zu reden ließ ihn darauf schließen.

      Kutschen mit pferdeähnlichen Tieren fuhren kreuz und quer und beförderten Waren von hier nach dort. Die Kutscher peitschten ihre Tiere, als wollten sie das Letzte aus ihnen herausholen. Dabei trotteten sie gemütlich vor sich hin. Die Peitschenhiebe schienen sie nicht zu interessieren. Sollten doch die Kutscher glauben, ihre Hiebe würden sie dazu animieren, schneller zu laufen. Warum sollten sie das tun? Sie kamen auch am Ziel an, wenn sie langsamer gingen. Zudem hatten sie ein dickes, dichtes, fluffiges Fell, das jeglichen Hieb erfolgreich abfedern konnte. Vermutlich spürten sie die Peitsche gar nicht.

      Es gab zudem keine Autos, keine Eisenbahnen, keine Flugzeuge, keine Hubschrauber oder sonstige, stinkende Gefährte, die giftige Abgase produzierten. Es gab nur diese pferdeähnlichen Tiere und weitere Lebewesen, die Samuel gänzlich unbekannt waren. Es war ein wirklich ungewohnter Anblick, wenn man in der heutigen Zeit und in der Stadt aufgewachsen war. An manchen Kutschen waren zwei Zugtiere angespannt, um besonders viele Waren hinten auf der Ladefläche transportieren zu können. Ganz selten gab es auch Gespanne mit vier Zugtieren. Die Tiere machten komische Geräusche, vielleicht lag es an ihren langen Mäulern. Was sie wohl fraßen? Ob sie sich auch von Hafer ernährten? Sie erweckten nicht den Eindruck, Fluchttiere zu sein. Vielmehr glaubte Samuel, es seien Lebewesen, die sich durch nichts erschüttern ließen. Ihre Gemüter hätte man auch gut und gerne mit Elefanten vergleichen können. Jedoch verfügten sie über keine Rüssel oder ähnliche Extremitäten. Sie sahen zudem sehr liebenswürdig aus. Sie hatten freundliche Gesichter, fast konnte Samuel ein Lächeln erkennen.

      Die Menschen trugen seltsame Gewänder. Samuel hatte das Gefühl, er würde sich im Mittelalter befinden. Vielleicht hatte er einen Zeitsprung gemacht. Doch fühlte er sich hier nicht fremd, eher konnte man seinen Gemütszustand mit wohlfühlen beschreiben. Je länger er dort auf dem Weinfass saß, desto mehr hatte er das Gefühl, ein Teil dieses Dorfes zu sein.

      Jeanshose und Turnschuhe waren natürlich nicht so ganz passend. Als er aber an sich herabblickte, konnte er keine Jeans mehr erblicken. Sie hatte sich aufgelöst. Oder war sie vielleicht nie da gewesen? Er trug die gleichen Kleidungsstücke, wie die Menschen um ihn herum. Woher kam plötzlich die Kleidung? Samuel konnte sich nicht daran erinnern, derartige Kleidung gekauft oder getauscht zu haben. Die Kleidung war einfach da. So wie er auch einfach da war. Und er trug sehr interessanten Schmuck. Eine Perlenkette zierte seinen Hals. Es waren feine, schwarze Perlen. Sie glänzten in der Sonne und funkelten aus dem Inneren heraus. An den Händen trug er keinen Schmuck, jedoch befand sich auf seiner Rechten ein Hennagemälde. Es war reichlich verziert. Als er seine Linke betrachtete, war dort plötzlich auch ein Gemälde auf der Haut entstanden. Sehr interessant. Man musste sich bloß betrachten, und schon entstand ein schmuckes Muster auf der Haut. Als er seine Unterarme betrachtete, sah er auch dort ein wunderschönes Muster entstehen. Es war dunkelbraun, und es wuchs, als würde man eine Rankpflanze über die Haut wandern lassen. Es wuchs jedoch symmetrisch und synchron auf dem linken und dem rechten Unterarm. Fast hatte Samuel das Gefühl, es würde ihm besondere Kräfte verleihen.

      Im Allgemeinen schien es Samuel, als wäre es hier in dieser Gasse, Straße, Allee, oder in diesem Dorf, vielleicht auch in dieser Stadt ziemlich ruhig und entspannt. Er wusste nicht, ob das, in dem er sich befand, ganz klein oder ziemlich groß war. Es hätte eine Gasse sein können, aber auch eine Großstadt. Da er nicht wusste, wo er war, interessierte ihn auch nicht die Größe der Menschenansammlung. Viel wichtiger war das allgemeine Getue und Gehabe. Man feilschte miteinander, Waren wurden getauscht, es wurde in der Luft herumgefuchtelt, als würde man der Wichtigkeit der eigenen Waren damit besonderen Ausdruck verleihen wollen. Die Leute stritten um den Preis, drückten ihn und trieben ihn nach oben, sie erfanden Geschichten, um die Waren teurer zu machen oder um zu dramatisieren, damit die Preise schrumpften. Manchmal schlugen sich die Leute gegen den Kopf. Sie gaben sich Ohrfeigen. Vielleicht war das ihre Art und Weise zu handeln. Musste man sein Gegenüber demütigen? Funktionierte das hier so?

      Erst jetzt nahm Samuel die vielen Gerüche wahr: Anis, Lakritz, Gewürze. Er erkannte Lavendel, Rosenduft und Thymian. Ab und zu hauchte ihm Minze in die Nase. Und dann wieder Pfeffer und Curry. Plötzlich streifte ihn eine Rosmarinwolke, und schon wurde diese von einer Prise Schweiß vertrieben. Der Rosmarin war ihm da schon wesentlich lieber. Diesen Schweißgeruch hätte er nun wirklich nicht gebraucht. Aber auch in dieser Welt schwitzten die Leute. Sicher gab es hier auch Seife. Und wenn nicht, dann würde Samuel ganz schnell die Seife erfinden.

      Wo war er bloß? Er konnte es sich nicht erklären. Er konnte es auch von nichts ableiten. Dies führte dazu, dass er völlig orientierungslos war. Er hätte im Orient sein können, genauso auf einem Markt in China. Oder in Russland.

      Vielleicht sollte er jemanden fragen. Doch wen? Und was würde passieren, wenn er jemanden fragen würde? Er würde sich als Fremdling offenbaren. Jeder würde mit dem Finger auf ihn zeigen. Sie würden ihn womöglich vertreiben, sodass er sich das lebendige Treiben nicht länger ansehen können würde. Also zog er es vor, niemanden zu fragen und stattdessen lieber zu beobachten.

      Samuel beobachtete die Technik, die hier zum Einsatz kam. Oder sollte man lieber die Nicht-Technik sagen? In seinen Augen war sie hinterwäldlerisch. Er musste im Mittelalter gelandet sein. Wagenräder aus Holz, Löffel und Gabeln aus Holz, Kämme aus Holz, Gürtelschnallen aus ... Metall? Oha, es gab schon Metall. Er befand